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Reisen

Was ich durch meine Kindheit in der Pariser Vorstadt gelernt habe

Das Leben zwischen den großen Betontürmen war eine Lehrzeit in Sachen Geduld.

Nanterre. Foto: rafa_luqe | Flickr | CC BY-SA 2.0

Ich war das letzte Mal vor etwas mehr als einem Monat in Nanterre. An dem Wochenende habe ich dort Raymond Domenech gesehen, wie er in einem Restaurant eine Pizza gegessen hat. Es heißt, der ehemalige Fußballtrainer würde in einem kleinen netten Haus in der Nähe der Haltestelle Nanterre-Préfecture wohnen. Das ist jetzt auch nicht so verwunderlich, wie in jeder anderen Vorstadt nämlich ist auch in Nanterre alles gut durchmischt. Die Reichen leben Tür an Tür mit den Armen, soziale Wohnungsbauten befinden sich direkt neben preislich etwas gehobeneren Häusern und die Kirchen stehen direkt neben den nagelneuen Moscheen.

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Das war aber nicht immer so. Die Menschen, die schon seit Langem da draußen leben, erzählen dir gerne von „den guten alten Zeiten"—darüber, wie der Ort mal ein Ghetto war, und, natürlich, auch vom Mai 1968. Vielleicht werde auch ich eines Tages Geschichten über das Stadtratsmassaker von Nanterre oder darüber erzählen, dass die Medien den Vorort eine Cannabis-Hochburg nannten. Wer weiß? Wie auch immer, Nanterre ist der Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin.

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Ich erinnere mich noch ganz genau. Die Explosion ließ meine Fenster wackeln. Nur wenige hundert Meter von meinem Schlafzimmer entfernt hatte ein Gasleck ein komplettes Gebäude zerstört. Das ist meine wahrscheinlich erste Kindheitserinnerung aus Nanterre. Das zweite Mal, dass mich ein Geräusch aus meinem Bett hochschrecken ließ, war, als irgendein Typ versuchte, meinen Balkon hochzuklettern. Er war vom Gebäude auf der anderen Straßenseite gekommen, den Baum vor meinem Fenster hochgeklettert und versuchte, vor irgendjemandem zu fliehen. Als ich mein Fenster aufmachte, um zu sehen, was los ist, hat er sich so sehr erschreckt, dass er runter in den Garten plumpste und dann in Panik das Weite suchte. Welches Problem er auch immer hatte, es war symptomatisch für ‚Le Bateau'—einem gigantischen Betonklotz mit Sozialwohnungen, der sich direkt gegenüber von der bescheidenen Residenz befand, die sich meine Eltern in den frühen 80ern gekauft hatten.

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Mit Gewalt oder Unsicherheit brauchst du mir nicht zu kommen. Ich hatte nie irgendwelche Probleme in Nanterre—oder sonst wo, was das anging. Obwohl ich mit 40 Kilo Körpergewicht ein unglaublich dünner Teenager war, der unbeholfen in riesigen Baggypants und ständig mit Walkman auf den Ohren durch die Gegend stolperte, bekam ich nie Probleme mit irgendjemandem. Ich habe mir eigentlich nie irgendwelche Gedanken über diese Typen gemacht, die die Straßen um unser Haus beherrschten. Das waren einfach meine Nachbarn. Ein paar von ihnen waren sogar Volksschulfreunde von mir gewesen. Es hat lange gedauert, bis ich die komplizierten Defizite des französischen Bildungssystems verstanden habe—die grassierende Arbeitslosigkeit und die Langeweile, die viele von ihnen in so ein Leben trieb. Wenn die erste Person, die du triffst, sobald du die Tür verlässt, ein Typ ist, der den ganzen Tag genau dort in deinem Gang abhängt, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass du dich auch mit ihm anfreundest. Klar, einige von ihnen haben gedealt und es gab diverse Razzien, aber am Ende interessiert das hier keinen wirklich.

Ich habe selten Angst. Ich habe tatsächlich nur ein einziges Mal in meinem Leben aus Angst geschrien. Das war an meinem allerersten Tag auf der weiterführenden Schule—einer privaten katholischen Einrichtung in Rueil-Malmaison. Die unglaubliche Größe der Schulanlage, der Gigantismus der Gebäude und die Tatsache, dass ich nur von Jungs umgeben war, jagte mir unglaubliche Angst ein. Bis heute habe ich keine Ahnung, wie ich es schaffte, mich dort einzufinden.

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Ich könnte unzählige Geschichten von dieser Schule erzählen. Da gab es die eine von dem Priester, der sich mehr um einen seiner Schüler kümmerte, als er eigentlich sollte; oder die von dem anderen Schüler, der von einer Brücke sprang. Es war fast, als wären alle meine Klassenkameraden mit geschiedenen, getrennten oder anderweitig abwesenden Eltern aufgewachsen. Was das anging, war es am einfachsten, seine Kinder auf ein Internat zu verfrachten und sie dort zu vergessen. Aus diesen Kindern wurden sehr unsichere Erwachsene.

Dann gab es auch noch Schüler, die durchdrehten, weil sie nicht zu den Klassenbesten gehörten. Ihre Eltern hatten sie hier reingestopft, als wären sie eine Immobilienanlage, und diese Kinder wussten nur zu gut, dass ihre Erzeuger ordentlich Profite von dieser Investition erwarteten. Das ist, wenn man gerade erst 12 geworden ist, schon eine Menge Druck, der auf deinen Schultern lastet.

Wenn du deine komplette Zeit nur mit Jungs verbringst, dann lernst du schnell, allen vorzuspielen, dass du viel besser in Dingen bist, als es eigentlich der Fall ist. Das gilt für die gutbürgerlichen Jungs genau wie für die Jungs aus der Vorstadt. Wenn du jemandem erzählst, dass du Fußball spielst, dann wird dir der andere sofort sagen, dass er bei Paris St. German spielt. Wenn du erzählst, dass du letztes Wochenende mit—sagen wir Marie-Charlotte—rumgemacht hast, erzählt dir dein Freund plötzlich, wie er letztes Wochenende Madonna abgeschleppt hat.

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Der Autor und seine Kumpels, bevor sie auf die Piste gehen. Foto mit freundlicher Genehmigung des Autors

Wenn du auf eine reine Jungenschule gehst, wie ich das getan habe, dann ist es zwangsläufig so, dass du kaum mit Mädchen zu tun hast. Die lebten alle in ihrem eigenen Bereich am anderen Ende des Schulgeländes. Wenn du mutig genug warst, konntest du dich durch den Wald dorthin schleichen oder ein Loch in den Zaun schneiden, um einen Blick auf sie zu erhaschen—natürlich immer mit der Angst, dass dich der Wachmann und seine Hunde dabei erwischen. Ansonsten konntest du warten, bis der Tag vorbei war und dich dann wartend vor ihr Schultor stellen—natürlich hast du dabei nie wirklich mit ihnen geredet. Ich habe mir immer schon gedacht, dass die Jungs, die immer vor meinem Wohnblock in der Vorstadt abhingen, wahrscheinlich das gleiche Problem hatten. Um sie herum gab es auch nie Mädchen.

Ich persönlich stand immer zwischen den Stühlen: Ich war zu arm für jedes Mädchen, das aus dem nahegelegen und besser betuchten Le Vésinet stammte, und zu wohlhabend für ein Mädchen aus Nanterre. Ich befand mich immer genau zwischen diesen beiden Schichten—wahrscheinlich auch einer der Hauptgründe, warum ich es kaum schaffte, mich vernünftig an irgendeiner sozialen Interaktion zu beteiligen. Ich fing also an, viel alleine zu machen. Ich verbrachte viel Zeit damit, Musik zu hören und zu hoffen, der nächste Tom Araya zu werden, Filme zu schauen und mir vorzustellen, wie ich der nächsten Kubrick werde, oder Fußball zu spielen, um besser als Ginola zu werden. Nun ja, es gab das und dann waren da noch die unzähligen Stunden, die ich in öffentlichen Verkehrsmitteln verbrachte und während denen ich realisiert, dass wahrscheinlich nichts davon klappen wird.

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Durch das Aufwachsen in einem Vorort erlernst du automatisch auch die hohe Kunst der Geduld. Selbst so einfache Dinge, wie abends auszugehen, wurden zu einer echten Herausforderung: Wir mussten einen Bus nehmen, noch einen Bus nehmen, mindestens 30 Minuten gehen und dann hoffen, dass wir auch etwas Spaßiges finden. Es gab da einen Club, in den wir ganz gerne gingen, l'Enfer, aber um dorthin zu kommen, mussten wir eine Stunde mit dem Zug fahren. Und selbst dann, wenn man es tatsächlich bis dorthin geschafft hatte, gab es keine Garantie darauf, dass man überhaupt reingelassen wird. Wenn mal alles geklappt hatte, blieben wir dort bis 6:30 Uhr morgens, damit wir mit der ersten Metro wieder zurückfahren können. In einer Nacht habe ich mal den Bus verpasst und musste drei Stunden zu Fuß gehen.

Damals war Paris nicht wirklich meine Stadt, aber ich wollte unbedingt, dass sie es wird—mehr als alles in der Welt. Vielleicht auch, weil es nicht wirklich greifbar war—es war mehr eine Idee. Ein Ort, an dem immer etwas möglich war—egal wo du warst oder was du gemacht hast. Diese Nächte, die ich mit meinen Freunden nach Paris gefahren bin, haben mich immer deprimiert. Ich schaute mir die ganzen Leute an, die einfach in den Bars sitzen und ihren langen Abend genießen konnten, und dann war da ich, der zurück in den eintönigen, einengenden Vorort musste.

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Es gibt viele Gründe, auf die Vorstadt stolz zu sein. Wie viele Leute haben nicht schon darüber geschrieben oder gerappt, dass sie aus so einem Ort stammen? Ist der Ort, aus dem wir stammen, vielleicht auch ein Synonym dafür, wer wir sind? Vielleicht.

Ich habe nie verstanden, warum diejenigen, die aus den Vororten stammen, die gleichen waren, die sie auch in Brand steckten. Ich schätze, wir sind alle von der Wut erfüllt, ein Universum und einen Lebensstil erschaffen zu haben, den wir eigentlich hassen, weil er uns nichts als Einsamkeit und Frustration beschert.

Die Art von Frustration, durch die du anfängst, deinen Nachbarn von nebenan zu hassen—oder die Jungs, die im Treppenhaus abhängen, die Kinder im Haus gegenüber, die Menschen im Vorort nebenan und so weiter. Manche Leute sind in diesem Hass gefangen. Wenn du aber nur eine Art zu leben kennst—eine, die darin besteht, dich aufzuspielen und alles, was sich um dich herum bewegt, wie Scheiße zu behandeln—dann ist es schwer zu glauben, dass es auch anders geht.

‚Le Bateau' wurde inzwischen abgerissen. Meine Jungenschule wurde zu einer gemischten. Meine Freunde … nun, einige verschwanden mit dem großen Betonklotz. Es ist jetzt nicht so, dass ich besonders nostalgisch wäre oder so, aber die meisten Dinge, die ich über das Leben gelernt habe, stammen aus meiner Kindheit in der Vorstadt. Ein kleiner Teil von mir wird wohl immer dort bleiben.