FYI.

This story is over 5 years old.

News

Eine Familie aus Deutschland kämpft gegen den IS

Während die Welt auf Kobane schaut, kämpfen deutsche Jesiden in Sindchar ums Überleben.

Mitte: Kasim Shesho aus Bad Oeynhausen, links daneben sein Sohn Haydar Shesho. Foto: privat​

Während der Widerstand der Kurden in Kobane gegen den Islamischen Staat die Welt in Atem hält, scheint der verzweifelte Überlebenskampf der Jesiden in Sindschar weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Als der IS im August das Gebiet um die nordirakische Stadt eroberte, war der drohende Völkermord an fast 20.000 wehrlosen Menschen einer der Haupt-Auslöser der US-amerikanischen Bombenkampagne gewesen. Aber obwohl die Luftunterstützung den irakisch-kurdischen Peschmerga half, den Flüchtlingen einen Korridor nach Syrien freizukämpfen, war die Schlacht um Sindschar noch lange nicht geschlagen.

Anzeige

Während sowohl Weltöffentlichkeit und US-Bomber sich seitdem mit Syrien beschäftigen, hat der IS Mitte Oktober erneut ​eine schwere ​Offensive gegen Sindschar gestartet, in deren Verlauf der Korridor abgeschnitten und wieder an die 7.000 Menschen in dem Gebirge einschloss; von denen manche gerade erst in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Wieder leisten die Verteidiger verzweifelten Widerstand. Dazu gehören neben den Peshmerga und Kämpfern der syrischen YPG auch eine jesidische Verteidigungseinheit, die seit Monaten erfolgreich einen Jesiden-Schrein in Sherfedin gegen den IS verteidigt. Angeführt wird die Truppe von einem Deutschen, Kasim Shesho.

Kasim Shesho kommt zwar ursprünglich aus Shingal, hat aber die letzten Jahrzehnte in Deutschland verbracht und arbeitet eigentlich als Gärtner in Bad Oeynhausen. In Shingal kämpft er zusammen mit seinen drei Söhnen. Deutsche Jesiden verehren ihn dafür als Helden, nennen ihn „Den Löwen von Sindschar". Auch in den ​deutschen Med​ien wurde schon öfter über der ungewöhnlichen Lebenswandel des Gärtners berichtet.

Wir haben mit seinem Sohn Haydar Kasim Shesho über die Situation der Jesiden im Sindschar-Gebirge gesprochen. Der Restaurantmanager und studierte Politikwissenschaftler ist nach seinem Vater der zweite Mann in der Kommandostruktur der jesidischen Kämpfer. Er wurde im Irak geboren, lebt aber seit 1989 in Deutschland und ist seit 1997 deutscher Staatsbürger.

Anzeige

Haydar Shesho (links). Foto: privat

Gestern morgen hat der IS die Pilgerstätte Sherfedin angegriffen. Was ist passiert. Und geht es dir gut?
Haydar Kasim Shesho: Heute morgen um 5:30 Uhr sind ISIS-Truppen mit vier Panzerwagen und Humvees in unsere Richtung gekommen. Sie waren zwei Kilometer von uns entfernt und haben mit Raketen auf Sherfedin geschossen. Sie haben versucht mit schweren Waffen zu uns durchzukommen. Wir haben eine halbe Stunde gekämpft und die jesidischen Kämpfer konnten zwei der Humvees zerstören. Unseren Kämpfern ist heute zum Glück nichts passiert. Wir haben keine Verletzten und keine Toten auf jesidischer Seite. Auf der anderen Seite wurden sechs ISIS-Kämpfer getötet.

Leider hat die ISIS starke Waffen und wir haben keine richtige Hilfe von der irakischen Regierung, Amerika oder anderen bekommen. Darum ist es sehr, sehr schwer hier zu leben. Wir sind hier von allen vier Seiten eingeschlossen und können nicht weg. Auch auf Unterstützung durch Flugzeuge müssen wir immer warten. Die kurdische Armee, die Peshmerga, nehmen zwar teilweise Verletzte und Kranke von hier mit, aber Hilfe durch Essen, Trinken und Waffen gibt es leider viel zu wenig.

Wie sieht die Hilfe durch die kurdischen Peschmerga in Shingal sonst aus?
Nicht gut. Die Peschmerga stehen in Rabiaa, 50 bis 60 Kilometer von Shingal [Sindschar] entfernt. Dort stehen seit einem Monat mehrere tausend Peschmerga-Soldaten mit schweren Waffen. Sie sind bisher nicht weiter nach Shingal gekommen. In vielen arabischen Dörfern in der Gegend ist ISIS sehr stark und hat viele Waffen. Wir haben viele Male gefragt, wie es sein kann, dass die Peschmerga immer noch in Rabiaa stehen und nicht bis Shingal kommen. Leider haben wir bislang keine starke Antwort bekommen.

Anzeige

Unsere einzige Möglichkeit ist, bis zum Ende zu kämpfen. Wir müssen kämpfen, solange wir leben. Es braucht Druck auf die kurdische Regierung und die Regierung in Baghdad, damit sie uns helfen. Wir und die mehr als elftausend Zivilisten in Shingal wurden ohne Hilfe alleine gelassen.

Es ist vor allem für Kinder und alte Menschen sehr schwer, hier in den Bergen zu leben. Es fehlt an Essen und Trinken, wir haben seit mindestens einer Woche keine Hilfslieferungen bekommen. Ohne Hilfe wiederholt sich das, was am dritten August passiert ist!

Laut Haydar kämpfen aktuell 2.500 bis 3.000 Jesiden in Sindschar.

Warum hilft die kurdische Regierung den Jesiden nicht aktiver?
Natürlich haben wir die gleiche Sprache, aber wir sind Jesiden, die sind Muslime. Die kurdische Regierung hat uns nicht so geholfen wie in Kobane. Kobane hat Hilfe bekommen, sie haben Peschmerga und Waffen geschickt bekommen. Dabei ist das in Syrien. Wir als kurdisches Gebiet im Irak haben doch noch mehr Recht auf Hilfe! Aber 90 Prozent der Menschen und 100 Prozent der Kämpfer hier sind Jesiden. Die muslimische Bevölkerung hier in Shingal hat ISIS nicht bekämpft, viele von denen haben ISIS sogar geholfen.

Welche internationale Hilfe fordert ihr?
Wir brauchen natürlich bessere Waffen. Ich frage gar nicht nach Panzern, die bekommen wir eh nicht. Aber ganz normale, funktionierende Waffen. ISIS hat Panzer, wir haben nur einfache Waffen, das macht es sehr schwer. Wir werden mit Raketen beschossen und haben selber fast nur Kalaschnikows. Wir brauchen dringend Raketen. Von den Waffen, die Deutschland an die Peschmerga geliefert hat, haben wir keine einzige bekommen. Wir warten immer noch. Sie sagen, sie schicken heute oder morgen Waffen, es kommt aber nichts an.

Anzeige

Haydars Vater, Kasim Shesho, der „Löwe von Sindschar". Foto: privat

Wie kam es dazu, dass du nach Shingal gegangen bist?
Ich bin jetzt seit vier Monaten hier im Nordirak. Ich war 20 Tage bei Bekannten und Verwandten, bevor ISIS am dritten August Shingal angegriffen hat. Da hab' ich beschlossen, bei meinen Leuten in Shingal zu bleiben und gegen ISIS zu kämpfen.

Du bist erst seit August in Shingal. Wie hast du das Kämpfen gelernt? Als Manager eines Restaurants weiß man ja nicht, wie man mit einer Kalashnikov umgeht.
Das ist ganz einfach. Wenn mehr als tausend Frauen und Kinder deiner Religion getötet oder verschleppt werden, lernt man das schnell genug. Das kannst du an einem Tag lernen!

Was ist das schlimmste, das du in Shingal gesehen und erlebt haben?
Wir haben mehr als hundert Kinder zwischen sechs Monaten und zehn Jahren gesehen, die in den Bergen getötet oder durch Hunger gestorben sind und einfach zurückgelassen wurden.

Und was man mitbekommt, von jesidischen Frauen, die vom IS wie Tiere für ein paar hundert Dollar auf dem Basar verkauft werden; das werde ich nie vergessen können. Und solange das vor meinen Augen passiert, muss ich hier bleiben und kämpfen.

Wieviele Jesiden aus Deutschland und anderen Ländern kämpfen in Shingal?
Wir sind jetzt mindestens 15 deutsche Jesiden hier in Shingal. Im Rest des Nordiraks sind es ungefähr 100. Die Leute werden aber von der kurdischen Regierung nicht zu uns durchgelassen. Das geht nur mit Helikoptern, die von der kurdischen Regierung kontrolliert werden.

Es sind auch mehr als 20 Personen aus Schweden hier in Shingal, die mit uns und in anderen Einheiten kämpfen. Außerdem Leute aus den Niederlanden, Dänemark und den USA. Es kämpfen jetzt mehr als 100 Menschen aus Europa und den USA in Shingal. Insgesamt sind 2.500 bis 3.000 jesidische Kämpfer in Shingal.

Willst du zurück nach Deutschland?
Ich würde gerne zurück nach Deutschland und zu meiner Familie, aber solange Shingal von ISIS bedroht ist, kann ich hier nicht weg und die Leute einfach verlassen.

Ich kann aber sagen: Deutschland ist für mich das erste Land, nicht das zweite. Wir müssen hier bleiben, bis die Situation sich bessert. Dann möchte ich natürlich zu meiner Familie und in mein Land zurückkommen. Ich wurde im Irak geboren, aber den besten Teil meines Lebens habe ich in Deutschland verbracht.