FYI.

This story is over 5 years old.

The Fashion Issue 2013

Der Kunststoff, aus dem die Träume sind

Neben Demokratie, Kaugummis und Lucky Strikes haben US Marines auch Nylonstrümpfe mitgebracht.

Statt Frauenbeine zu bedecken wurde Nylon und vor allem Perlon während des 2. Weltkrieges zu Fallschirmen, Flugzeugreifen und anderen kriegswichtigen Dingen verarbeitet.

Heutzutage quetschen sie deinen Bauch weg und geben deinem Arsch die wohlgerundete Form, die er nie besessen hat und auch nie besitzen wird. Aber
als vor 74 Jahren der Kunstfaser-Strumpf erstmals das Licht der Laboratorien erblickte, war alles noch viel labbriger und braun-beiger und mit weniger Gezerre und Abdrücken am Bauch. 1939 entwickelten deutsche und amerikanische Wissenschaftler fast gleichzeitig vollsynthetische Textilfasern. Die einen nannten sie „Perlon“, die anderen „Nylon“. Dann kam der Zweite Weltkrieg und beide Fasern mutierten einerseits zum notwendigen Kriegswerkzeug und andererseits zum Luxussymbol.
Als die Firma DuPont 1939 ihre neue Erfindung, das Nylon, bei der Weltausstellung in New York vorstellte, waren die Reaktionen am ehesten damit vergleichbar, wie wenn Apple ein neues irgendwas der Öffentlichkeit präsentiert: Die gesamte Nation war in heller Aufregung. Auch in Deutschland schlug der neue Faserstoff der Firma I.G. Farben hohe Wellen. Während sich die Tochtergesellschaft des Konzerns, die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung (Degsch), mit dem Patent für Zyklon B einen Namen machte, das im Nationalsozialismus für die Massentötungen in den Gaskammern der Vernichtungslager eingesetzt wurde, konzentrierte man sich in der Zentrale auf einen anderen kriegsnotwendigen Stoff, das Perlon.

Anzeige

Die Erfindung der Textilfasern kam zu einer Zeit, als der Großteil der westlichen Gesellschaft sehr wissenschaftsversessen und „Schneller, Höher, Stärker“ nicht nur olympisches Motto war. Alles, was irgendwie das Gefühl von Modernität und technologischem Fortschritt vermittelte oder aus den Chemie-Laboren kam, galt als gut. Es war eine Welt wie aus den schlimmsten Albträumen der Lohas und Öko-Bobos, in der die ersten komplett künstlich hergestellten Textilfasern von der gesamten Bevölkerung gefeiert wurden und noch niemand einen Gedanken an Nachhaltigkeit verschwendete. Einfach alles wurde aus Nylon/ Perlon gemacht, Hemden, Hosen, Kleider und Tücher. Und obwohl das neue Fabrikat den jeweiligen Träger zum wandelnden Ganzkörper-Schweiß-Sturzbach machte, wollte trotzdem jeder ein Teil dieser spannenden Zukunft sein. Zum einen, weil die neuen Stücke modern und modisch waren. Zum anderen, weil sie schnell und leicht mit der Hand zu waschen und damit extrem praktisch in einer Zeit waren, in der kaum jemand eine Waschmaschine sein Eigen nennen konnte. So dauerte es nicht lange, bis man auch auf die Idee kam, die kratzigen Wollstrümpfe aus dem viel weicheren neuen Stoff zu machen.
Dank Globalisierung, Kinderarbeit und der gnadenlosen Ausbeutung der Dritten Welt können wir uns heutzutage einen Berg T-Shirts, Hosen und Strumpfhosen um ein paar Euro besorgen. Doch als die Textilfaser aufkam, war jedes neue Kleidungsstück eine Investition, die wohl überlegt sein wollte. Eine Sekretärin, die sich nur ein Paar Strümpfe leisten konnte und trotzdem jeden Tag ins Büro musste, brauchte vermutlich keine allzu lange Plus- und Minus-Liste, um sich für das Paar Strümpfe zu entscheiden, das man rasch und einfach mit der Hand waschen konnte und das über Nacht trocken wurde. Zusätzlich war man noch weit von der heutigen Wegwerfgesellschaft entfernt, was sich unter anderem darin äußerte, dass es bis in die 50er eigene Werkstätten gab, die sich auf die Reparatur der Kunstfaserstrümpfe spezialisierten. Das war auch notwendig, wenn man bedenkt, dass die Strumpfhose ebenso teuer wie filigran war und sich die Investition mit einmal unachtsam Hinsetzen in Luft auflösen konnte.

Anzeige

So ungefähr lassen sich die Gründe zusammenfassen, die für einen unaufhaltsamen Siegeszug des künstlichen Nylons/Perlons in der Modeindustrie sorgten. Wobei unaufhaltsam nur bis zu dem Tag zutrifft, an dem ein kurz gewachsener, talentloser Landschaftsmaler aus Braunau es endgültig geschafft hatte, nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt an den Rande des Abgrunds zu bringen. Während die USA erst 1941 in den Zweiten Weltkrieg eintraten und diesen ausschließlich auf ausländischem Boden bestritten, kämpfte das nationalsozialistische Deutschland schon ab 1939 vor der eigenen Haustüre. Das führte dazu, dass die gesamte Produktion im Dritten Reich auf „kriegswichtige“ Güter beschränkt wurde, wozu man den Perlonstrumpf eindeutig nicht zählte. Stattdessen fand das äußerst dehnbare und reißfeste Material im militärischen Bereich seinen Einsatz. Hier diente Perlon hauptsächlich als Fallschirmstoff, wurde aber auch für Seile, Hochdruckschläuche, zum Verstärken der Flugzeugreifen und als Borsten zum Reinigen der Waffen eingesetzt. Höchstens ein paar Perlonstrümpfe für die Frauen der I.G. Farben Manager zu Weihnachten spuckten die Maschinen noch aus. Erst nach dem Krieg lief die Produktion in Westdeutschland als Perlon und in der DDR unter dem Namen DeDeRon langsam wieder an.
Auch in Österreich erfreute sich die Kunstfaser äußerster Beliebtheit. Auf den Schwarzmärkten der Nachkriegszeit im Wiener Resselpark oder am Naschmarkt wurde nicht nur mit Butter, gefälschten Papieren und Zigaretten gedealt, auch Nylonstrümpfe waren eine beliebte und ebenso wertvolle Tauschware. Im Nachkriegswien entsprach der Wert von einem Paar in etwa dem Monatslohn einer Stenotypistin. Dementsprechend beliebt waren die GIs, die prallgefüllte Carepakete mit Kaugummi, Zigaretten, Schokolade und Nylonstrümpfen der verarmten und vom Krieg gezeichneten Bevölkerung zukommen ließen.

Anzeige

Nylonstrumpfverpackungen aus 1949/1950

Ob diese tatsächlich, wie in manchen Filmen und in den nostalgischen Erzählungen eurer Großeltern, ihre Geschenke aus dem Panzer raus im Vorbeifahren an die kleinen Kinder und Umstehenden verteilten, lässt sich historisch schwer belegen, aber dass eine Freundschaft mit einem Soldaten, ob russisch, französisch, britisch oder amerikanisch, vorteilhaft war, wusste wohl jeder.
Obwohl die Nylonstrümpfe im Gegensatz zu Kaugummis und Zigaretten ausschließlich der Damenwelt dienten, erfreuten sie sich genauso großer Beliebtheit. Die Historikerin Susanne Breuss vom Wien Museum erklärt das vor allem damit, dass das Perlon so knapp vor dem Krieg entwickelt wurde und die Kunstfaser ein letztes Hochgefühl vermittelte, bevor es dann zu sechs Jahren Krieg kam und so im kollektiven Kurzzeitgedächtnis mit den Strümpfen auch die Vorkriegszeit verbunden wurde. Die Frauen, die in den Fabriken des Dritten Reichs Bomben und Munition bauten, und die Trümmerfrauen, die nach dem Krieg die Verwüstung Stein für Stein wegräumten, wollten wieder Frau sein, schöne Kleidung tragen und etwas Luxus in ihr Leben bringen anstatt all des Leids, Hungers und der Hoffnungslosigkeit, die speziell die letzten Jahre der Hitler-Diktatur beherrschten.
Außerdem sprach für die Nylonstrümpfe, dass sie sich kompakt zusammenlegen ließen und kaum etwas wogen, also praktisch zum Mitnehmen und Verteilen waren. So wurde der Nylonstrumpf in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Pièce de résistance, um das sich die Frauen rissen und für das man einem GI auch mal schöne Augen machte.

Anzeige

Als sich die Wirtschaftslage langsam wieder erholte, lebte auch die heimische Strumpfproduktion wieder auf. Das 1914 gegründete österreichische Unternehmen Palmers, das nicht nur für seine Strümpfe (und später Strumpfhosen) bekannt ist, sondern auch wegen der Entführung des damaligen Geschäftsführers Walter Palmers im Jahre 1977 durch eine Gruppe terroristischer Studenten, erlebte Anfang der 50er einen beachtlichen Aufschwung. Vom kleinen Innsbrucker Laden, der zu Beginn noch Restekönig hieß und unter anderem eine spezielle Farbe verkaufte, mit der sich Frauen, die sich einen Kunstfaserstrumpf nicht leisten konnten, diesen inklusive der schwarzen Naht auf der Rückseite aufmalen konnten, mauserte sich Palmers zum österreichischen Marktführer.
Einen beträchtlichen Anteil daran hatten die anzüglichen Werbekampagnen der Firma: Mit ihren Plakaten und Zeitungsanzeigen erregte Palmers in regelmäßigen Abständen die Gemüter, indem man Beine und Hintern von Frauen in den Mittelpunkt rückte, die meist nur von einem hauchdünnen und natürlich hautfarbenen Strumpf bekleidet waren.

Österreich ist prüde, aber 1953 war es noch prüder. Nachdem sich Kirche und Medien über zu viel nackte Haut beschwert hatten, wurde diese mit kleinen Pappröcken überklebt.

„Als die Frauenkleider noch länger waren, trugen Frauen weite Unterhosen, die den Namen Hose auch tatsächlich verdienten, und dann noch einige Unterröcke darüber“, erklärt die Historikerin Breuss. „Aber im Laufe der Zeit wurden die Kleider und Röcke kürzer, also brauchte man einen Kälteschutz. So kam der Strumpf auf.“ Mit der Erfindung des Minirocks Anfang der 60er durch Mary Quant genügte der knielange und später bis zum Oberschenkel reichende und mit Klammern befestigte Strumpf nicht mehr den Anforderungen der modernen Frau. So entwickelte sich der Strumpf zur Strumpfhose, damit man zwar Bein zeigen konnte, aber nicht in die Verlegenheit kam, die nackten Schenkel zu entblößen.
Den größten Skandal löste Palmers 1953 aus. Das Unternehmen warb mit einem von Gerhard Brause gemalten Plakat für „2 Paar Perlons in der neuen Zwilling-Packung“ um 59,- Schilling, auf dem zwei Beine in Strümpfe gekleidet und der Anfang eines Negligees zu sehen waren. Nach einem Protest in der staatseigenen Wiener Zeitung verfügte der österreichische Unterrichtsminister Kolb, dass die Plakate übermalt werden sollten. Statt sie jedoch zu übermalen, wurden dunkelgrüne Röckchen gedruckt und die Plakate in der ersten Guerilla-PR- Aktion des Landes österreichweit überklebt. Das führte zu dem üblichen Medienecho, das irgendwo zwischen „Denkt denn niemand an die Kinder?!“ und „Frauenbeine sind des Teufels“ oszillierte. Die Aufregung über eine geniale Marketingkampagne war so groß wie lächerlich, was unter anderem den österreichischen Schriftsteller H.C. Artmann dazu veranlasste, ein Gedicht darüber zu verfassen.

Das Gedicht "des neiche blagat" aus dem Gedichtband Med ana schwoazzn Dintn von H.C. Artmann. Es ruft uns ins Gedächtnis, dass die Nachkriegszeit nicht nur aus den offensichtlichen Gründen schrecklich war, sondern auch, weil es noch keine Internetpornos gab.

Heutzutage haben neue Kunstfasern den Markt übernommen. Kaum eine Strumpfhose, die noch aus Nylon gemacht wird. Und auch der Erzfeind des Nylons, das Perlon, scheint den fast identischen Bruder aus Übersee besiegt zu haben - der Marktanteil des einst ewigen Verlierers Perlon ist mittlerweile doppelt so groß wie der von Nylon. Trotzdem heißt der Kunstfaserstrumpf im Volksmund noch immer „Nylonstrumpf“. Der Markenname hatte sich längst als Inbegriff des Luxus ins kollektive Bewusstsein der Nachkriegsgeneration gebrannt. Wieder einmal hat Amerika gesiegt.