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DIE „CHANCENGLEICHHEIT, MY ASS“-AUSGABE

Klassenzimmer-Korrespondenz

Frau Müller berichtet für uns über den Alltag in einer Berliner Grundschule, deren Schüler gerne mit Stühlen und Scheren übereinander herfallen.

Ich bin immer gern zur Schule gegangen. Am ersten Schultag fragte ich meine Eltern, ob ich nachmittags noch einmal hingehen könnte. In der zehnten Klasse saß ich dann nach den Sommerferien endlich wieder im Englischunterricht und langweilte mich. Englisch war mein Lieblingsfach und mir war es unbegreiflich, warum ich noch ein Jahr stupidem Buch auf—Text lesen—Fragen beantworten absitzen sollte. Das war der Moment, in dem ich beschloss, Lehrerin zu werden. Nach der Schule studierte ich Lehramt fürs Gymnasium in den Fächern Englisch und Erdkunde. Ich formte meine Vorstellungen und mir ist es am wichtigsten, dass meine Schüler gern zur Schule gehen. Die Schule sollte ein Ort der Sicherheit sein, der ihnen hilft, sich zu selbstbewussten und verantwortungsvollen Menschen zu entwickeln, die sich im Leben entfalten können. Soweit die Theorie. Ich hatte mein erstes Staatsexamen in der Tasche und war auf der Suche nach einem Job, um die Zeit bis zum Referendariat zu überbrücken. Ich meldete mich beim Online-Pool des Berliner Senates für Vertretungslehrer an. Zwei Wochen später war ich zu einem Vorstellungsgespräch an einer Grundschule eingeladen. Es gab noch fünf weitere Bewerber und ich rechnete mir kaum Chancen aus, aber man entschied sich für mich. Vermutlich war ausschlaggebend, dass ich in der niedrigsten Lohnklasse war. Ich erwartete, jetzt endlich in meinem Traumjob zu arbeiten. Ich bin kein realitätsferner Mensch. Aber nichts, nicht mal mein jahrelanges Studium, hatte mich auf die kommenden fünf Monate vorbereitet. Die Schule liegt in einer Großwohnsiedlung am Stadtrand Berlins. Es regiert der Beton. Bis auf ein paar suspekte Gestalten, die träge in der Nähe der Schule rumhingen, begegnete ich kaum einem Menschen. Alles ist tot. In den nächsten Wochen habe ich mehr über die Menschen hier gelernt. Sehr viele sind arbeitslos, viele haben Kinder. Einige haben viele Kinder. Und, um diese nervige Frage, die immer als erstes kommt, gleich zu beantworten, sie sind Deutsche, ohne Migrationshintergrund, größtenteils. Sie sitzen morgens Bier trinkend in der Bahn, aber nicht, weil sie gerade aus dem Club gestolpert kommen und auf dem Weg nach Hause sind. Relikte aus den 90ern bestimmen das Erscheinungsbild: pinke Haare, viele Augenbrauenpiercings und hin und wieder eine Glatze mit Bomberjacke, Springerstiefeln. Die Eltern meiner Schüler. In dem Moment, in dem ich die Schule betrat, wurde ich zu Frau Müller. Im Eingangsbereich hing ein Poster an einer Pinnwand, für ein Theaterstück von Sönke Wortmann: Frau Müller muss weg. Die Schule begann um acht, die Kinder versammelten sich ab Viertel nach sieben vor dem Schultor. Man erklärte mir, dass das wohl daran liege, dass die Eltern die Kinder aus dem Haus haben wollen. Die Schule kann nicht früher öffnen, weil die Mittel fehlen, die Schüler zu beaufsichtigen. Die Schule hatte einen Computerraum, zwei Beamer, ich kann mich an zwei Overhead Projektoren erinnern, und auf der Europakarte, mit der ich in Erdkunde arbeitete, fanden die Schüler eines Tages Jugoslawien. Was uns dann die Gelegenheit zu fächerübergreifendem Lernen gab. In der ersten Woche hospitierte ich in allen Fächern und Klassenstufen. Alles schien normal. Ich kann mir das im Nachhinein nur mit dem, was Psychologen Hawthorne-Effekt nennen, erklären. Menschen ändern ihr Verhalten, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden. Dennoch offenbarten sich die ersten Risse. Am dritten Tag saß ich in einer Stunde neben einem Zweitklässler, auf diesen Ministühlen. Ich, viel zu groß; er supersüß. Nach zwei Minuten bemerkte ich den Geruch. Eine Mischung aus Schweißfüßen, Dreck, vielleicht Urin. Ich schaute mir den Jungen genauer an. Die Haare zerzaust und ungeschnitten, die Fingernägel, schwarz vor Dreck. Ich glaube, an diesem Tag bin ich zum ersten Mal nach der Schule weinend nach Hause gefahren.

Aber das war erst der Anfang. Ich begann selbst zu unterrichten und es dauerte nicht lange, bis ein Schüler in meinem Unterricht aufstand und einem anderen eine reinschlug. Nicht selten saßen nach der ersten Hofpause zwei Schüler im Sekretariat. Einer, weil er wegen gewalttätigen Verhaltens für den Rest des Tages vom Unterricht suspendiert wurde; der Andere, weil er so stark verletzt war, dass er nicht mehr am Unterricht teilnehmen konnte. Einmal lief ich in der Pause an einem Klassenraum vorbei und hörte zwei Jungs streiten. Ich wollte nach dem Rechten sehen und fand zwei Achtjährige sich gegenüberstehend, einer mit einem Stuhl in der Hand, der andere mit einer Schere.

Aber es gab auch Mädchen in der Dritten die regelmäßig andere Kinder, zum Teil auch ältere, physisch und psychisch angriffen. Manche Geschwister verbrachten ihre Hofpausen nur gemeinsam, um aufeinander aufzupassen. Wie man Gewalt und Macht ausübt, lernen die Kinder zu Hause und auf der Straße. Die vielfältigen Reaktionen auf Gewalt begegneten mir täglich: sozialer und emotionaler Rückzug, Selbstverletzungen, Angst und aggressives Verhalten gegenüber anderen Kindern. Gleichzeitig schlug mir unheimlich viel Liebe entgegen. Es gab einen Zweitklässler, dem ich zu Beginn meiner Zeit mal zehn Minuten in Deutsch geholfen hatte. Danach hatte ich nie wieder mit ihm Unterricht. Trotzdem kam er jedes Mal, wenn er mich in der Pause sah, mit strahlendem Lächeln auf mich zugelaufen und umarmte mich. Am Anfang fühlte ich mich dabei komisch. Ich hatte während meiner Schulzeit nie auch nur einen meiner Lehrer umarmt. Liebe bekam ich zu Hause. Viele meiner Schüler leider nicht. 45 Minuten sind nicht viel Zeit um, neben dem fachlichen Unterricht, soziale Fähigkeiten zu entwickeln. Ich musste viel zu viel Zeit damit verbringen, eine erträgliche Arbeitsatmosphäre herzustellen. Das fing bei der Lautstärke an und hörte damit auf, dass ich ständig Arbeitsmaterialien für die Kinder organisieren musste, weil sie kein Papier, kein Buch, keinen Bleistift hatten. Lukas aus der Vierten hatte auch nach acht Wochen Schule keine Schere. Viele Sachen an der Tafel konnte er nicht lesen, weil er eine Brille brauchte, und seine Mutter es auch nach Monaten nicht geschafft hatte, mit ihm zum Augenarzt zu gehen.   Kontinuierliches Arbeiten war auch wegen der hohen Fehlzeiten kaum möglich. Der extremste Fall war Sandra aus der Sechsten. Irgendwann im Mai kam sie einfach gar nicht mehr. Als ich wegen ihres Schuleschwänzens in einer Beratung saß, musste ich mir erstmal ein Klassenfoto anschauen, um sicher zu gehen, über wen ich eigentlich rede.

Die Perspektivlosigkeit, die sie täglich umgibt, ergreift Besitz von den Kindern. In einer Stunde unterhielt ich mich mit John, der antriebslos rum saß, und fragte ihn, ob ich ihm helfen könne. Er meinte, ihm sei nicht zu helfen, aus ihm würde eh nichts werden, höchstens mal ein Penner. „Wie kommst du denn darauf? Du kannst alles erreichen, wenn du es willst und dich dafür einsetzt.“ Ich fühlte mich schlecht, das zu sagen, weil ich weiß, dass es nur zum Teil stimmt. Die Chancen für jemanden wie John, jemals zu studieren, gehen in Deutschland gegen Null. Der Bildungsforscher Professor Dr. Markus Tiedemann sagt dazu: „Wir haben eine zunehmende Verhärtung bildungsferner Schichten in Deutschland. Mit der ganz großen sozialen Ungerechtigkeit, dass jemand, der in diese Schicht geboren worden ist, immer weniger Chancen hat, dort heraus zu kommen, auch wenn die Chancen ihm rein theoretisch institutionell zur Verfügung gestellt werden.“ Schülern wie John erscheint die Schule sinnlos. Und wie John sind die meisten hier. John sagt, dass eh alle sagen, er sei dumm. Alle heißt hier leider auch manche Lehrer. Diese sind alle weiblich und meist weit jenseits der 40. Zwei von ihnen fallen längerfristig aus, wegen Burnout. Nach sechs Stunden Unterricht in diesem Klima bin ich regelmäßig reif für's Bett. Dabei habe ich im Gegensatz zu den anderen nichts zu tun mit Elterngesprächen, Elternabenden, Schulverweigerern, der Polizei oder Gesprächen mit der Jugendhilfe. Weder ich noch sonst jemand hier ist auch nur annähernd genügend ausgebildet, um mit Kindern mit Lese-Rechtschreibschwäche, AD(H)S und emotional-sozialen Störungen umzugehen. In meinem Studium hatte ich neben 78 Semesterwochenstunden Anglistik nur magere vier Stunden mit sonderpädagogisch relevanten Seminaren. Die Lehrer sind frustriert, sie merken, wie ihnen die Kinder entgleiten. Aber trotz Arbeitsfülle, Geldmangel und zum Teil mehr als unverschämten Eltern, gibt es viele, die nicht aufgeben und versuchen in ihren Klassen ein positiveres Klima zu schaffen. Letztendlich baden die Menschen hier, die Lehrer, Schüler und Eltern, die sozialpolitischen und stadtplanerischen Fehlentwicklungen der 1990er aus, sowie die Unwilligkeit der Politik in Bildung zu investieren. Ich wohne in einem Teil Berlins, in dem permanent gegen die Aufwertung der Kieze demonstriert wird. An meiner Schule war ich tagtäglich von den Folgen der Abwertung von Wohngebieten umgeben. Die Entwicklung setzte in den 1980ern ein, bedingt durch mehr Jobs und einem besseren Angebot an Wohnungen. Leute mit besseren Jobs verließen die Großwohnsiedlungen am Stadtrand und die sanierungsbedürftigen Innenstadtgebiete und zogen ins Umland. Zurück blieben die, die sich einen Umzug nicht leisten konnten und können. Diejenigen, die aus den sanierten Wohnungen und aufgewerteten Stadtteilen verdrängt wurden, kamen dazu. Das Programm Soziale Stadt, das 1999 von der Bundesregierung beschlossen wurde, versucht die Schäden nachhaltig zu beheben. Aber das kann nur funktionieren, wenn massiv Geld in Bildung investiert wird. Professor Tiedemann sieht das so: „Es kann ja nicht sein, dass der Bildungshaushalt in Deutschland nicht mal die Hälfte der Sozialausgaben ausmacht. Es gibt keine bessere Sozialhilfe als Bildung.” Ist erst mal Geld da, kann soziale Mobilität auch durch die Einführung einer Gesamtschule nach dem skandinavischen Modell positiv gefördert werden: „Das ist eine Schule, wo auch die elitär denkenden Eltern sorglos ihre Kinder hinschicken, weil der Unterricht richtig gut ist und die Schüler dort richtig gefördert und gefordert werden.” Bis dahin bleibt es jedem Lehrer selbst überlassen, Dinge zu verändern. Und das werde ich weiterhin versuchen. Ich wurde als einzige Lehrerin von beiden sechsten Klassen zu ihren Abschiedsfeiern eingeladen. Irgendetwas muss ich richtig gemacht haben.