Sie könnte jeden Tag über der geschlossenen Abteilung schlafen, wenn sie wollte. In Adelheid Kastners Büro steht eine Dusche, irgendwo weiter hinten ein Bett und im Konferenzraum kann man sich problemlos etwas kochen. Trotzdem fährt sie jeden Tag nach Hause, auch wenn es spät ist, holt den Hund von der Tagesmutter, hört Bach und blättert noch die eine oder andere Akte durch. Heute wird es später und Kastner macht keinen Hehl daraus, einem das auf direkte, aber freundliche Art ein bisschen vorzuwerfen. Es ist fast 20:00 Uhr und die Nervenklinik Wagner-Jauregg in Linz liegt da wie ein leer gefegtes Einkaufszentrum.
Wenn vereinzelt eine Schwester durch die Gänge hetzt, hört man das Quietschen der Turnschuhe auf dem Plastikboden schon von Weitem und später noch lange und fast gespenstisch nachhallen. Die Besuchszeiten sind längst vorbei, man wird misstrauisch angeschaut, wenn man in den „J”-Flügel—die Abteilung für forensische Psychiatrie—einbiegt. Wenn man die vier Stockwerke bis zu ihrer Klingel hochstapft, fühlt es sich an, als hätte man auch ein Stück von Kastners persönlicher Karriereleiter erklommen. Höher geht es nicht in der österreichischen Forensik, besser bekannt als „systematische Aufarbeitung von kriminellen Handlungen”.
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Kastner arbeitet mit geistig abnormen Straftätern. Im „J”- Flügel ist sie Chefärztin der Station, vor Gericht anerkannte Expertin und Gutachterin. Sie entscheidet im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft oder zu Gerichten nicht über das Strafausmaß, sondern beurteilt die Schuldfähigkeit, sprich ob jemand bei Begehen der Tat zurechnungsfähig war oder nicht und ins Gefängnis oder die Psychiatrie gehört. Dass ihre Kritiker es gelegentlich als „Küchenpsychologie” verspotten, wenn sie in Diskussionen über „diesen einen Fall” spricht, liegt keineswegs an der fehlenden Expertise, sondern daran, wie polarisierend und aufwühlend der konkrete Fall ist. Kastner hat einen Mann für zurechnungsfähig, sprich nicht psychisch krank erklärt, von dem das die ganze Welt nicht glauben will. Sie hat sich 30 Stunden mit einem Mann unterhalten, auf den die Öffentlichkeit mit Verachtung und zugleich brennendem Interesse herabgesehen hat. Kastner zündet sich eine Marlboro an, stellt zwei Espressi auf den Tisch und sagt: „Der Fritzl wird ewig an mir dranpicken. Das ist schlimmer als Heiraten.”
Am Morgen des 26. April 2008, als Kastner ihr Radio aufdrehte, wollte sie, wie so viele Hörer, ihren Ohren nicht trauen. Obwohl sie in all den Jahren viel Schlimmes gesehen und gehört hatte, war sie skeptisch, als sie die erste Meldung über den Fall hörte. Als sie kurz darauf als Gutachterin bestellt wurde, war das Lügengebäude Fritzls bereits in sich zusammengefallen und der Keller freigelegt. Während über dem belagerten Haus in der Ybbstraße 40 in Amstetten der Hubschrauber der BBC seine Runden zog, saß Kastner in einem Besucherraum der Justizanstalt Stein, um eine Antwort auf jene Frage zu finden, die sich jeder stellte: Wer ist dieser Mann? Was treibt ihn an? Heute ist sie mit ziemlicher Sicherheit der einzige Mensch, der darauf eine vernünftige Antwort geben kann.
Der Fall F. ist das schwerwiegendste Gewaltverbrechen in der Geschichte der österreichischen Kriminalistik seit Adolf Hitler. 24 Jahre hielt der Mann seine minderjährige Tochter in einem Kellerverlies gefangen und zeugte mit ihr sechs Kinder, von denen eines nach der Geburt starb und drei vom Täter als Pflegekinder adoptiert wurden. Der Öffentlichkeit hatte er stets erklärt, seine Tochter sei zu einer Sekte geflohen und habe die adoptierten Kinder vor seiner Haustüre ausgesetzt. Fritzl wurde nach einem umfassenden Geständnis im März 2009 wegen Mordes durch Unterlassung, Vergewaltigung, Freiheitsentziehung und schwerer Blutschande schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Haftstrafe in der Justizanstalt Stein verurteilt. Erstmals in Österreich wurde auch der Tatbestand der Sklaverei verhandelt. Kein vergleichbarer Fall wurde international derart intensiv thematisiert. Über eine kleine Stadt in Niederösterreich brach ein Medienrummel herein, auf den keiner vorbereitet gewesen war. Im Büro von Kastners Sekretärin klingelte das Telefon ohne Unterbrechung. „Das kann man sich nicht vorstellen, bevor man es nicht selbst erlebt hat”, erinnert sie sich heute. Sie erreichten Anfragen von Japan über China bis England. Das heimische Boulevard-Trio Österreich, Heute und Krone überschlug sich regelrecht dabei, seine Schlagzeilen mit neuen Synonymen für den „Horror-Dad” zu füllen. Die Welt stand Kopf, als Kastner einen kühlen Kopf bewahren musste.
Natürlich ist es Aberglaube, dass jede Tat allein auf Geschehnisse in der Kindheit zurückgeführt werden kann. Und trotzdem setzt Kastner in ihren Fällen meist systematisch und sehr bewusst dort an. In diesem Fall beginnt die persönliche Geschichte von Josef Fritzl im nationalsozialistischen Amstetten—und zwar in genau jenem Haus, dessen Keller er später zu einem Kerkerverlies ausbauen würde. In wahllos zusammengewürfelten Dokumentationen wird gerne behauptet, Fritzls späteres autoritäres Machtgehabe sei Folge des damals vorherrschenden politischen Systems gewesen. Kastner verneint dies ausdrücklich. Sie hat in ihrem etwa 120 Seiten umfassenden Gutachten vor allem auf die schwierige Beziehung zwischen Mutter und Sohn aufmerksam gemacht, die sie zwar als eingebettet in das Zeitgeschehen, aber davon losgelöst auch als eigenständiges Problem ansieht. Fritzls Mutter wurde bei ihrem ersten Mann nicht schwanger, weswegen dieser sie verließ. Die Fähigkeit, ein Kind zu gebären, wuchs danach zu einer fixen Idee: Sie wollte unbedingt schwanger werden, nur um zu zeigen, dass sie dazu in der Lage war. „Der Mann war egal. Das Kind war egal. Der Beweis war alles, was zählte”. Als im Haus, das Mutter und Sohn bewohnten, Flüchtlinge hätten einquartiert werden sollen, legte sich Fritzls Mutter mit den Behörden an und wurde in das Konzentrationslager Mauthausen deportiert. Der etwa 10-jährige Josef kommt in eine Pflegefamilie und begeht sein erstes Delikt, als er Geld für eine Zugfahrt zurück ins zerbombte Amstetten klaut, um seine Mutter zu suchen. Als das Lager von den Amerikanern befreit wird, kehrt die Mutter als noch unberechenbarere Person nach Hause zurück. Sie kümmert sich noch seltener um den Sohn, schlägt ihn, nimmt ihn schlichtweg nicht wahr. Einmal erleidet das Kind eine Vorhautverengung, kann tagelang nicht urinieren und wird erst durch Einschreiten der Nachbarin zum Arzt gebracht. Über solche Erfahrungen zu sprechen, ist im Rahmen eines Gerichtsgutachtens äußerst wichtig, um das Gesamtbild besser beurteilen zu können und hat, so Kastner, nichts mit der Verharmlosung oder einer beabsichtigten Minderung des Strafmaßes zu tun. Sie werden auch nicht faktisch nachgeprüft. „Das Einzige, was zählt, ist: Wie nimmt dieser Mensch, der mir gegenüber sitzt seine eigene Vergangenheit war?” Kastner muss in diesem Fall nichts weiter tun als unkommentiert zuhören.
Fritzls Anwalt, Rudolf Mayer, hatte hier eine weit schwierigere Position. Er hat von Berufs wegen im Interesse seines Mandanten zu handeln und musste sich ihm ganz anders annähern. Heute erklärt er telefonisch, dass er mit dem Fall „rein gar nichts mehr zu tun haben möchte”, und legt auf. Kastner hingegen hat ein sehr klares Rollenverständnis und bezieht hier eine ganz sichere, fachliche Insel-Position. „Ich stand nie hinter, neben, vor oder über Fritzl. Ich stand einfach nur da. Wenn, dann stehe ich für die forensische Psychiatrie”, sagt sie, wenn man sie fragt, ob man für jemanden wie ihn je Mitleid empfinden kann. Eine psychiatrische Wertung ist kein Verdammnis- oder Sympathieurteil. Es ist einfach ein Job—wenn auch einer, für den man brennen muss, um ihn zu ertragen. Kastner dämpft ihre Zigarette für das Foto aus. Sie macht kein Geheimnis daraus, dass sie der Fall seit Jahren nur noch anödet.
Kastner ist davon überzeugt, dass Fritzl „den Fehler” in seiner Tat erkennt. „Dass es nicht richtig ist, die eigene Tochter 24 Jahre im Keller einzusperren, muss man keinem Menschen einbläuen.” Das unterscheidet ihn von Tätern wie Anders Breivik. Ähnlich wie im Fall des Norwegers lag es in der Hand von Kastner, zu erheben, ob Fritzl zurechnungsfähig war oder nicht. Ihr Urteil: Es liegt eine höchst auffällige Persönlichkeitsstruktur mit narzisstischen, machtorientierten und gemütsarmen Zügen vor,
„Am Fall Fritzl ist überhaupt nichts Besonderes. Väter misshandeln ihre Töchter und ja, oft entstehen Kinder aus diesen Übergriffen. Alles, was den Fall besonders macht, ist seine Zeitspanne.”
allerdings keine psychische Krankheit. Wenn das Motiv für seine Tat aus einer Krankheit resultiert, gilt man in einem aufgeklärten Rechtssystem normalerweise als nicht zurechnungsfähig. Das hat schon Aristoteles so gefordert. Kastner erklärt das so: „Wenn du denkst, deine Mutter wäre ein Marsmensch, der die Apokalypse plant, und du sie deswegen umbringst, dann ist das eine Schizophrenie. Dann warst du nicht zurechnungsfähig und bist auch nicht schuldfähig.”
Kastner redet geradeheraus, zeigt in vielen Situationen sogar Humor. Genau das finden viele in diesem Zusammenhang geschmacklos. Aber bei genauerer Betrachtung wirkt ihre Reaktion umso ehrlicher, weil sie den geforderten Vorurteilen der sensationsgierigen Öffentlichkeit mit einer Mischung aus nüchterner Professionalität und entkoppelter Privatmeinung entgegentritt. Kastner zeigt, dass man persönlich Mensch sein und professionell ohne Vorverurteilung und Unsachlichkeit agieren kann. Wenn sie auf unsere Frage, ob man sich so ein eintägiges Gutachten gemütlich vorstellen kann, mit einem Lachanfall reagiert, beantwortet sie diese besser als mit jeder bemüht emotionalen Beschreibung der Situation. Und wenn sich Josef Fritzl während des Gesprächs als kooperativ und zuvorkommend gezeigt hat, warum sollte sie dann lügen, nur um dem in der Öffentlichkeit vertretenen Ekel eine Bestätigung zu geben? Es ist ganz einfach: Adelheid Kastner saß in diesem Raum und durchleuchtete Fritzl wie jeden anderen ihrer Klienten auch. Auf Sensationsgelüste reagiert Kastner mit harten, oft faden Tatsachen. Inzwischen überwiegt blankes Desinteresse. Sie hat in den vergangenen Jahren immer wieder dieselben Fragen gestellt bekommen: „Warum genau diese Tochter?” Kastner antwortet mit dem, was Fritzl an jenem Samstag in Stein zu ihr gesagt hat: „Weil sie mir am ähnlichsten war”. Ist Fritzl pädophil? „Das ist er ganz sicher nicht. Er hat seine Tochter ganz klar als Partnerin gesehen, hatte aber kein Interesse an präpubertären Kindern. Wenn, dann leidet Fritzl unter dem Verlangen, sexuelle Dominanz auszuüben und andere zu unterdrücken”. Zeigt er heute Reue? Ist ihm klar was er Böses getan hat?” Bei dieser Frage holt Kastner weit aus. Sie steht diesem Gut-böse-Schema mindestens so kritisch gegenüber wie „so manch anderem Blödsinn, der über den Fall geschrieben wurde.” In der Praxis ist das Böse weder eine psychiatrische Kategorie noch eine valide Diagnose. Es ist vielmehr eine moralische, ethische oder theologische, aber nie medizinische Frage und somit für die Forensik als Kategorie nicht relevant. Wir imaginieren das Böse gerne, zentrieren es in einer Person, damit wir diese als Sündenbock verjagen können.
„Es hat meiner Meinung nach keinen Sinn, einen über 80-Jährigen zu therapieren. Fritzl hat sich seine eigene Realität zurechtgezimmert, mit der er besser lebt, und es ist nicht zielführend, ihn mit Druck davon abzubringen”, sagt sie. Angeblich soll Fritzl seit seinem Haftantritt keinerlei Besuch bekommen haben, dafür eine Flut an Hasspost, die er wohl auch gelesen hat, wie Kastner vermutet. In einem erschlichenen Interview eines später angeklagten BILD-Reporters wird Fritzl zitiert: „Wie mein Name ist, wissen Sie. Ich bin ja ein Star da draußen.” „Vermutlich ist er sich des Interesses der Medien durchaus bewusst”, seufzt Kastner. „So ein Andrang ist immer auch ein gewaltiger Ego-Booster; egal, was geschrieben wird.”
Geschrieben wurde alles, nur um etwas geschrieben zu haben. Das Haus der Tochter wurde belagert, eine britische Zeitung veröffentlichte sogar Fotos der Kinder. Die BILD-Zeitung nahm es sich heraus, private Details über das Leben der ältesten Tochter zu titeln. Sogar der Beton, welchen man kürzlich zum Verschütten des Kellers benutzt hatte, wurde genau analysiert und mehrere Metal-Bands, darunter Rammstein, beschrieben das Geschehene in ihren Songs. Eine solche Flut an Reaktionen, von unüberlegter Berichterstattung bis hin zu zusammenshangloser, provozierender Kunst kann man zurecht als verwerflicher empfinden als die distanzierte, nüchterne Analyse einer Gerichtsgutachterin. Im Fall Fritzl hat man nicht nur einen Kanister, sondern gleich eine ganze LKW-Ladung voll Öl ins Feuer geschüttet.
Es geht aber nicht nur um Sensationsmeldungen, sondern auch um schlecht bis gar nicht recherchierte Details, die Biografie betreffend: So wird Fritzl in der Dokumentation Geschichte eines Monsters mit den Worten zitiert, er habe sexuelle Erregungen für die Mutter empfunden, diese jedoch unterdrückt. Im Gutachten selbst steht auf keiner der 120 Seiten etwas von diesem Verlangen. Ganz im Gegenteil. Fritzl fühlte sich von der Mutter unterdrückt, ungeliebt und unbeachtet, was ihn laut Kastner später dazu brachte, die bestehenden Systeme umzukehren und selbst in die Position der Mutter zu kommen, um zu unterdrücken. Aber sind solche „Kleinigkeiten” bei so einem schlimmen Gewaltverbrechen denn überhaupt noch wichtig und relevant? Für den Tatverlauf oder das Strafausmaß nicht, für unser Grundverständnis von Persönlichkeitsrechten schon: „Im Fall Fritzl fühlten sich unglaublich viele Menschen dazu bemüßigt, die große Wahrheit offenzulegen. Das Resultat war ein stupider Voyeurismus, der nur dazu diente, die Massen zu befriedigen.” Es hieß weiter, Fritzl habe seine Mutter in eben diesen Keller einbetoniert, obwohl jene bereits lange vor dieser Zeit in einem Altersheim verstorben war. Ein Bordellbetreiber profilierte sich, indem er erzählte, Fritzl hätte seinen Betrieb regelmäßig in „Angst und Schrecken” versetzt. Und trotz all ihrer Distanz und Professionalität war es natürlich auch nur eine Frage der Zeit, bis Kastner angegriffen wurde.
Sie sei Fritzl auf den Leim gegangen, indem sie die Mauthausen-Geschichte der Mutter geglaubt hatte, griff sie die deutsche Journalistin Bettina Röhl in ihrem Blog an. In der Welt schrieb sie unter anderem: „Wie kommt diese früh ergraute, sich mädchenhaft verkleidende Psychiaterin mit leicht welkendem Dekolleté dazu, sich im Interview mit dem Stern derart zu präsentieren?” Kastner trägt heute türkise Kleidung, dazu passende Ballerinas mit Tigerprint und einen silbernen Herzchen-Anhänger. Man kann es auch „Raubtierjournalismus” nennen, wenn Fakten in einem Fall mit dem Dekolleté einer Gutachterin bestritten werden. Frau Röhl hätte beim Dokumentationszentrum für Konzentrationslager in Österreich anrufen sollen. Der Name der Mutter scheint nämlich in den Archiven auf, die Zeitspanne stimmt mit den Aussagen überein und auch der Grund ihrer Einlieferung ist ident mit der im Gutachten zitierten Geschichte. Das war der Zeitpunkt, als Adelheid Kastner das erste und letzte Mal Post von Fritzl bekam.
In dem Brief beschwert er sich über die Delikte, die er so nie verbrochen hat. „Ich stehe zu dem, was ich getan habe, aber ich sehe nicht ein, warum man mir weitere, zusammenhangslose Delikte anzudrehen versucht. Sie wissen doch, wie die Sache war!” Das klingt, als hätte er Kastner gegenüber ein gewisses Vertrauen, ja vielleicht sogar Identifikation entwickelt? Darauf schüttelt die Frau müde den Kopf: „Man muss verstehen”, sagt sie und betont jedes Wort bewusst einzeln, „um Vertrauen entwickeln zu können, braucht es die Fähigkeit, eine Beziehung aufbauen zu können. Fritzl ist in einer Großfamilie aufgewachsen und war trotzdem immer allein. Heute ist er isoliert und es wird ihn kaum etwas zusetzen. Einer wie Fritzl hat keine Angst vor dem Alleinsein, weil er es emotional immer war.”
Wie behält man in so einem Gespräch seine Gefühle unter Kontrolle? Wie sieht man einen Mann mit einer solchen Vergangenheit nach wie vor als Menschen? Für Adelheid Kastner gibt es da zumindest bei Letzterem nicht viel nachzudenken. In der österreichischen Sendung „Erlesen” konfrontierte sie ein österreichischer Regisseur einst mit derselben Aussage: „Für mich ist der Fritzl kein Mensch!” Kastner setzt sich in ihrem beigen Couchsessel auf und sieht plötzlich ein bisschen weniger müde aus: „Was soll der Fritzl denn bitte sonst sein außer ein Mensch?” Sie fügt in einem genervt-zynischen Ton hinzu: „Ein Einkaufswagerl vielleicht?” Es sind zwei Sachen am Fall Fritzl, die sie noch heute wütend machen: Die Dehumanisierung des Täters und die Mystifzierung des Falls. „Zu sagen, der Fritzl sei ein Monster, ist nichts weiter als ein Schutzmechanismus. Denn wenn er ein Mensch ist, dann ist er dasselbe wie ich und das kann er nicht sein”. Für sie warf der Fall nach Verfahrensende keine Fragen mehr auf, die man hätte thematisieren müssen. Das sei im Fall Kampusch anders gewesen, bei dem es nie zu einem Verfahren kam, weil sich der Täter hier durch seinen Selbstmord entzogen hatte. Und dann sagt sie etwas zur Mystifizierung, das man leicht falsch verstehen könnte, wenn man unbedingt wollte: „Am Fall Fritzl ist überhaupt nichts Besonderes. Väter misshandeln ihre Töchter und ja, oft entstehen Kinder aus diesen Übergriffen. Fritzl hat diesen Keller nicht spontan gebaut, er hat diese Tat penibel genau geplant und es ist auch nichts Mystisches daran, dass das niemand bemerkt hat. Alles, was den Fall besonders macht, ist seine Zeitspanne—die unglaubliche Anzahl an Jahren, in denen er Täter war.”
Die Hunde-Sitterin wartet bereits seit über einer Stunde, Kastner ist ungeduldig und müde. Der Lift rattert vom vierten in den letzten Stock. Auf halber Höhe will der Fotograf noch wissen, ob sie den an die Fritzl-Geschichte angelehnten Film Michael gesehen habe. Sie spiele sogar darin mit, sagt sie—und zwar die Gutachterin, die sie in diesem Fall immer schon war. Als sie aussteigt und in Richtung Tiefgarage abbiegt, hat man das Gefühl, dass diese Frau nie aus ihrer Rolle gefallen ist. Nicht einmal bei Fritzl.