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Sex

Ein Paar erzählt von seiner offenen Beziehung

Sie lieben sich, seit sie Teenager sind. Aber da gibt es noch Jaspers Kindergartenfreund. Und Maries Kommilitonin. Und all die anderen.
ein Paar liegt auf einer Matratze

"Die Monogamie ist ein Desaster. Zumindest statistisch gesehen. Fast jede zweite Ehe in Deutschland wird geschieden, Tendenz steigend. Die durchschnittliche Dauer einer Beziehung beträgt vier Jahre. Rund die Hälfte der erwachsenen Deutschen ist schon einmal fremdgegangen", schreibt Friedemann Karig im Vorwort zu seinem Buch Wie wir lieben, das am 17. Februar 2017 erscheint.

Es ist kein Plädoyer für die offene Beziehung, sondern eine Gedankensammlung, ob wir im Jahr 2017 ein neues Konzept der Liebe brauchen – und wie dieses aussehen könnte. Dafür hat Friedemann Karig mit Menschen gesprochen, die versuchen, anders zu lieben – mutiger, freier, gewagter. Mit allem Schmerz. Mit allem Glück. Mit oder ohne Happy End. Zwischen den Geschichten stehen einige Gedanken darüber, warum die Liebe heute ist, wie sie ist – und wie es anders geht. VICE wird in den nächsten Wochen einige dieser Liebesgeschichten veröffentlichen. Es geht los mit Jasper und Marie und außerdem Jaspers Kindergartenfreund, und all den anderen Frauen und Männern, die die beiden in ihrer siebenjährigen Beziehung begleiteten.

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Jasper & Marie

Alles beginnt mit der heißen Ana. Sommer 2008, ein kleiner Ort im Speckgürtel der Großstadt. Jasper – ein großer, ruhiger, überlegter Typ – ist damals 19 und gerade fertig mit dem Abitur. "Alle meine Freunde waren geil auf diese Party", erzählt er. "Denn angeblich sollte ein Mädchen aus Schweden kommen – 'die heiße Ana'."

Ana ist weder heiß noch Schwedin, sie war nur drei Wochen in Schweden im Urlaub. Die Party: eine Enttäuschung. Bis ein Freund zu ihm kommt und sagt: "Ey, Jasper, da ist eine, die sagt auch immer 'kranker Scheiß', so wie du die ganze Zeit." Jasper sieht das Mädchen, das an seinem iPod steht, der im Wohnzimmer für Musik sorgt. Und sie spielt ausgerechnet ein Lied von genau der Münchner Band, mit der seine völlig erfolglose Combo zwei Monate vorher ein Konzert gespielt hat.

Marie ist 16, blond, süß, hellwach. "Kranker Scheiß!", sagt sie, als er ihr von dem Konzert erzählt. "Du heißt Jasper?", fragt sie ungläubig, "wie der Kasper?"

Er schreibt ihr seinen Namen mit Kuli auf den Arm, damit sie ihn nicht vergisst.


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Eigentlich will er keine Beziehung. Er will frei sein, auf Partys flirten und rumknutschen, sich nicht einschränken müssen. Aber er will Marie. Er holt sie mit dem Auto vom Babysitten ab, hat ein Teelicht dabei, macht Musik an. Im Oktober macht er ihr einen "Beziehungsantrag." Sie sagt Ja. Wenn sie heute nebeneinander sitzen und davon erzählen, entschuldigt er sich, wenn er ihr ins Wort fällt oder für sie spricht. Gibt ihr im Zweifelsfall Recht. "Wird schon so gewesen sein", sagt er dann. Sie fassen sich selten an, aber lachen viel zusammen. Für Jasper ist es die erste richtige, erwachsene Beziehung. "Mit Sex und allem drum und dran." Nach dem Abi macht er Zivildienst im Altersheim, seine Spezialität sind Vorhänge. Nur er ist groß genug, um sie für die Wäsche abnehmen zu können. Marie ist in der 11. Klasse. Als sie im Februar für sechs Monate nach Mexiko geht, ist Jasper nicht eifersüchtig. Er bewundert sie für den Schritt. Dass sie fährt, ist sowieso klar. Dass sie dort vielleicht jemanden kennenlernt, auch. "Wir haben sofort gesagt, dass alles OK wäre. Auch Sex mit anderen", sagt Marie. "Ein halbes Jahr ist lang." Sie sind wahnsinnig glücklich, aber wollen sich nicht zu viel versprechen. "Ich hatte gedacht, dass ich viel mehr Freiheit will", sagt Jasper. "Aber in der Zeit habe ich nur mit zwei Mädchen rumgeknutscht." Es gibt ihm nichts. Keinen Kick. Und schon gar keinen Ersatz für Marie. Trotz Zeitverschiebung skypen sie oft. Er steht extra früher auf, um sie noch zu erwischen, fast 10.000 Kilometer entfernt. In Mexiko küsst Marie auf einer Party einen Jungen und hat ein schlechtes Gewissen. Sie erzählt ihm nichts davon, er ihr nichts von seinen zwei Knutschereien. "So war der Deal. Don't ask. Don't tell." Als Marie endlich zurückkommt, holt Jasper sie vom Flughafen ab. Ihre Hand fühlt sich ungewohnt an, es ist so lange her, beide sind aufgeregt. Bevor sie miteinander schlafen, fragt er sie, ob sich etwas verändert hat. Ob sie direkt wieder von Null auf Hundert gehen möchte.
"Nein. Alles OK", sagt sie. Nach dem Zivildienst fängt Jasper an zu studieren, Lehramt. Marie macht ihr Abi, dann studiert sie auch Lehramt. Sie sind glücklich. Eifersucht, Treue? Kein Thema. Darüber sprechen sie erst wieder, als Jasper mit Maries Freundin Birte flirtet. Birte erwidert das, lädt Jasper ohne Marie zu Partys ein. Marie beschwert sich, sie klären das. Birte zieht weg, alles ist gut. 2014 zieht Marie zu Hause aus und in eine WG. Auf der Einweihungsfeier fragt sie einen Freund von Jasper, ob sie zusammen einen Schnaps trinken. Er sagt: "Ich trinke keinen Schnaps." Sie sagt: "Wenn du einen mit mir trinkst, dann küsse ich dich." Sie schauen sich an. Sie wollen es beide. Als Marie Jasper fragt, sagt er: "OK, mach. Warum nicht." Sie küsst den Freund auf dem Balkon, und die halbe Party bekommt es mit. Damit beginnt ihre offene Beziehung. Und gleichzeitig auch Jaspers größtes Problem damit. Ihn stört nicht, dass seine Freundin mit anderen körperlich wird. Nicht mal, wenn es sein Kindergartenfreund ist. Jasper stört, dass seine Freunde ihn nicht verstehen. "Meine Einstellung war schon immer: Auf Partys macht jeder seins. Von mir aus auch knutschen. Was ich nicht viel ungewöhnlicher finde als Eisessen. Beides macht Spaß. Warum sollte ich das strikt nur mit einer Person tun?" Doch seine alten Freunde reden darüber. "Jasper, was ist da los? Jasper, lass dich nicht verarschen", sagen sie. "Du bist verknallt, aber lass dir nicht alles gefallen von der." Sie wollen ihn schützen, aber für ihn wird ihre Sorge zur Belastung. "Manche meiner Freunde sind einfach konservativ. Für die war Marie eine Schlampe. Aber ich hab gesagt: 'Das ist meine Freundin! Wie redest du über sie?'" Er bekommt das Gefühl, dass er Freundschaften über Bord werfen muss, wenn die Freunde nicht in ihre Köpfe kriegen, dass er kein Problem damit hat. Ist sauer, dass Marie alle den Kuss hat sehen lassen. Verstanden fühlen sich beide nur von dem einen Freund, mit dem Marie etwas hat.
"Damals waren wir sechs Jahre zusammen", sagt sie. "Vielleicht war einfach die Zeit reif, unsere theoretischen Überlegungen in die Tat umzusetzen. Und das war gut. Nach langer Zeit jemand anderen zu küssen, fühlte sich sehr schön an." Jasper sagt: "Es musste sich erst entwickeln, dass wir uns gut kennen, ihn kennen, uns vertrauen. Aber ich hätte es ihr auch nach einem halben Jahr erlaubt." Marie und der Freund schreiben sich, treffen sich auf Partys wieder, küssen sich. Beide wissen, dass es wieder passieren kann. Und darf. "Wir sind immer weitergegangen", sagt Jasper. "Wir haben festgestellt, dass wir das beide gut finden und uns wohl damit fühlen. Auch mit Sex."

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Auch Jasper lernt eine interessante Frau kennen und schläft mit ihr. Marie schläft mit dem Freund. Etwas später fliegen die beiden Jungs zusammen nach Rom. Sie laufen durch die Stadt, in einer Pizzeria um die Ecke vom Kolosseum sitzen sie sich endlich gegenüber. Packt ihre Freundschaft, dass der Freund mit Marie schläft? Ist wirklich alles in Ordnung? "Ich dachte, küssen wäre OK", erkundigt sich der Freund vorsichtig. "Aber mehr?" "Alles gut", sagt Jasper. Dann essen sie weiter. "Im Nachhinein fühlt es sich so an, als wären wir nur hingeflogen, um diese Pizza zu essen und diese paar Sätze zu sagen", erzählt Jasper. Ihre Freundschaft bleibt. Eifersucht? Kennt Jasper nicht. "Allerhöchstens Trotz. Wenn sie mehr Spaß hat als ich, wenn sie ausgeht und ich arbeiten muss. Wenn ihr die Männer hinterherlaufen – und ich keine abkriege. Das ist keine Eifersucht. Das ist Neid. Der innere Zähler, dass sie mehr Erfolg hat als ich." Ihn stört nur, dass er wegen seiner Doktorandenstelle unter der Woche nicht immer feiern kann mit Marie und allen Freunden, die noch studieren. "Ich saß mit meinem Bier an der Theke und wusste: Wenn ich jetzt heim gehe, schlafen sie miteinander. Wenn ich bleibe, nicht."
Nach ein paar Monaten merkt Marie: Sie mag diesen Freund zu sehr. Und er sie. "Es wäre besser, wenn wir in nächster Zeit nicht mehr miteinander schlafen", schreibt sie ihm. Aber es gibt andere. Wenn sie jemanden mit nach Hause nimmt, schreibt sie Jasper: "Ich hoffe das ist OK", und er antwortet: "Ja, das ist OK." "Wir reden auch über den Sex mit anderen, oder ob es eine Geschichte dazu gibt." Mit einem Gespräch ist der andere, die andere ein Teil von ihnen. Sie sprechen auch oft über ihr Beziehungskonstrukt, wie andere sie sehen. "Ein Grund, warum ich Marie heute liebe, ist diese Meta-Ebene unserer Beziehung. Was wir voneinander erwarten, wie wir miteinander umgehen, das kenne ich von keinem anderen Menschen." Sie sind seit sieben Jahren zusammen: frei und doch gebunden. Wenn Marie abends jemanden kennenlernt, sagt sie: "Ich habe einen Freund. Aber wir sind in einer offenen Beziehung." Manchmal setzt sie den Satz sogar strategisch für One-Night-Stands ein: "Die meisten Typen sind froh und denken: Bei der muss ich mich morgen nicht mehr melden." In keinen der Kerle, mit denen sie schläft, ist sie verknallt. "An unserer Verbindung ändert sich nichts, weil ich Sex mit jemand anderem habe. Wenn das etwas ändern würde, würde etwas mit unserer Liebe nicht stimmen." "Liebe definiert sich nicht durch Zwänge", sagt Jasper. "Eine gute Beziehung auch nicht. Dass man sich etwas verbietet und vorenthält, um glücklicher zu werden – das ist paradox. Aber ich nehme nicht in Anspruch, dass das die absolut richtige Lösung ist. Oder für immer sein wird", sagt Jasper. "Es gibt Leute, die damit nicht glücklich werden würden." Und auch Marie ist sich sicher: "Für manche ginge das gar nicht." Die beiden lieben sich, die beiden wollen mehr. "Silvester 2014 hatten wir die verrückte Idee, dass wir 2015 in jedem Monat mit einer anderen Person schlafen", erzählt Marie.

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Jasper schafft die Quote nicht, es ergibt sich für ihn nicht mehr. "Mir war die Möglichkeit noch wichtig, aber die Umsetzung nicht mehr." Im Dezember sind sie zusammen in einem Club. Jasper küsst eine Kommilitonin von Marie. Für Marie werden damit gleich zwei Regeln verletzt: keine Freundinnen (an diese Regel erinnert sich Jasper nicht). Und nicht, wenn der andere dabei ist. Will Jasper damit quasi aufholen? Eine Freundin gleich fünf Fremde, die Marie abschleppt? Oder ist es einfach die Nähe, diese Freundschaft plus X, die ihn reizt? "Ich wollte ihm nichts vorschreiben", erzählt sie. Aber egal ist es ihr nicht. "Ich glaube, dass er mir damit etwas zeigen wollte. Dass er auch kann, wenn er will. Das hat mich geärgert." Sie streiten sich. Es ist Weihnachten, er ist bei ihrer Familie, und sie giften sich nur an. Drei Tage später trifft er die Kommilitonin noch einmal. Sie sagt nur: "Mach halt." Aber Marie macht sich Sorgen. Ist das Risiko nicht zu hoch, wenn er mit jemandem schläft, den er auch noch mag? Trotzdem finden beide ihr Beziehungsmodell tausend Mal besser als alles andere. Hier könnte die Geschichte von Jasper und Marie enden. Wenn Liebe ein Spielfilm wäre. Oder ein Roman. Aber als Marie ein halbes Jahr später, dieses Mal allein, vor mir sitzt und ihr Weinglas in den Händen dreht, hin und wieder zurück und wieder hin und zurück, da bekommt ihre Geschichte kein Ende. Sie wird zu einem Kapitel. Ein Kapitel in Maries Buch. Das jetzt nicht mehr Jaspers ist. "Als ich ohne Jasper im Urlaub in Mexiko war, hat mich ein Typ aus der Bahn geworfen. Ich war verknallt. Aber ich dachte: Wenn ich erstmal zu Hause bin, bei Jasper, dann passt das schon wieder. Als ich zurück war, sind wir nach Israel gefahren. Und die zwei Wochen waren schön. Aber: Wir waren nicht wie ein Paar im Urlaub. Sondern wie zwei sehr, sehr gute Freunde."

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Während sie erzählt, muss sie immer wieder nachdenken. Ist vorsichtig mit den Worten. Sie will Jasper kein Unrecht tun. Nicht hinterher herumdeuten an einer Beziehung, die sie lange sehr glücklich gemacht hat. "Zu Hause haben wir eine Woche nur gestritten. Dann ist er nach Japan, für drei Wochen, mit der Arbeit. Am Wochenende vorher habe ich Andi kennen gelernt." Andi ist Türsteher in dem Club, in den sie oft geht. Er ist ganz anders als Jasper. Emotionaler. Sensibler. Sie küssen sich vor dem Club, gehen aber getrennte Wege nach Hause. Warum schlief sie ausgerechnet mit Andi nicht? "Das hätte nicht zu ihm, nicht zu dem Abend gepasst." Sie tauschen Nummern aus, gehen auf ein Konzert, danach auf Drinks. "Ich habe einen Freund", sagt sie. Andis Gesicht ist leer. "Aber wir haben eine offene Beziehung. Und ich mag dich. Wirklich." Andi sagt erst nichts weiter. Dann: "Wie stellst du dir das vor? Bist du jetzt dreieinhalb Wochen mit mir unterwegs, und dann kommt dein Freund wieder?" Er kommt mit zu ihr, aber es passiert nichts. Beim nächsten Treffen kocht er für sie. Sie liegen in seinem Bett. Und sind sich einig: So geht es nicht. Also schreibt sie Jasper eine Nachricht. Dass sie nicht mehr weiter weiß. Dass es ihr leidtut. Jasper ist 10.000 Kilometer entfernt, Daten erheben für ein Projekt seines Lehrstuhls, einsam.

"Ich hatte damit gar nicht gerechnet. Ich hatte ihr schon Mitbringsel besorgt", sagt er.
Als er zurück ist, sagt sie: "Ich bin mir nicht mehr sicher mit uns." "Ich weiß nicht, wie ein Leben ohne dich aussehen soll", sagt er. "Wie kannst du unsere Beziehung für ein Bauchgefühl wegschmeißen? Ich habe mich auch viermal verknallt. Und es war mir egal." Und damit stellt Marie sich die große Frage: War das nur eine Frage der Zeit? Musste sie sich in einen der Männer, die sie neben Jasper kennenlernt, nicht zwangsläufig irgendwann verlieben? Oder verliebte sie sich in Andi, weil sie Jasper nicht mehr liebte? Waren die anderen ein schleichendes Gift? Oder überhaupt der Grund, warum sie so lange glücklich waren?

Jasper würde alles genau so wieder tun. Marie auch. "Das musste ja passieren", sagen manche Freunde trotzdem zu ihr. "Das konnte ja nicht klappen, so offen, wie ihr wart." Marie ärgert sich darüber. Dass sie mit Andi nicht ins Bett gegangen ist, ihn genau so gut in einer geschlossenen Beziehung hätte kennenlernen können, dass eine neue Liebe jedem passieren kann, zumindest jedem, dessen alte Liebe schwächer wird –scheint nicht zu zählen. "Ich hatte was mit Männern, und bin immer wieder bei Jasper geblieben. Und er bei mir", sagt Marie. "Bis Jasper für mich immer weiter weg war. Und Andi kam. Vielleicht ist es so einfach."
Und was denkt Jasper, verletzt, verlassen, aber immer noch ruhig, rational? "Die offene Beziehung ist definitiv nicht schuld", sagt er. "Sie wollte mich nicht mehr. Und sie konnte sich nicht zurückhalten. Das wäre so oder so passiert. Nur wie sie es gemacht hat, ist enttäuschend. Sie hat unsere Idee am Ende doch ignoriert. Aber ich kenne nach wie vor keine Beziehung, die ich besser fand als unsere." Demnächst lernt Marie Andis Eltern kennen. Sie sind noch nicht offiziell zusammen, aber es wird darauf hinauslaufen. Auf eine offene Beziehung? "Andi findet das, glaube ich, nicht so gut. Aber das ist mir völlig egal. Ich bin seit langer Zeit das erste Mal nicht das geringste bisschen auf der Suche. Ich will jetzt erstmal nur ihn."

Jasper schreibt ihr, manchmal. Sie erzählt ihm nicht mehr von Andi.

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