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Interview

"Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass man als blonder Deutscher eins auf die Fresse kriegt"

Felix Lobrecht wuchs in Neukölln der Nullerjahre auf. In seinem Roman geht es um Prügeleien "mit den Arabs", Chaosschulen und Messerstechereien. Er wünscht, er hätte sich mehr davon ausdenken müssen.
Foto: Afra Bauer

"Scheiß Opfer Deutscher, ja. Hör auf zu stottern, du Missgeburt! Was los mit dir, wenn ich mit dein Freund rede, was ziehst du ihn weg dann? Soll ich dir mal ein Bombe geben jetzt?"

Ein paar Absätze später fliegen die Fäuste. Lukas, der Protagonist des Romans Sonne und Beton, bekommt ziemlich oft eins auf die Schnauze. Auch, weil er einer der wenigen blonden Jungs in seiner Gegend von Neukölln ist. Oft sagt Lukas, er sei Pole – auch wenn er in Wahrheit Deutscher ist: "Is' einfacher so für mich." Sonne und Beton dreht sich um seinen Sommer zwischen Platten, Prügeleien "mit den Arabs" und Kornklauen bei Aldi.

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Der Autor, Felix Lobrecht, wünscht sich, er hätte sich mehr davon ausdenken müssen. Er ist 28 und selbst in Neukölln der Nullerjahre aufgewachsen – was damals als der schlimmste Problembezirk in Deutschland galt. Mit 14 flog er vom Gymnasium, jobbte nach dem Realschulabschluss in einem Fitnessstudio, fing eine Ausbildung zum Industriekaufmann an und brach sie wieder ab. Später holte er sein Abi nach und fing an, als Comedian aufzutreten und Politik in Marburg zu studieren. Inzwischen wohnt er wieder in Berlin und studiert an der Uni Potsdam. Im Sommer will er seine Bachelorarbeit schreiben.

Felix – Goldkettchen, Ohrstecker, Boxerschnitt, schwarzes Sweatshirt, weiße Turnschuhe ­– wechselt unfassbar schnell zwischen dem Vokabular eines Politikstudenten und eines "Prolls", wie er sich selbst nennt. Er benutzt Ausdrücke wie "determinierender Faktor" und "vertikale Transzendenz" und sagt im nächsten Satz "Seid ihr hart, Alter" oder "Das Buch kommt auf die Fresse her". Wir haben mit ihm über seine Jugend und Chancengleichheit in Deutschland gesprochen.


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VICE: Du wohnst in Friedrichshain und nicht in Neukölln. Warum?
Felix Lobrecht: Als ich letztes Jahr aus Marburg zurück nach Berlin gekommen bin, konnte ich mir da keine Wohnung mehr leisten. Und ich sah es auch nicht ein: In Straßen, in die ich vor zehn Jahren nie gegangen wäre, wenn es nicht unbedingt sein musste, kostete eine Zweizimmerwohnung 1.000 Euro kalt. Früher hätte ich einen Teufel getan, am Hermannplatz auszusteigen. Da war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man als blonder, deutscher Junge eins auf die Fresse kriegt oder mein Handy den Besitzer wechselt.

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Heute ist da eine Bio Company in der Nähe und Cafés, in denen die urbane Elite aus aller Welt bruncht.
Ist krass, wie sie unseren Style von früher kopieren. Mit Bomberjacken, Hosen in den Socken und Reeboks-Sneakern. Sind halt zehn Jahre zu spät, die Idioten. Aber das ist nicht mein Problem. Sondern: Wo sollen jetzt die Menschen hin, die früher hier gewohnt haben und sich keine 1.000-Euro-Mieten leisten können? Dass die Kriminalitätsrate in Neukölln zurückgegangen ist, liegt zwar auch daran, dass solche Menschen hierher ziehen. Aber drei nette Cafés in der Weserstraße können die Probleme wie Perspektivlosigkeit und Scheißschulen nicht lösen.

In deinem Roman gibt es eine Szene, in der Schüler einen Lehrer nach Strich und Faden verarschen und selbst der Rektor die Klasse nicht in den Griff bekommt. Bist du auch so aufgewachsen?
Ja. Wenn da so eine Handlampe vorne stand, dann wurde er gefressen. Schule war ab einem gewissen Punkt nur zur persönlichen Belustigung da. Gelernt hat man da nichts. Und es hat sich auch kaum ein Lehrer für uns interessiert. Manche haben mehr oder weniger explizit gesagt: "Aus euch wird eh nichts. Lass uns die Stunde so rumkriegen, dass niemand stirbt." Also hat man es sich mit den Kumpels so lustig wie möglich gemacht. Dafür hatte ich eine katastrophale Schulbildung. Mein Abi musste ich mit 23 nachholen. Manchmal habe ich Kommilitonen gefragt: "Krass, wo hast du das gelernt?" Und sie sagten: "Na, in der achten Klasse." Ich habe erst in Marburg kapiert, dass vieles an meiner Jugend anders war. Zum Beispiel, dass es nicht normal war, mit dem Messer zur Schule zu gehen.

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Ist es eine Illusion, dass wir in Deutschland alle gleiche Chancen haben?
Deutschland ist ein gutes Land. Aber echte Chancengleichheit gibt es hier nicht. Wenn du schlecht in der Schule bist und deine Eltern Kohle haben, zahlen sie dir Nachhilfeunterricht. Wenn deine Eltern keine Kohle haben, bist du halt gefickt, hast einen schlechten Abschluss und kommst nicht weit. Ich finde es auch erschreckend, wie wenig an den Unis über Klasse gesprochen wird. Inzwischen sind wir alle für Rassismus und Sexismus sensibilisiert. Aber dass von deiner Herkunft abhängt, was aus dir wird, darüber habe ich an der Uni kaum etwas gelesen, außer vielleicht bei Marx.

Warst du neidisch auf deine Kommilitonen?
So gut wie alle waren deutsche Mittelschicht-Akademiker-Kinder. Bei denen war ab der Geburt klar: Der Sebastian studiert später Jura. Sie hatten einen viel straighteren Lebenslauf als ich. Aber neidisch – nein. Sie kennen nur eine Realität. Ich kenne zwei. Mein Vater hatte keine Arbeit und hat uns drei Kinder allein großgezogen. Als Familie waren wir immer von staatlichen Leistungen abhängig. Aber auch wenn wir unter der Armutsgrenze gelebt haben, ich fühlte mich nicht arm. Weil mein Vater es wirklich gut gemacht hat. Und weil es den anderen um mich herum genauso ging. Ich denke auch, dass die Situation in Deutschland immer noch besser ist als zum Beispiel in französischen Banlieues. Hier hat man die Chance rauszukommen. Ich hatte es wahrscheinlich auch einfacher. Ich bin ja immer noch ein weißer Deutscher in Deutschland. Sobald ich aus Neukölln raus war, war das ein großer Vorteil.

Welche Neukölln-Klischees nerven dich?
Mich nervt, wenn jemand sagt: He, Neukölln, das ist gar nicht so schlimm. Ich war da erst neulich in der Oderstraße Kaffee trinken, das war voll nett. Viele wollen nicht wahrhaben, dass harte Bezirke mit Armut, Dreck und Kriminalität auch in Deutschland existieren. Auf der anderen Seite nervt auch dieses: Neukölln, voll die Katastrophe, voll das Ghetto, alles scheiße, alles brutal. Neukölln ist einer der größten Bezirke Berlins und unglaublich divers. Und selbst in den harten Gegenden hat man ein normales Leben. In meinem Roman wollte ich zeigen, dass die Jungs trotz all dem Scheiß versuchen, Spaß zu haben und die Nummer eines Mädchens zu kriegen.

Warum willst du nicht erzählen, wo genau du in Neukölln aufgewachsen bist?
Ich habe immer noch Familie da. Und sehr viele Sachen sind zu nah an der Wahrheit dran, als dass es eine gute Idee wäre, den genauen Ort zu nennen. Es ist kein autobiografisches Buch. Ich bin nicht Lukas, aber es gibt viele Parallelen. Vieles ist mir oder meinen Freunden so passiert. Die Szene im Buch, in der ein Typ in der U-Bahn abgestochen wird, weil ein Idiot seine Freundin anmacht – das ist zwar nicht in der U-Bahn passiert, aber geschehen ist es.

Die Verbrechen in Neukölln, von denen man momentan am häufigsten liest, sind Neonazi-Übergriffe. Seit vergangenen Sommer gab es 80 Brandsätze, Körperverletzungen und Drohungen. Die Koordinierungsstelle der Berliner Register, die rechte Gewalt in Berlin dokumentiert, spricht von einer Welle von Einschüchterungen, wie es sie in keinem anderen Bezirk gebe. War das vor zehn Jahren schon abzusehen?
Selbst für mich als blonder Deutscher, der deshalb oft eins auf die Schnauze bekommen hat, war Naziwerden nie eine Option. Es gab schon immer mal ein paar Vögel am U-Bahnhof Rudow, aber die hatten nie was zu melden. Nazis waren halt die Trottel mit den Scheißklamotten. Die türkischen Jungs waren besser angezogen, hatten den cooleren Slang und die Mädels. Ich wollte eher sein wie sie.

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