Die unschätzbare Weisheit weiblicher Schamanen in Russland
All photos by Anastasia Ivanova

FYI.

This story is over 5 years old.

Fotos

Die unschätzbare Weisheit weiblicher Schamanen in Russland

Die russische Wildnis von Tuwa ist bis heute die Heimat weiblicher Schamanen—und ein Besuch bei der örtlichen Heilerin ist so alltäglich wie ein Tag am Strand.

In Südsibirien an der Grenze zur Mongolei liegt die russische Republik Tuwa, Heimat alter schamanistischen Traditionen, ausgeübt von Frauen wie auch von Männern. Versteckt hinter dem Sajangebirge zieht Tuwa eine Vielzahl von Besuchern an, aufgrund der einzigartigen Landschaft, aber auch weil sie auf der Suche nach den Orten kosmischer Energie sind und an Ritualen teilnehmen wollen. Die russische Fotografin Anastasia Ivanova kam zum ersten Mal nach Tuwa, als sie gerade in London studierte und eine Arbeit über Künstler schrieb, die sich selbst als Schamanen und kulturelle Heiler bezeichnen. Berauscht von der Landschaft, Freudenfeuern und sakralen Gesängen, kommt sie seither immer wieder dorthin zurück.

Anzeige

„Ich bin bereits zum dritten Mal in Tuwa: Das erste Mal bin ich hierher gekommen, um Schamanen zu fotografieren, später bin ich zurückgekommen und sie zu besuchen, verschiedene Orte zu bereisen, die ich lieben gelernt habe und Sprechgesängen zu lauschen", erinnert sie sich. „Hierher zu kommen ist nicht einfach: Tuwa liegt mitten im Sajangebirge und der einzige Weg hierher, führt über eine Route durch die benachbarte Republik Chakassien. Es gibt nicht einmal von Russland aus reguläre Flüge nach Kyzyl, die Hauptstadt Tuwas."

Russland wird oft als ein sehr weißes und christlich-orthodoxes Land gesehen, doch innerhalb des riesigen Territoriums gibt es eine Vielzahl an Religionen, Kulturen und Glaubensrichtungen, von organisierten Religionen wie dem Buddhismus und dem Islam bis hin zu den Riten der Mari, die zu den letzten Heiden Europas gezählt werden. Spirituelle Praktiken existieren in Tuwa seit Jahrhunderten als Teil der ursprünglichen lokalen Tradition.

„Schamanismus ist offiziell anerkannt und gilt nicht als Sekte oder Kult", sagt Ivanova. „Während der Sowjetzeiten waren die Rituale verboten, trotzdem wurde die Tradition weitergegeben und richtete sich Mitte der 90er Jahre wieder vollständig auf dank Mongush Kenin-Lopsan, der heute der höchste Schamane in der Republik und ein angesehener Historiker, Autor und Poet ist. Dieses Jahr wird er 90 Jahre alt."

Für die Menschen in Tuwa spielen Rituale eine wichtige Rolle für das tägliche Leben und Schamanen sind ein wesentlicher Bestandteil für das Leben in der Gemeinschaft. Der Übernatürliche und der Alltag sind eng miteinander verflochten. „Ein Besuch bei einem Schamanen ist allgemein üblich", sagt Ivanova. „Einige kommen von weither, um einen bestimmten Schamanen zu sehen. Normalerweise fragen Leute nach Ritualen, die ihnen Gesundheit, Reichtum und Glück, Kinder oder Wohlstand für die Familie oder Schutz vor den Geistern der Krankheit bringen sollen."

Anzeige

„Einmal stand ich in einer Schlange an, um Kenin-Lopsan zu sehen und traf dort zwei tuwinische Frauen aus einem winzigen Dorf. Sie sind von weither angereist, weil ein paar Tage zuvor ein Vogel in das Haus von einer der beiden geflogen war und sie den Schamanen Fragen wollten, was das bedeuten könnte. Einheimische können die Schamanen mit Essen, Milch, Fleisch oder was sie eben haben bezahlen. Heutzutage sind Schamanen voll organisiert, haben Preislisten und ein Büro. Sie benutzen Mobiltelefone in ihrem täglichen Leben, trinken Cola und leben in einem gewöhnlichem fünfstöckigen Wohnblock oder in einem Haus auf dem Dorf, nichts außergewöhnliches."

Dennoch umgibt die Kultur der Schamanen immer noch eine mystische Anziehungskraft. „Am meisten fasziniert mich das rhythmische Trommeln und die Gesänge und die Kostüme, die die Schamanen meist selbst machen: Einige tragen Adlerfedern, andere Bärenpfoten oder Fuchsschwänze. Schamanen sind echte Künstler; es gibt viele Bücher darüber."

Es gibt sowohl weibliche als auch männliche Schamanen in Tuwa. Auf ihrer ersten Reise traf Ivanova die Schamanin Tatiana, die zu einem von Ivanovas liebsten Fotomotiven wurde. „Tatiana spricht sowohl Russisch als auch Tuwinisch und sie ist eine wahre Schatzkammer an Mythen, Legenden, Sagen und allerhand östlicher Weisheiten. Man kann sie alles fragen und bekommt überragende Antworten auf jede Frage. Sie hat mir beeindruckende Orte gezeigt und mir ihre Legenden erzählt."

Anzeige

„In der Welt der Schamanen hat jeder Fels, jeder Berg und jeder Fluss eine eigene Geschichte und Bedeutung. Ich habe eines ihrer Rituale auf dem heiligen Berg Khaiyrakan gefilmt. Die Atmosphäre dort ist wie aus einer anderen Welt. Der Fuß des Berges besteht aus speziellen Mineralien und Erzen, die magnetische Felder erzeugen, weshalb die Zeit dort anders vergeht als auf dem Rest der Welt."

Die tuwinische Gesellschaft ist ein großartiges Beispiel dafür, wie alte schamanistische Traditionen im zeitgenössischen Kontext existieren können und ein Bewusstsein für das nationale Erbe und für den Erhalt der Natur schaffen. Die Landschaft der Republik ist gekennzeichnet durch heilige Orte, die äußerst wichtig sind für die Praktiken der Schamanen und die allgemeine Verehrung. „Jeder Schamane hat seinen eigenen Ort. Einen Baum, einen Feld, einen Berg oder einen Bach—ein Ort, auf den sie gestoßen sind, als sie beschlossen haben, Schamane zu werden und an den sie zurückkehren, um wichtige Rituale zu vollziehen", sagt Ivanova.

„Darüber hinaus gibt es auch Orte allgemeiner Verehrung mit verschiedenen Funktionen. Es gibt Orte der weiblichen Energie, zu denen Frauen gehen, um um ein Kind zu bitten, falls sie Probleme haben, schwanger zu werden und Spielsachen und Essen für die Geister mitbringen. Dann gibt es Orte, die Wohlstand, Gesundheit und Mut bringen. Es gab einen Punkt, an dem ich viele Spielzeugautos gesehen habe—ich vermute, das war ein spezieller Ort, an dem Leute die Geister um ein neues Auto gebeten haben."

Anzeige