Zürich kam mir in den ersten Monaten unglaublich cool vor. Zu cool für mich. Aber auch zu cool für die echt coolen Leute, die ich bis dahin kannte. Und das hat nach sechs Monaten Aufenthalt in San Francisco etwas zu bedeuten. Mein Mitstudent Flavio, ebenfalls schwul, sah aus und verhielt sich so, als ob er der beste Freund von Cara Delevigne sei. Und ich kaufte es ihm ab. Jede einzelne Faser seiner 200-Franken-Skinny-Jeans schrie praktisch: “8000 Zürich!”. Mein türkiser H&M-Pulli schrie eher: “Sommerschlussverkauf—alles muss raus!”
Flavio war zwar nett zu mir aber trotzdem fühlte sich unsere Beziehung wie Almosen an. Du darfst mit mir abhängen, reden, rauchen. Du darfst. Er war einer dieser Kerle, die selbst fürs Schwulsein zu cool waren. Nie hätte er sich in altbekannten Schwulenkneipen wie der Magnusbar, der Männerzone oder in sonst einem Fetischschuppen blicken lassen, weil ihm die zu trashig waren. Sein Sushi hätte er nie im Barfüsser im Niederdörfli gegessen, da ihm das zu Mainstream war.
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Ich fand das immer irgendwie schade. Mein Selbstwertgefühl war zu dieser Zeit auf einem Rekordtief, da ich frisch geoutet war. Ausserdem hatte ich keine Ahnung von der Gay-Szene in Zürich. Die einzigen Berührungspunkte mit anderen Schwulen hatte ich dank Grindr und Gayromeo. Genau deshalb wäre ich eigentlich gerne in diese “Spelunken” gegangen. Einfach so, um überhaupt einmal dort gewesen zu sein, an Orten, die zu 100 Prozent schwul sind.
Inzwischen weiss ich, dass mir diese Bars auch nicht unbedingt zusagen. Dazu beigetragen hat an dem einen Abend, an dem ich doch einmal da war, ein Typ mit Hundeledermaske, der sein Bier so trank, wie ein Hund es aus seinem Fressnapf trinkt, hin und wieder “bellte” und schlussendlich von seinem älteren “Master” an der Leine abgeführt wurde. Heute weiss ich, dass genau diese Freak-Show von damals ein schönes Beispiel für etwas war, das in der vielseitigen LGBT-Community gross geschrieben wird: Leben und leben lassen. Niemand hat sich wirklich für den Hundemann interessiert—ausser mir.
Du siehst: Ich war anfangs sehr eingeschüchtert von der Stadt. Das war vor drei Jahren. Ich fühlte mich wie das Landei, das in die grosse, weite Welt zieht, dabei bin ich selber in einer grösseren Schweizer Stadt aufgewachsen—in Basel, um genau zu sein.
Das Hipstertum hatte modisch und gesellschaftlich gerade seinen Höhepunkt erreicht, was man in Zürich wohl mehr als sonst irgendwo in der Schweiz spürte. Alles war sehr alternativ und ach so unkonventionell. Man lehnte grundsätzlich alles ab, was Mainstream war, ohne zu merken, dass man dabei einen neuen Mainstream erschuf. Hier zu erwähnen, man möge Britney Spears oder den Eurovision Songcontest erschien mir wie gesellschaftlicher Selbstmord. Also tat ich das (nach ein paar Ausrutschern) nicht mehr.
Heute schallt das Gewinnerlied des Songcontests alljährlich von meinem Balkon, während ich mit gespitzten Lippen vor meinem Spiegel tanze oder versuche, den perfekten Conchita-Hand-Move zu machen. Ja, das Selbstvertrauen eines 25-Jährigen ist grösser als das eines frisch geouteten 21 Jahre alten Burschen, der einer patriarchalischen Familie entstammt.
Noch einschüchternder als die Stadt selber waren aber die Typen, die in ihr lebten. Unantastbare Fabelwesen, die Perlen zu scheissen und Kaviar zu weinen schienen. So gaben sie sich jedenfalls. Und ich, jung und naiv, kaufte ihnen das ab. Mit ihnen befreundet zu sein, geschweige denn eine heisse Nacht mit einem (oder mehreren) von ihnen zu verbringen, war unvorstellbar.
Das gab mir das Gefühl, echt unattraktiv zu sein—was meinem angeknickten Selbstvertrauen noch den Rest gab. Auch mein erster Gay-Ausgang war ein Reinfall. Flavio brachte mich dazu, mit ihm an das Opening einer neuen Partyreihe in der Pfingstweide zu gehen. Die Party war toll. Gute elektronische Musik, tolles Ambiente. Das Motto der Party: No Divas.
Die Wände zierten Poster auf denen knackige Jungs Bilder von Christina Aguilera, Madonna, Katy Perry und ihren Kolleginnen verbrennen und zerreissen. An sich eine geniale Idee, wollte doch die Partyreihe eine Alternative zu den White- und Blackpartys schaffen, auf denen die Musik besagter Damen bis zum Umfallen gespielt wird. Die Berghain-ähnliche Atmosphäre gefiel mir zwar, trotzdem ging ich, vermutlich gerade deswegen, neben all den stylishen Jungs unter.
Dass ich mit Flavio unterwegs war, half da reichlich wenig. Notiz an mich selbst: Wenn du dich eh schon so ansehnlich wie ein gebrauchtes Kondom fühlst, dann geh um Himmels Willen nicht mit einem gutaussehenden Kommilitonen in ein Meer voller schöner Männer in den Ausgang. Weitere Notiz: Lass dich von ebendiesem Kommilitonen nicht dazu überreden, einen Kerl anzusprechen. Wenn du unsicher bist, wird es in die Hose gehen. Bestimmt.
An diesem Abend meinte Flavio etwa, ich solle den einen Glatzkopf an der Bar ansprechen. Also ging ich, wackelig auf den Beinen wie ein Fohlen, das eben erst das Licht der Welt erblickte, an die Bar. Ich stellte mich neben ihn, sprach ihn mit einem “Hi” an und schüttete dabei etwas Bier aus. Er antwortete mit einem “Hi”, musterte mich ganz kurz, schenkte mir einen etwas bemitleidenden Blick, drehte sich um und ging.
Ich brauchte danach etwas Abstand vom ganzen Züri-Zirkus. Was mir half, diese Distanz zur Szene einzunehmen, war vermutlich meine frische, monogame Beziehung zu einem Nicht-Zürcher. Ich hatte keinen Grund mehr, mich der Stadt und ihrem gesellschaftlichen System anzupassen, da ich kaum ein Wochenende mehr hier verbrachte. Trotzdem wohnte ich hier und konnte mich Schritt für Schritt an das ganze Geschehen herantasten. Wenn ich auf Partys ging, dann meistens mit meinem festen Freund. Wohl weil ich mit ihm nicht mehr unsicher und verzweifelt wirkte (ich hatte ja meinen “Mann fürs Leben”), fingen die Zürcher plötzlich an, sich für mich zu interessieren. Ich wurde selber eines dieser unantastbaren Einhörner, ohne es überhaupt zu wollen. “Hard to get” verkauft sich eben gut.
Da ich mittlerweile wieder Single bin, konnte ich mein Einhornverhalten ablegen und mich selbstbewusst und voller Tatendrang ins Geschehen stürzen. Ich erkannte so, dass vieles in der Gay-Szene mehr Schein als Sein ist und Zürich gefällt mir mittlerweile echt gut. Ich kann frei sein, mit Jungs auf der Strasse rumknutschen, auf der Werdinsel nackt sonnenbaden und dabei fremde Pimmel begutachten.
Das unantastbare Getue Vieler ist und bleibt mir jedoch ein Dorn im Auge. Manchmal ist dieses Verhalten gekoppelt mit einem “fierce” Styling—überlangen T-Shirts, zerissenen Jeans und natürlich so einem Pfadfinderhut. Geschöpfe, die sich so kleiden und verhalten, nenne ich gerne “Fashion-Fags”: Junge (oder eben nicht mehr so junge) Typen, die sich als Fashion-Blogger, Fashion-Versteher, Fashion-Fotografen, Fashion-was-weiss-ich sehen und sich auch so geben. Diese Jungs sind aber nicht mit den vielen grandiosen Dragqueens zu verwechseln, ohne die ich mir eine waschechte Schwulenfete gar nicht vorstellen könnte (lang lebe Newcomerin Vicky Goldfinger!).
Die Fashion-Fags sind ein Phänomen für sich. Sie folgen jedem Trend, versuchen via Instagram Neue zu setzen und scheitern meistens kläglich. Abseits der sozialen Medien sind sie keine Stylisten, sondern arbeiten in der Frauenabteilung im C&A und räumen die Wühltische auf. Was nicht verwerflich ist—aber eben auch nicht fashion. Was übrig bleibt, ist ein Haufen junger Männer mit Lidstrich und voller Komplexe. Trotzdem wäre es ohne die Fashion-Fags schon etwas langweilig und eintönig.
Doch bevor ich diese kleine Minderheit für all das Übel in der Gay-Szene verantwortlich mache: Der Ottonormal-Schwule ist nicht viel einfacher. Der Hase läuft folgendermassen: Wenn dir jemand gefällt, sprichst du ihn an. Denn er wird es vermutlich nicht tun. Viel zu oft gab es beim Clubbing intensiven Augenkontakt, ohne dass danach etwas Konkretes passierte—bis ich zu Hause ankam und auf Grindr Nachrichten hatte wie: “Hey warst du vorhin im Heaven?”.
Danke, jetzt bin ich zwar spitz aber schon weg. Und betrunken. Den Typen danach noch zu dir in die Wohnung zu bestellen, ist nicht dasselbe. Für mich jedenfalls nicht. Die Angst, einen Korb zu bekommen, ist bei vielen scheinbar grösser, als der Wille, sein Glück zu versuchen und eventuell eine tolle Nacht mit jemandem zu verbringen. “I’m not going to find my orgasm in this town”, höre ich nun meinen Freund Cedric Samantha Jones aus Sex and the City zitieren.
In anderen Städten Europas fühlt sich das irgendwie immer ungezwungener an. Man spricht einander an und wenn’s nicht passt, dann ist es eben so. Niemand ist sauer oder verletzt in seinem Stolz. Die Sorge, abzublitzen und dann blöd dazustehen, scheint in der Schweiz doch mehr ein Thema zu sein als sonst wo. Vielleicht weil der Schwulenkreis hier noch kleiner und konzentrierter ist als sonst wo. Oder vielleicht läuft’s in anderen Städten genauso ab und ich hatte bisher einfach nur den Touristen-Bonus und wurde deshalb vernascht. Ich weiss es nicht. Was ich weiss, ist, dass die Ausnahme die etwas älteren Kaliber bilden. Die Ü-35er wirken offener und gelassener. Und um ehrlich zu sein, sind sie auch besser im Bett.