Politik

Hört auf zu behaupten, die 1920er würden sich wiederholen

Ja, 'Babylon Berlin' läuft wieder an. Aber wer nun fragt, ob 2020 eine neue Version von 1920 ist, wünscht sich finstere Zeiten zurück.
2020 Babylon Berlin
Foto: imago images | Prod.DB

Die Rückkehr der 20er lässt sich kaum bestreiten. Charleston, Bubikopf, Mottopartys. Jetzt kommt noch die dritte Staffel von Babylon Berlin: Revuemädchen, Revolvermänner, Revolverfrauen. Glänzendes Neonlicht auf nassem Asphalt. Wenn es nicht so abgedroschen klingen würde, könnte man auch sagen: Die 1920er Jahre sind in Mode. Das ist in Ordnung – oder auch nicht, egal. Richtig gefährlich ist aber die beliebte Feststellung, dass die 20er "wiederkommen".

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Der Vergleich der 1920er mit dem jetzt angebrochenen Jahrzehnt wird allzu gerne gewählt. "Sind die 20er Jahre und die Gegenwart vergleichbar?" hat so oder so ähnlich gefühlt fast jede Zeitung und jedes Onlineportal schonmal gefragt. Historikerinnen und Historiker geben sich für geschichtliche Analogien her und lange Interviews, in denen sie darüber diskutieren, ob Geschichte sich wiederholt. Das Problem dabei ist: Der Vergleich droht so zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden.

Auf den ersten Blick, so von weit oben, gibt es ja Parallelen. Eine durch nervenaufreibende Jahre verunsicherte Bevölkerung wählt immer mehr politische Radikalinskis in die Parlamente, glaubt immer weniger an die Demokratie, wird stellenweise zu einem unsolidarischen, fiesen Haufen. So weit lässt sich das sowohl für die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sagen als auch für die Gegenwart. Damals endete alles in der beispiellos beschissenen Nazi-Diktatur.

Nun kann niemand wissen, wie die 20er dieses Jahrhunderts enden, ob wir in zehn Jahren unter der harten Knute von Gröfaz Höcke unsere minderbemittelte Existenz damit aufwerten, irgendeine Minderheit zu ermorden. Das Schlimme an den 1920ern ist ja nicht das "goldene" Jahrzehnt selbst – obwohl es da genug Armut, politische Morde und menschenfressenden Kapitalismus gab –, sondern das, was daraus hervorgegangen ist.

Wir leben in besonders lahmen Zeiten

Der Kern der Die-Geschichte-wiederholt-sich-Hypothese liegt darin, dass viele Menschen glauben, in besonders aufregenden Zeiten zu leben. Das mag der eine oder die andere so empfinden, Gefühle sind gratis, aber tatsächlich sollte die Ausgangslage diskutiert werden. In den 1920er Jahren hatten die Deutschen gerade einen Weltkrieg verloren, den sie auch noch selbst angezettelt hatten, waren die Straßen voller Kriegskrüppel, die Bankkonten leer, der bis vor wenigen Jahren fast gottgleiche Kaiser verjagt.


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Heute wirkt Deutschland politisch sediert. Entscheidende Fragen werden nicht einfach nur nicht mehr beantwortet, sondern nicht mehr gestellt, und wenn sie doch brachial ins Haus fallen, wie die Klimakrise, gibts ein "Klimapaket", das diesen Namen nicht verdient. In den 1920ern war Deutschland eine offene Wunde. 100 Jahre später sitzt der Verband so fest, dass er nicht einmal aufgeschnürt wird, wenn der Patient darunter zu ersticken droht.

An der Klimakrise lässt sich auch gut ablesen, dass die 20er Jahre dieses Jahrhunderts nicht nur keine Wiederholung sind, sondern eher das genaue Gegenteil der Situation von 1920. Damals lief Deutschland geradezu über vor Utopien, linken Utopien, rechten Utopien, demokratischen Wachträumen, alles schien möglich und verhandelbar. Heute löst nicht einmal eine existenzielle Klimakrise genügend Menschen aus ihren Sitzen, um wirklich etwas zu verändern. Statt Wahnsinn durch Wandel lautet das Motto: Stillstand um jeden Preis.

Selbst die radikale neue Partei, die ganz Deutschland aufrüttelt, will ja nicht in irgendeine ungeahnte Zukunft. Sie kämpft darum, weite Teile des gesellschaftlichen Fortschritts der vergangenen einhundert Jahre wieder abzuwickeln. Abgesehen davon, wie schlimm ihre Ideen sind, sind sie eines nicht: neu.

Krise? Welche Krise?

Hinter der Frage, ob die 1920er wiederkommen, liegt wohl die steile These, dass die vergangenen 30 Jahre seit der Wiedervereinigung für Deutschland und Europa so nervenaufreibend waren wie die Zeit um den Ersten Weltkrieg herum. Das dient nur denen als Rechtfertigung, die heute rechtsradikale Parteien in Parlamente wählen. Deutschland ist in 30 Jahren von einem piefig-rassistischen Kleingartenverein zu einem normalen westlichen Einwanderungsland geworden. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wer sagt, dass diese Umwälzung mit dem Epochenbruch des Ersten Weltkriegs auch nur annähernd vergleichbar ist, wünscht sich auch die alten Zeiten zurück. Das ganze Gerede um die Demokratiekrise in Deutschland dient letztlich dazu, Demokratie fertigzumachen.

Glücklicherweise gibt es heute ganz andere Möglichkeiten, mit Krisen fertig zu werden. Als 1929 die Weltwirtschaft zusammenbrach, erhängten sich die Broker an ihren Krawatten, sprangen Anleger aus den Fenstern und mussten entlassene Arbeiterinnen hungern. So beginnt übrigens auch die dritte Staffel von Babylon Berlin. 2008 erlebten Deutschland und die gesamte Welt eine gewaltige Wirtschaftskrise, wer aber damals nicht gerade seinen Job verloren hat, was Hierzulande nicht so vielen Menschen passiert ist, kann wahrscheinlich nicht einmal mehr sagen, welche Auswirkungen diese Krise für sie oder ihn hatte. 1929 und 2008 miteinander zu vergleichen wäre bizarr.

Bisweilen scheint die Lust an der Frage, ob Geschichte sich wiederholt, eine Lust am eigenen Niedergang widerzuspiegeln. So wenig los heutzutage. Irgendwie kribbelt es nicht mehr. Wann kommt endlich wieder ein ordentlicher Diktator um die Ecke?

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