Politik

Dieser ukrainische Blogger ruft russische Mütter an, wenn ihre Söhne gefallen sind

Eigentlich müsste Putins Armee Angehörige über Tote und Gefangene informieren.
Links ist ein verpixeltes Bild zu sehen, von Soldaten, die in Trümmern liegen und rechts ist ein Webcam-Foto des Fotobloggers
Collage: VICE (Verpixelung durch Redaktion)
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Mit dick verbundenem Knie kriecht ein russischer Soldat über den Asphalt. Neben ihm liegen zwei tote Kameraden, ihre Leichen sind voller Blut. Aus dem Off fragt eine Stimme: „Warum bist du hergekommen, du Bastard?“ Der Soldat antwortet: „Ich habe nicht einmal einen Schuss abgegeben. Dort hinten liegt mein Gewehr.“ Unter dem Video steht: nicht identifiziert.

Ein anderer Post zeigt den Soldatenausweis eines Ilja K. (Anonymisierung durch uns), in solchen Ausweisen sind in der russischen Armee Dienstgrad, Einsatzort und weitere Details eines Armeeangehörigen vermerkt. Unter dem Post steht: vermutlich tot.

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Zahlreiche Posts zeigen Bilder von Toten, die im Matsch oder im Schnee liegen, mit zerfetzten Körpern. Unter den Posts stehen oft ihre vollen Namen, Geburtsdaten und Dienstnummern.

Selten war ein Kanal auf Telegram schwerer zu ertragen als „Ischi Svoich“ – „Such deine Leute“. Er zeigt Bilder und Videos russischer Soldaten in der Ukraine, die getötet, verwundet oder gefangen genommen wurden. Und doch ist dieser Kanal für viele russische Angehörige die einzige Quelle, um zu erfahren, was mit ihren Söhnen, Ehemännern und Brüdern passiert ist. Er hat 800.000 Abonnenten.


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Seit Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, tötet seine Armee nicht nur Soldaten und Zivilisten in der Ukraine. Auch in Russland lässt Putin Demonstrierende verhaften, Medien schließen und einen Informationskrieg führen, der nach Aussagen zahlreicher Angehöriger von Soldaten dazu führt, dass sie keinerlei Informationen mehr erhalten. Offiziell heißt der Krieg in Russland „Sonderoperation“ und dient dem Schutz der Ukrainer, eigene Verluste meldet der Kreml selten, sie passen nicht ins Bild.

Diese Lücke füllt der ukrainische Blogger Volodymyr Zolkin mit seiner täglichen YouTube-Sendung, in der er Angehörige anruft. Seine Sendung baut er unmittelbar auf dem Telegram-Kanal auf. Mit einer Mischung aus Information, Anklage und wütendem Dialog informiert er Angehörige einerseits darüber, wo ihre zumeist sehr jungen Söhne und Brüder stecken, fragt sie andererseits aber auch, was sie in Russland selbst tun, um gegen diesen Krieg zu kämpfen. Die Kontaktdaten der Angehörigen bekommt er von diesen selbst. Sie melden sich, weil sie die Ungewissheit nicht mehr aushalten. „Seit dem 24. ist sein Handy aus, ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich bekomme keine Antworten“, sagt etwa eine weinende Mutter live zu Zolkin. Er informiert sie, dass ihr Sohn am Leben, aber in Gefangenschaft sei. Die Mutter schluchzt.

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Der Moderator geht keineswegs zimperlich mit weinenden Ehefrauen und depressiv klingenden Vätern um, fordert sie auf, in Russland auf die Straße zu gehen und gegen den Krieg zu demonstrieren. Die meisten antworten ausweichend. „Ich mache alles, was in meiner Macht steht, diesen Krieg zu beenden“, sagt eine Frau. Auch die Bilder auf seinem Telegram-Kanal sind teilweise verstörend und werfen die Frage auf, wie zivilisiert mit den Leichen russischer Soldaten umgegangen wird.

Der mediale Kampf um Aufklärung und Meinungshoheit, der diesen Krieg kennzeichnet, bringt wie jeder Krieg Unmenschlichkeiten hervor - er ist aber in einem besonderen Maße ein Social-Media-Krieg. Moderator Zolkin, ein junger Mann mit kurzen Haaren, in schwarzem Hoodie und mit hörbarer Wut in seiner Stimme, bezeichnet schon mal alle Russinnen und Russen als degenerierte Zombies, die hirnlos einem verrückten Diktator folgen würden. Das oft deprimierte Schweigen am anderen Ende des Hörers – irgendwo in Russland – zeigt aber auch, wie brutal die Situation auf allen Seiten ist.

Einen großen Teil der Posts in dem Telegram-Kanal machen kurze Interviews mit gefangenen russischen Soldaten aus. Sie werden von ukrainischen Soldaten oder Freiwilligen aufgenommen, natürlich in Extremsituationen, lassen aber alleine wegen ihrer großen Anzahl Rückschlüsse auf diesen verheerenden Krieg zu. So sind die meisten russischen Soldaten sehr jung, wirken planlos, sie erzählen, dass sie keine Ahnung hatten, dass sie in einen Krieg geschickt werden sollten. Nicht einmal Einsatzbefehle hätten sie erhalten. Viele von ihnen erklären, dass sie sich in einer Übung wähnten. Sie hätten erst gemerkt, dass sie in der Ukraine sind, als sie ukrainische Nummernschilder auf den Straßen gesehen hätten.

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Auch wenn das sicher kein beabsichtigter Effekt ist, führt der Kanal auch dazu, Mitleid mit den Gefangenen auszulösen, die ja keine andere Wahl haben, als sich in den Videos vorführen zu lassen. Wenn etwa der 20-jährige Iwan aus einer Kleinstadt in Zentralrussland seinen Eltern ausrichtet, dass sie sich keine Sorgen machen sollen und es dabei nicht einmal schafft, ordentlich in die Kamera zu schauen, erscheint er nicht mehr als Teil einer Armee in einem verbrecherischen Krieg, sondern als einfacher Junge, der nur nach Hause will.

Telegram wäre nicht Telegram, wenn es nicht zu jedem kontroversen Kanal auch gleich eine Konkurrenz oder ein Fake geben würde. So taucht irgendwann der Kanal „Ischi Svoich 18+“ auf, der nach Auskunft der Macher des ursprünglichen Kanals nichts mit ihnen zu tun hat – aber viele ihrer Inhalte einfach kopiert. Eigene Inhalte werden dazu gestellt, was der Zweck der Kopie ist, bleibt oft unklar. Im rechtsfreien Telegram-Universum scheint das kein Problem.

In diesem zweiten Kanal taucht jedenfalls irgendwann ein Video auf, in dem ein Soldat aus einem Video des ursprünglichen Kanals zu sehen ist. Darunter steht jetzt, dass er Timofej heißt, 26 Jahre alt, auch alle anderen Informationen über ihn sind dort gelistet. In dem zweiten Video kriecht er nicht mehr über den Asphalt und erklärt, gar nicht geschossen zu haben, sondern bekommt ein Telefon in die Hand und soll seine Mutter anrufen. Er fragt sie, wie es ihr gehe, ob sie genug zum Leben habe. Sie antwortet, dass er sich mal um sich sorgen soll und nicht um sie, er sei doch in Kriegsgefangenschaft. Er bekommt dann von seinen Bewachern, die ukrainische Militärs oder Freiwillige sein müssen, gesagt, was er seiner Mutter sagen soll. „Unsere Leute bringen hier alle um“, spricht er in den Hörer Worte nach, die er vorgesagt bekommt. „Erschießen sie einfach“, bekommt er vorgesagt und sagt: „Erschießen sie wahllos. Alle.“

Dann sagt sein Bewacher, Timofej solle seiner Mutter ausrichten, dass die Russen in der Ukraine absichtlich Kinder und Frauen ermorden würden. Timofej schaut eindringlich zu seinem Bewacher, in die Kamera, er bittet mit seinem flehenden Blick um Milde. Kurz herrscht Stille. Dann sagt er ins Telefon: „Mama, ich liebe dich.“ Das Bild wird schwarz.

Eine Botschaft hat Moderator Zolkin immer wieder für russische Soldaten und deren Angehörige. Er hätte herausgefunden, dass die Höchststrafe für Deserteure aktuell bei sieben Jahren Gefängnis liege. Er fordert die russischen Soldaten auf, umzukehren und zurück in ihr Land zu gehen. Sieben Jahre seien nicht ohne, erklärt Zolkin. Aber immer noch besser, als in einem sinnlosen Krieg zu sterben.

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