Sein Auftritt gegen Polen hat mal wieder gezeigt: Gegenwärtig ist Jerome Boateng der eleganteste Verteidiger der Welt.
Defensivspieler sind eine Spezies Mensch für sich. Wer wird schon gerne Verteidiger, wenn das Spiel davon lebt, das Tore geschossen und nicht verhindert werden? Wer verzichtet freiwillig auf den Ganzkörperorgasmus eines Torjubels, nur um hinter der Mittellinie stehend die Szene aus 50 Meter Entfernung zu beobachten? Und warum hat Jerome Boateng sein Talent damals in den Käfigen zwischen Charlottenburg und Wedding nicht dafür eingesetzt, heute einer der besten Stürmer der Welt zu sein?
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Verteidiger, ob Bolzplatz, Kreisliga, Europameisterschaft, stellen sich solche Fragen natürlich nicht. Sie fragen zurück: Kennst du das Gefühl, wenn du mit deiner Grätsche im letzten Moment eine Torchance vereitelst? Wenn die Gegenspieler an Dir abprallen, du ihnen den Raum und damit die Luft zum Atmen nimmst? Wenn du so verteidigen kannst, wie Jerome Boateng?
Tore schießen auch für Deutschland andere als Boateng. Wenn man sich auch gegen Polen gewünscht hätte, dass Löw irgendwann Boateng nach vorne geholt hätte. Dem Mann fällt doch auch sonst immer eine elegante Lösung für Probleme ein.
Was die Eleganz der Defensivkunst angeht, spielt Boateng in einem eigenen Level. Keiner seiner Kollegen vereint so sehr den Mix aus physischer Panzerschrankigkeit, technischer Finesse und spielentscheidender Entschlossenheit. Gegen Polen wurden Boatengs Fähigkeiten auf die Probe gestellt, sein Gegenspieler war der Münchener Vereinskollege Robert Lewandowski, vielleicht der eleganteste Stoßstürmer seiner Generation. Beide, Lewandowski und Boateng, sind Meister des Zweikampfs. Jeder auf seine Art, beide ganz und gar nicht unbeholfen – doch wenn solche Athleten aufeinander prallen, zittert der Boden, fällt Staub von der Decke. Einmal, es war die beeindruckendste Szene des Spiels und das bislang beste Tackling des Turniers, bekam Lewandowski den Ball per Zufall vor die Füße gelegt und hatte freie Bahn auf dem Weg zu Manuel Neuer. Doch gerade, als den Ball aufs Tor befördern wollte, flog von der Seite Boateng heran und erwischte das Spielgerät mit dem Fuß. Bämm, Angriff erfolgreich abgewehrt. Diese Szenen gehen unter die Haut wie kreative Spielzüge oder gewaltige Tore.
Was Boateng dann aber wirklich so elegant erscheinen lässt ist neben seinem sorgfältig gepflegten Rapper/Modell/Vorzeigeathlet-Erscheinungsbild seine Fähigkeit, bessere Pässe zu schlagen als Spielmacher in der zweiten Liga. Ob scharfe Flachpässe ins Zentrum oder lange Seitenwechsel—gegen Polen bekamen die ansonsten eher nur dürftig versorgten Fans die ganze Palette der Boatengschen Pass-Kunst zu bestaunen. Einmal war sein Ball von rechts nach links vorne so lange unterwegs, dass sich Boateng auch kurz noch einmal etwas Öl ins Haar hätte schmieren können, um dann die erfolgreiche Ankunft seiner Luftpost zu erleben.
Wer so verteidigen kann, wie Boateng, der muss auch kein Stürmer werden.