Kanye Wests aktuelle Tour ist das beste Konzert, das du nie sehen wirst

Hast du je daran gedacht, wie es wohl wäre, von Aliens entführt zu werden? Also allein aus rein logistischen Gesichtspunkten. Überleg mal, was es bedeutet, ein Raumschiff zu sehen, das groß genug ist, um von einem Sonnensystemen zum anderen zu reisen, einen Planeten wie die Erde zu besuchen und jetzt über dir zu schweben. Plötzlich gehen die Scheinwerfer an—eine Reihe nach der anderen. Als würdest du unter einem Fußballstadion stehen. Und dann dieser Lärm. Das Tosen des Antriebs, das Zischen des Druckausgleichs und dieses schrille Kreischen, wenn Metall an Metall reibt.

Es gibt diesen einen Augenblick bei Kanye Wests momentan laufender Saint Pablo Tour, der dich dieser Erfahrung extrem nahe bringt. Es ist tatsächlich fast so, als würde ein Raumschiff an eine Raumstationen andocken. Während du nach Luft schnappend—entweder hast du gerade hart gemosht oder versucht, den kompletten Text von „Power“ mitzurappen, oder beides—auf dem Hallenboden stehst, hängt dieses Lichtkonstrukt über dir. Aus den Boxen erklingt ein Ambient-Track. Das Gebilde über dir ist ungefähr so groß wie ein Basketballfeld und schwebt mitten in der Halle über dem Publikum. Dann beginnt es, geräuschvoll seinen Winkel zu ändern. Für einen Moment vergisst du das Atmen komplett. Die Musik wird immer dramatischer. Du hast das Gefühl, in einem Film zu sein. Als wärst du gerade Zeuge davon, wie sich eine große, angsteinflößende und hochtechnisierte Präsenz zum ersten Mal zu erkennen gibt. Du bist mittendrin. Du bist Gefangener dieses Objekts. Die Menschheit erscheint dir in der Gegenwart dieses Stahlungetüms unfassbar klein. Bis auf Kanye natürlich. Der schwebt mitten im Saal auf einer Plattform etwa vier oder fünf Meter über dem Boden. Er beginnt mit „Blood on the Leaves“. Der Beat kreischt wie Metall auf Metall und Kanyes Stimme hallt durch die Arena.

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Kanyes Musik hat sich im Laufe der Jahre dramatisch in Sound, Inhalt und Textur verändert. Er verfügt allerdings über ein unglaubliches Talent dafür, seinen neusten Output wie die natürliche Weiterentwicklung von allem klingen zu lassen, was davor war. In seinen Alben greift er die ungeschliffenen Ambitionen des Vorgängers auf, verfeinert und präsentiert sie in herrlichem HD. In Late Registration brachte er die orchestrale Anwandlungen zum Vorschein, die sich bereits unter der Oberfläche von College Dropout erahnen ließen; My Beautiful Dark Twisted Fantasy verfestigte das noch unscharfe Ego-Porträt, das durch 808s and Heartbreak geisterte. So ging das immer weiter. Jetzt spielt Kanye hier im Madison Square Garden „Wolves“ und unter diesem schrägen Dach des Lichtgitters, umringt von gigantischen Lautsprechern, wird plötzlich sämtliche Musik seiner Vergangenheit in den Mittelpunkt gerückt. Die dystopische Zukunftsvision von Yeezus war tatsächlich nur ein flüchtiger Blick auf dieses industrialisierte Ungeheuer gewesen. Offensichtlich ist das, was wir jetzt vor uns sehen, genau das, was Kanye die ganze Zeit vorhatte.

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26. August 2016


Dieses Weltraumding, das Gefühl, in einem Film zu sein, dieser Eindruck, dass dieses Spektakel in seiner Größe eigentlich nur von zwei kollidierenden Flugzeugträgern übertroffen werden kann—das alles ist Teil eines größeren Plans, die Unbedeutsamkeit des menschlichen Daseins und die unendliche Macht menschlicher Vorstellungskraft zu demonstrieren. Zwischen den Liedern spricht Kanye nicht viel, aber man kann sich fast vorstellen, wie er die Erfindung des Stahlträgers mit der der E-Gitarre vergleicht. Beide Dinge sind größer als jeder von uns. Und größer als wir ist definitiv das, was ein Konzert sein sollte—vor allem eins von Kanye West, dem momentan wohl größten Rockstar der Welt. Im Gegensatz zu den einer Erzählung folgenden Spektakeln der „Glow in the Dark“- und „Yeezus“-Touren findet die Selbstdarstellung hier eher im Verborgenen statt. Den Großteil des Konzerts über wird Kanye kaum angestrahlt. Stattdessen bleibt er nicht viel mehr als eine Silhouette im rot-orangenen Nebel. Dieser Kontrast bringt die Größe seiner Musik, die enormen Ausmaße seiner hängenden Bühnenvorrichtung, die bedeutende Rolle des Menschen in seinem Zentrum zum Vorschein. Hast du dir je Gedanken darüber gemacht, was ein Konzert legendär macht? Was macht eine Veranstaltung zu einem dermaßen einschneidenden Erlebnis, dass man 30 Jahre später nachgemachte Tour-Shirts davon bei H&M kaufen kann? Kanye hat seine Hausaufgaben jedenfalls gemacht.

„Ich will, dass ihr euch in 20, in 30 Jahren, wenn ihr noch lebt, an diese Nacht, an diesen Moment erinnert“, sagte Kanye. Und das werden wir. Was kommt auch an diese Erfahrung heran, sich in einen Moshpit unter der Bühne zu stürzen, wenn der Beat von „Father Stretch My Hands Pt. 1“ einsetzt? Gibt es eine bessere Art, sich an „All of the Lights“ zu erinnern, als Puff Daddy inmitten der übrigen Promigäste und energetisch durch den Saal wirbelnden Teenager dazu tanzen zu sehen? Überhaupt, bei Kanyes „Saint Pablo“-Tour gibt es keinen abgeschlossenen VIP-Bereich, was Yeezy noch größer und alle anderen noch kleiner erscheinen lässt.


Wenn du unbedingt willst, kannst du das alles auf sein Ego schieben—klar, er fühlt sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sichtlich wohl—, aber Kanyes leitendes künstlerisches Prinzip ist, für den Fan das Maximum an Bedeutung herauszuholen. Wenn die endlose Schlange vor dem Merch-Stand irgendwie als Indikator dafür herhalten kann, dann funktioniert das vielleicht sogar einen Ticken zu gut. The Life of Pablo ist ein Album, in dem es weniger um konventionelle Songs als darum geht, Augenblicke ekstatischer Schönheit zu schaffen, die man in die Welt hinausruft und liebevoll genießt. Im Zeitalter der Streaming-Playlisten und Lifestyle-Brands gibt es unfassbar viel Musik, die einfach nur dafür da ist, um schnell vor dem nächsten Update konsumiert zu werden. Wir sind immer noch dabei, eine größere, existentielle Frage darüber zu klären, wie die Musik von heute in Erinnerung bleibt. Eine LP-Sammlung, die man an die Kinder weitergibt, gibt es in dieser Form nur noch selten. Kanye macht es genau richtig, indem er sagt, dass seine beste Hinterlassenschaft darin bestehen wird, wie er in unserer Fantasie weiterleben wird—siehe Woodstock oder Jimi Hendrix oder wie uns Filmszenen noch Jahre später durch das Unterbewusstsein flackern, wenn wir den Kontext schon lange vergessen haben. Warum sonst haben wir alle die gleiche Vorstellung davon, wie eine Alien-Entführung aussieht?

Und so füttert er uns mit Offenbarungen. Meine geht so: Als Ye die zweite Strophe von „Jesus Walks“ beginnt—„to the hustlers, killers, murderers, drug dealers, even the strippers!“—, schwebt die Bühne auf mich zu. Ich befinde mich im Zentrum der Arena und das Publikum um mich herum scheint sich zu lichten, bis nur noch ich da bin. Ich schaue direkt auf Kanye, blicke ihm fast direkt in die Augen und rappe dazu jedes seiner Worte mit—Worte, die nun seit über zehn Jahren in meinem Gehirn eingebrannt sind. Einen Moment lang gibt es nichts, was heiliger ist als das: als ich und die Musik und Kanye. Dann schwebt die Bühne weiter, über meinen Kopf hinweg, zu jemand anderem.

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Beneidet Kyle Kramer bei Twitter.