Es sind harte Wochen für die Kartoffel. Erst instrumentalisierten sie Twitter-Nutzer als linke Schmähung, um damit “Biodeutsche” zu beleidigen. Und dann wurde sie zum Opfer der anhaltenden Hitzewelle: Wie der Bundesverband der obst-, gemüse- und kartoffelverarbeitenden Industrie seit vergangener Woche warnt, drohen wegen der Dürre “Ernteausfälle”. Dies könnte zu “Versorgungsproblemen”, etwa bei Pommes Frites, führen, was wiederum für den durchschnittlichen Deutschen so dramatisch wäre, als würde der Tatort abgesetzt.
Die Bild-Zeitung druckte am Montag auf ihrer Titelseite: “Wegen Mega-Hitze: POMMES WERDEN TEURER”. RTL ging sogar noch einen Schritt weiter und ließ sich eine Alliterations-Headline einfallen: “Kartoffel-Katastrophe wegen Dürre”, heißt es dort. Medien, von der Tagesschau über Spiegel Online bis RT Deutsch (!), griffen die Meldung auf. Wenn es um Pommes geht, verfallen deutsche Medien in Schnappatmung.
Videos by VICE
Hunger bekommen? Bei den Kollegen von MUNCHIES: Steak & gebackene Kartoffeln mit Matty Matheson
Schon die Nationalsozialisten empfahlen Kartoffel-Konsum
Erklären lässt sich das nur mit der Liebesgeschichte zwischen dem Deutschen und der Knolle, die in das Mittelalter zurückreicht. Als Exportprodukt kam sie aus den südamerikanischen Anden nach Zentraleuropa. Im 17. Jahrhundert ließ Friedrich II. Soldaten die Gärten, in denen Kartoffelpflanzen wuchsen, beschützen.
Kein Wunder, dass sich auch die Nationalsozialisten diese Erfolgsgeschichte unter die Nägel rissen. Im Dritten Reich stieg die Kartoffel zum Hauptnahrungsmittel auf, und das Agrarministerium empfahl neben Sauerkraut und “Volksbrot” explizit den Verzehr von Kartoffeln, was womöglich auch daran lag, dass 1936 das Kilogramm der Feldfrucht für zehn Pfennig zu erstehen war. Mit der Versorgung durch die Kartoffel wurde auch die deutsche Existenz gesichert, was wiederum heute noch Aktualität besitzt:
Derzeit kosten Kartoffeln bis zu einen Euro pro Kilogramm. Bei manchen führt die Kartoffelknappheit zu der Frage, wie das alles weitergehen soll, wenn teurere Pommes womöglich erst der Anfang sind:
Kartoffelkuchen mit Apfelmus ist für Deutsche “Himmel und Erde”
Deutsche aßen 2017 im Durchschnitt pro Person 67 Kilogramm Kartoffeln. Es gibt inzwischen mehr als 5.000 verschiedene Sorten, die sich in Namen, Farbe, Schale, Größe oder Konsistenz unterscheiden.
Wenn jemand ohne Leistung und Anstrengung zu Erfolg kommt, sagen Deutsche gerne: “Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln.” Wenn man sich von einem Menschen abwendet, lässt man ihn fallen wie eine heiße Kartoffel. Es ist kein Zufall, dass es zu Kohlrabi, Karotte oder Topinambur keine Redewendungen gibt. Wie können Deutsche eine Feldfrucht nicht lieben, die es sogar in Aphorismen-Bücher geschafft hat?
Bei der Süddeutschen Zeitung kommentieren 1.300 User das Posting. Auf der Facebook-Seite der RTL-Mittagsnachrichten “Punkt 12” sammelte der Beitrag über die Pommes-Krise innerhalb von 20 Stunden mehr als 500 Kommentare.
Brei, Suppe, Salat oder Knödel: Die Kartoffel hält in deutschen Kantinen Einzug wie Ex-Bachelor-Kandidaten ins RTL-Dschungelcamp. An der Frage, ob Kartoffelsalat – der Lieblingspartysnack der Deutschen, den sie auch an Weihnachten konsumieren – mit Brühe, Essig und Öl oder Mayo zubereitet wird, zerbrach so manche Freundschaft auf Schrebergarten-Partys. Auf Weihnachtsmärkten werden Kartoffel-Reibekuchen mit Apfelmus zu “Himmel und Erd” verklärt. Und deutsche Kartoffelchipshersteller sind sich nicht zu schade, regelmäßig neue Geschmacksvariationen auf den Markt zu bringen, die von “Wirsing” bis hin zu “Currywurst-Style” reichen.
532 Millionen Packungen Kartoffelchips kaufen die Deutschen jährlich. Und da kommen jetzt eben zwei Dinge zusammen, durch die sich die Dramatik der Lage nur erklären lässt: die Abhängigkeit der Deutschen von der Knolle und ihr absolute Unverständnis für Preiserhöhungen jeder Art.
Erinnerungen an Schwimmbadbesuche und durchnässte Pommestüten
Pommes sind nun der frittierte Stoff, aus dem Wutkommentare sind. Denn Deutsche haben fast ein romantisches Verhältnis zu Fritten. Wer hat sie nicht, die melancholische Erinnerung an Freibad-Besuche, bei denen man sich über Sonnenstich und Fußpilz hinwegtrösten konnte, indem man heiße fettige Fritten mit zu salzigem Paprikapulver aus immer nasser werdenden, ketchup-durchtränkten Papiertüten snackte.
Die momentane Aufregung bietet auch eine Chance: Ist der Klimawandel ansonsten ein Thema, das deutsche Gemüter wenig erregt, sind Hitzewellen und Dürre im Zusammenhang mit Kartoffeln für manch einen Grund nun politisch aufzubegehren.
Fassen wir zusammen: Es ist Sommer, es ist heiß und die Feldfrucht ist hierzulande heilig. Die deutsche Kartoffel leidet – und in diesem Fall ist der Satz Ursache und Wirkung zugleich.
Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.