Zwischen meinem 12. und 17. Lebensjahr begann der Morgen vor der Schule oft damit, dass ich Toastscheiben bügelte. Scheibe Toast, Scheibe Käse, Ketchup, Scheibe Toast, Bügeleisen drauf, umdrehen, wiederholen, bis der Käse schmilzt. Es schmeckte und sah so ähnlich aus wie die Käsetoasts aus dem Sandwichmaker, die alle aus meiner Klasse damals dabei hatten.
Lange bevor es Lifehack-Listen gab, wusste ich, wie man zu große Second-Hand-Klamotten auf die eigene Größe umnäht, schwarze Strumpfhosen trotz kleinerer Laufmaschen anziehen kann (durchsichtigen Nagellack auf die Enden der Masche auftragen, damit sie nicht weiter aufgeht, darunter mit Edding eine schwarze Fläche auf den Oberschenkel malen). Ich kann ein ziemlich gutes Salatdressing aus Senf-, Salz-, Pfeffer- und Zitronensaft-Tütchen machen, die man bei Imbissen mitnehmen kann.
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Noch vor ein paar Jahren habe ich, gefragt nach meinen MacGyver-Skills, schnell das Thema gewechselt. Die Wahrheit war mir peinlich: Meine Familie war arm, als ich aufwuchs. Ich zog mit meiner Mutter nach Deutschland, als ich zwölf war. Mein Stiefvater, ein Russlanddeutscher, wohnte schon ein Jahr hier. Bis sie Deutsch gelernt, Umschulungen gemacht und einen Job gefunden haben, dauerte es etwa fünf Jahre. In dieser Zeit lebten wir von Sozialleistungen, die damals zwar noch nicht Hartz IV hießen, aber ähnlich funktionierten.
Ich hatte keine schlechte Kindheit. Aber ich musste trotzdem schlucken, als ich in der WAZ gelesen habe, dass Ende 2016 zwei Millionen Minderjährige in Deutschland in Familien lebten, die Hartz IV beziehen. Noch nie gab es in diesem Jahrzehnt mehr Menschen unter 18, die von staatlicher Grundsicherung leben – im Vergleich zum Vorjahr sind es 3,3 Prozent mehr. Laut der Kinder- und Jugendhilfe wächst jeder fünfte junge Mensch in Armut auf – das, obwohl in den vergangenen 25 Jahren nie so wenige Menschen arbeitslos waren wie heute.
Dass mehr Kinder als zuvor arm sind, obwohl es Deutschland wirtschaftlich gut geht, hat mehrere Gründe: Zum einen geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Zum anderen ist die Zahl der ausländischen Kinder in Hartz-IV-Familien zwischen 2015 und 2016 um fast 20 Prozent gestiegen. Wer neu ins Land kommt, ist nicht von einem Tag auf den anderen in den Jobmarkt integriert, diesen Menschen geht es wie meinen Eltern. Und drittens gibt es immer mehr Alleinerziehende. Sie sind besonders oft armutsgefährdet, weil sie es schwer haben, einen Job zu finden, der sich mit Kinderbetreuung vereinbaren lässt. Ein Viertel der Alleinerziehenden lebt von Hartz IV – und drei Viertel von ihnen bekommen keinen oder nicht genug Unterhalt.
Mir selbst fehlte als Teenager objektiv gesehen an nichts. Wir hatten gesundes Essen und eine gemütliche Dreizimmer-Plattenbauwohnung. Wenn ich eine Sache wirklich, wirklich wollte (Konzertkarten für die No Angels), habe ich sie auch bekommen – auch wenn es danach eine Woche lang Haferbrei zum Mittagessen für alle gab. Ich war nicht peinlich angezogen, und obwohl wir uns keinen Familienurlaub leisten konnten, haben meine Eltern mit uns oft Ausflüge gemacht, uns für den Sommer zu Großeltern geschickt oder ins Kirchenferienlager.
Meiner Familie ging es wirtschaftlich viel besser als in Russland. Dort hatte ich mit meiner Mutter, meinen beiden Großeltern und Urgroßmutter in einer Zweizimmerwohnung gewohnt. In Deutschland musste ich das Zimmer nur mit meinen zwei Schwestern teilen. Und verglichen mit den halbleeren Läden im Russland der 90er war jeder Einkauf bei Kaufland ein Disneyland-Besuch. Trotzdem fühlte ich mich ärmer als zuvor. Es war nicht der Mangel an Geld, der weh tat – sondern der Vergleich mit anderen.
Nichts habe ich in der Schule so sehr gehasst wie Klassenfahrten und Ausflüge. Während die Lehrer das Geld von anderen Kindern einsammelten, musste ich mir vor allen anderen einen Bescheid für das Sozialamt abholen. Früher habe ich gedacht, “Armutszeugnis” seien genau diese Zettel. An vielen Schulausflügen habe ich krankgemacht, weil ich nicht wollte, dass die anderen sehen, dass meine Eltern kein Auto haben und mich mit dem Bus hinbringen. Kein Kind braucht ein Auto und einen Sandwichmaker, um glücklich zu sein. Aber es ist scheiße, anders zu sein in einem Alter, in dem das Wichtigste ist dazuzugehören. Und sich für seine Eltern zu schämen, weil sie es nicht hinkriegen, einen Job zu haben wie die “normalen” Mamas und Papas der Klassenkameraden.
“Im internationalen Vergleich geht es den Kindern in Deutschland, die von staatlicher Grundsicherung leben, ziemlich gut”, sagt der Jugendforscher Klaus Hurrelmann zu VICE. “Aber wenn sie sich mit ihren Klassenkameraden vergleichen, schlägt das auf ihr Selbstbewusstsein, sie trauen sich weniger zu, ziehen sich zurück.” Bei den Kinderstudien gab ein Fünftel der deutschen 6- bis 11-Jährigen an, sich abgehängt zu fühlen. Kinder, die arm oder armutsgefährdet sind, fühlen sich in ihrer Meinung nicht wertgeschätzt und ernst genommen, haben weniger positive Erwartungen an ihre Zukunft und fühlen sich in der Schule ungerechter behandelt.
Kinder aus Hartz-IV-Familien bekommen zwar Zuschüsse für Klassenfahrten, Schulausflüge und Schulessen oder kriegen sie sogar ganz erstattet – “aber die Hälfte der Eltern nimmt das nicht in Anspruch”, sagt Hurrelmann. Außerdem hafte ihnen ein Stigma an: “Wenn man Glück hat, hat man sensible Lehrer, die nicht vor der ganzen Klasse darauf hinweisen, dass sie noch ein Bescheid fürs Amt abholen müssen”, sagt der Sozialwissenschaftler. “Aber in der Regel kriegen es die anderen Kinder schon mit.” Und wenn man ständig daran erinnert werde, anders zu sein, habe man schnell das Gefühl, dass die Welt einem weniger offen steht als anderen.
Ich hatte Glück – meine Eltern bläuten mir immer ein, dass ich alles werden könne, was ich will. Auch wenn sie nach dem Umzug nach Deutschland arm waren – sie waren immer noch Akademiker, deren Arbeitslosigkeit vorübergehend war. Zumindest in Mathe und Naturwissenschaften konnten sie mir unter die Arme greifen und für sie war es immer klar, dass ich aufs Gymnasium gehen und studieren soll. Bei den meisten Kindern in meinem Viertel war das anders. Eine Freundin, deren Eltern ebenfalls arbeitslos waren, hat sich geweigert, nach der Grundschule aufs Gymnasium zu wechseln, weil sie Angst hatte, nicht reinzupassen – obwohl sie bessere Noten hatte als ich. Ihre Eltern waren der gleichen Meinung.
Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien studieren in Deutschland 77. Von 100 Kindern aus Facharbeiterfamilien gehen nur 23 an die Uni. Im neusten Armutsbericht der Bundesregierung steht, dass 45 Prozent der Kinder, deren Eltern arbeiten, aufs Gymnasium wechseln. Ist mindestens ein Elternteil arbeitslos, geht nur ein Drittel der Kinder aufs Gymnasium. In armutsgefährdeten Familien haben nur 23 Prozent der Kinder die Chance, Abi zu machen.
Im Studium habe ich keinen einzigen Kommilitonen getroffen, der mit Sozialleistungen aufgewachsen ist. Vielleicht haben sie auch nicht darüber gesprochen – genau wie ich. Meine Scham für die Armut saß tief. So viel Energie ist während der Teenagerjahre draufgegangen beim Versuch, sie zu vertuschen, dass es irgendwann zur Gewohnheit wurde. Ich hatte, seit ich 14 war, kleinere Nebenjobs. Der Lohn war mein Taschengeld und ich habe viel Zeit damit verbracht, Markenlogos und Waschzettel gebrauchter Klamotten aus dem Sozial- oder Second-Hand-Laden zu schneiden und sie auf meine No-Name-Klamotten zu nähen.
Inzwischen verstehe ich, dass weder ich noch meine Eltern etwas für unsere Armut konnten. Heute haben sie beide Jobs, ich habe studiert und einen Job, von dem ich gut leben kann. Was bleibt, ist die Gewohnheit, Ketchup-Tütchen aus Imbissen und Plastiktüten für Obst und Gemüse aus dem Supermarkt mitgehen zu lassen, damit ich kein Geld für Mülltüten ausgeben muss. Und es bleibt die Frage, warum es ein Land, das 2016 Haushaltsüberschüsse von 24 Milliarden Euro erwirtschaftet hat, nicht hinbekommt, seine Kinder nicht verarmen zu lassen. Als Kind hätte ich mir nicht nur mehr Gerechtigkeit gewünscht – sondern Schulen, die sich darum kümmern, dass alle auf Klassenfahrten mitfahren können und Nachhilfe bekommen, ohne vor Klassenkameraden rot werden zu müssen. Lehrer, die Kindern erklären, dass man sich nicht dadurch definieren sollte, wie viel die Eltern verdienen – und dass alle groß träumen sollen, egal, ob sie ihr Pausenbrot im Sandwichmaker oder mit dem Bügeleisen machen.
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