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Die ersten sechs Gebote der Virtuellen Realität haben wir bereits gebrochen

Mainzer Philosophen haben den ersten Ethikkodex für die Benutzung von Virtual Reality entwickelt.

Jedes Mal, wenn eine bahnbrechende neue Technik dabei ist, den Markt zu erobern, treten sowohl enthusiastische Verfechter als auch kulturpessimistische Kritiker auf den Plan. Das gilt auch für die Virtuelle Realität.

Anfang des Jahres hat Oculus bereits seine Rift auf den Mark gebracht, in den kommenden Monaten werden Firmen wie HTC (Vive) und Sony (PlayStationVR) ihre VR-Headsets auf den Markt bringen—und alle Experten sind sich einig, dass die Brillen in den kommenden Jahren zu einem der beliebtesten Gadgets überhaupt werden dürften.

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Längst gibt es auch die ersten Versuche, moralische Regeln für die Virtual-Reality aufzustellen: Michael Madary und Thomas Metzinger von der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität Mainz haben den Entwurf eines Ethikkodex' vorgelegt, der ein wichtiges Gegengewicht zum Hype um die vielen Vorteile der Virtuellen Realität darstellen soll.

In ihrem Paper, das vergangenen Monat in der Online-Zeitschrift Frontiers in Robotics and AI veröffentlicht wurde, untersuchen die beiden Philosophen relativ nüchtern die Risiken, die es birgt, wenn ein Mensch in der Virtuellen Realität in einen anderen Körper eintaucht.

Virtuelle Realität eignet sich perfekt für Neuromarketing—und das könnte ein Datenschutzproblem geben.

Besonders eine Gefahr nehmen die beiden Philosophen dabei ins Visier: Welche Risiken drohen, wenn Menschen in der Virtuellen Realität vollkommen in die Rolle ihres Avatar schlüpfen? Was sind die Folgen, wenn sich die User der immersiven „Illusion von Verkörperung" hingeben und sich in das Gefühl hineinsteigern, einen fremden Körper zu bewohnen?

„Weder traditionelle Verfahren der Experimentellen Psychologie, noch Filme oder nicht-immersive Videospiele können so starke Illusionen erzeugen, dass die User glauben, in einem fremden Körper zu stecken oder einen fremden Körper zu kontrollieren", schreiben Madary und Metzinger in ihrem Paper. „Die Verfahren der Virtuellen Realität werden nicht nur unser allgemeines Bild von der Menschheit, sondern auch unser Verständnis solch fundamentaler Konzepte wie ‚bewusstes Erleben', ‚Individualität', ‚Authentizität' oder ‚Realität' verändern.

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VR wird schon heute im Militär eingesetzt: Mit Virtueller Realität gegen posttraumatische Belastungsstörungen

Die Forscher führen viele überzeugende Gründe an, sich besonders über die Wirkung von VR auf das menschliche Gehirn Gedanken zu machen. Schon zuvor haben bereits zahlreiche psychologische Experimente wie das Stanford-Prison-Experiment oder das Milgram-Experiment auf die leichte Manipulierbarkeit des menschlichen Verstandes hingewiesen. Keines dieser Experimente sah allerdings etwas so mächtiges wie die Virtual Reality kommen—eine Technik, die den Menschen in eine ungleich realistischere Umgebung versetzt als es jede bisherige Simulation konnte.

„Im Gegensatz zu anderen Medien kann VR eine Situation erzeugen, in der das gesamte Umfeld des Users durch die Schöpfer der virtuellen Welt bestimmt wird", schreiben Madary und Metzinger. „[Dies] eröffnet die Möglichkeit für neue und mächtige Formen der Manipulation des Verstandes und des Verhaltens. Besonders wenn kommerzielle, politische, religiöse oder staatliche Interessen hinter den virtuellen Welten stecken, könnte das noch von Bedeutung sein."

Einige Experimente haben außerdem bereits gezeigt, dass Erlebnisse aus der Virtuellen Realität sogar noch nach dem Verlassen der virtuellen Umgebung dauerhafte Auswirkungen auf die User haben: In einem Versuch, in dem die Probanden einen Superman-ähnlicher Avatar spielten, neigten sie nach dem Experiment eher dazu, sich selbstlos zu verhalten. In einem anderen Versuch zeigte sich, dass VR-User, die einen Avatar mit dunklerer oder hellerer Hautfarbe als ihrer eigenen gespielt haben, danach weniger rassistisch dachten.

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Vor dem Hintergrund der fundamentalen psychologischen Auswirkungen während und nach einem VR-Erlebnis legten Madary und Metzinger eine Liste mit sechs Empfehlungen für eine ethische Nutzung der Virtuellen Realität vor. Ihre Liste, die wir hier grob zusammenfassen, gilt sowohl kommerziellen als auch forschungsbasierten Anwendungen:

  • VR-Experimente sollten sich an den Richtlinien der American Psychological Association orientieren. Sie sollten gewährleisten, dass bei der Testperson keine dauerhaften oder schweren Schäden verursacht werden.
  • Probanden sollten vor den VR-Experimenten genau über die langfristigen Auswirkungen ihrer Erlebnisse in der Virtuellen Realität hingewiesen werden. Auch darüber, dass die Folgen für ihr Verhalten nicht immer bekannt sind, sollten Probanden informiert werden.
  • Sowohl Wissenschaftler als auch die Medien sollten es vermeiden, die Vorteile der Virtuellen Realität hochzuspielen. Vor allem in den Fällen, in denen diskutiert wird, ob die Virtuelle Realität vielleicht auch einen therapeutischen und medizinischen Nutzen haben könnte, ist eine ausgewogene Betrachtung wichtig.
  • Wir müssen ein Bewusstsein für Dual-Use-Probleme im Bereich der Virtuellen Realität schaffen. Damit meinen die Forscher Fälle, in denen die Technologie für etwas anderes als ursprünglich vorgesehen eingesetzt wird. Madary und Metzinger stehen vor allem der Anwendung der Virtuellen Realität im militärischen Bereich skeptisch gegenüber, sei es als neue Foltermethode oder als Mittel, um Soldaten die Empathie für den Feind abzutrainieren.
  • Madary und Metzinger plädieren für die Einführung von Verfahren zum Schutz der Privatsphäre von VR-Usern, die sich durch das Internet mit anderen Usern in virtuellen Welten vernetzen. VR-Anwendungen bergen das Potential, diverse neue Formen von Benutzerinformationen und Daten zu erfassen: Von den Augenbewegungen und den Gefühlen bis hin zu den körperlichen Bewegungen durch den Raum. Daher ist ein verantwortungsvoller Umgang mit diesen Daten durch VR-Forscher, aber auch durch kommerzielle Einrichtungen unerlässlich.
  • Auch an der Schnittstelle von VR und Werbung könnte es laut Madary und Metzinger problematisch werden. Virtuelle Umgebungen bieten viele neue Flächen für besonders personalisierte Werbung, insbesondere in Form von „Neuromarketing", also der Werbung, die direkt neurologische, unterbewusste Impulse ansprechen soll. Studien haben bereits gezeigt, welche unterschiedlichen VR-Verfahren dafür genutzt werden können, das Konsumverhalten zu beeinflussen. Das kann insbesondere dann zu Konflikten führen, wenn die VR-Technik von einem Unternehmen aufgebaut wird, dessen Geschäftsmodell größtenteils darauf basiert, individuell zugeschnittene Werbung zu verkaufen, wie dies beispielsweise bei Facebook der Fall ist.

Trotz der drohenden Risiken der Virtuellen Realität sind Madary und Metzinger weit von Alarmismus entfernt. Sie sehen die neue Welt nicht als Bedrohung, sondern betonen vielmehr, „die VR-Forschung voll und ganz" zu unterstützen. Tatsächlich spricht für sie aus ethischer Perspektive sogar vieles dafür, noch mehr in diesem Bereich zu forschen. Ihr Hauptanliegen ist, dass diese Forschung auf ethisch verantwortungsvolle Weise betrieben wird, „mit dem Ziel, den Schaden für die Allgemeinheit so weit wie möglich einzugrenzen."

Der Ethikkodex der beiden Philosophen erwähnt nicht, wer als Aufsichtsbehörde die Durchführung und Einhaltung dieser Regeln kontrollieren soll—dennoch markiert die Veröffentlichung einen wichtigen ersten Schritt, um eine Entwicklung der Virtuellen Realität à la Matrix zu verhindern.

„[Der menschliche Verstand] ist zunehmend nicht nur kulturell und sozial geprägt, sondern wird auch durch technische Entwicklungen geformt, die extrem schnell eine Eigendynamik entwickelt", schreiben Madary und Metzinger. „Dadurch entstehen komplexe Verbindungen, … in denen Biologie und Technik sich gegenseitig auf nie zuvor dagewesene Weisen beeinflussen, die wir gerade erst zu erforschen beginnen. Diese komplexe Verbindungen machen es so wichtig, die Ethik der VR auf kritische und rationale Art zu überdenken."

Der Technologie der Virtuellen Realität steht in den nächsten Monaten der wichtigste Test bevor, mit dem wir in unserer kapitalistischen Gesellschaft dienen können: Der Test der Marktfähigkeit.