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So sah es in der Zelle von Al-Bakr aus: Ein Protokoll der letzten drei Tage

Wie konnte es passieren, dass sich ein mutmaßlicher IS-Terrorist in der Haft umbringt? In Dresden versuchten sich die Beamten heute an einer ersten Erklärung und Rekonstruktion der Fehlerkette.
Fotos von Al-Bakrs Zelle wurden bisher nicht veröffentlicht Das Bild zegit eine Zelle in der Gedenkstätte Justizvollzugsanstalt Roter Ochse in Halle (Saale). Foto: Imago

Nach dem Selbstmord des Terrorverdächtigen Dschaber Al-Bakr am gestrigen Mittwoch in der JVA Leipzig, stellt sich die Öffentlichkeit viele, aber vor allem diese eine Frage: Wie war das möglich?

Auf einer Pressekonferenz versuchte sich der Leiter der Justizvollzugsanstalt, Rolf Jacob, dann heute Vormittag in Dresden an Antworten: Erstmals schilderte man öffentlich den Verlauf der vergangenen drei Tage, von der Einlieferung Al-Bakrs am Montagnachmittag bis zum Auffinden seines Leichnams am Mittwochabend um 19:45 Uhr. Jacob verriet dabei auch einige Details über die Beschaffenheit der Zelle, in der Al-Bakr untergebracht worden war. Bilder des Haftraums wurden zwar nicht veröffentlicht, aber trotzdem lässt sich nach den Schilderungen Jacobs ein detailliertes Bild der Abläufe und des Raumes skizzieren, in dem sich das Justiz-Drama abspielte, über das gerade ganz Deutschland diskutiert.

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Kein Besonders gesicherter Haftraum

So befand er sich nicht in einem sogenannten Besonders gesicherten Haftraum (BgH), auch „B-Zelle", genannt. In einem solchen BgH werden für gewöhnlich Häftlinge untergebracht, die akut suizidgefährdet sind. Tatsächlich war man in der JVA Leipzig vor der Einlieferung Al-Bakrs durch ein SEK vom zuständigen Ermittlungsrichter darauf hingewiesen worden, dass eine Selbstmordgefahr bestehe, so Jacob. Zudem hatte Al-Bakr bereits direkt nach seiner Verhaftung mit der Nahrungsverweigerung begonnen. Trotzdem hatte der verantwortliche psychologische Dienst der JVA beim Aufnahmegespräch mit Al-Bakr keine akute Suizidgefahr festgestellt. Wie Jacob erklärte, seien die Gespräche aufgrund der „Schwierigkeiten Al-Bakrs mit der deutschen Sprache" besonders erschwert gewesen.

Neben der Verwahrung in einem BgH, für die es laut Jacob „sehr hohe gesetzliche Anforderungen gibt", ist es in Sachsen gängige Praxis, suizidgefährdete Häftlinge gemeinschaftlich unterzubringen, wie eine kleine Anfrage im Sächsischen Landtag erst im September ergab. Diese kommt nicht nur bei Häftlingen mit akuter Selbstmordgefahr zum Tragen, sondern auch in Fällen, in denen „Hinweise auf eine latente Suizidgefährdung bestehen". Gemeinschaftsunterbringung sei im Falle Al-Bakrs allerdings von vornherein ausgeschlossen worden, da er aufgrund der Art seiner mutmaßlichen Straftat (Planung eines terroristischen Anschlags) als Gefahr für andere eingestuft worden sei.

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Dschaber Al-Bakr nach seiner Festnahme am Montag. Foto: Polizei Sachsen

Aufgrund dieser Besonderheiten (vermeintlich „nicht akut selbstmordgefährdet", aber fremdgefährdend) entschied man sich, Al-Bakr in eine normale Zelle mit einem Zwischengitter zu stecken und diese in einem Abstand von 15 Minuten zu kontrollieren. Das „fast deckenabschließende" Zwischengitter in dem 4,55 Meter mal 2,39 Meter großen Raum dient dabei vor allem als Sicherheitsmaßnahme für die Bediensteten der JVA. Außer einer Jogginghose, einem T-Shirt und Unterwäsche habe er keine weiteren Gegenstände in diesem Haftraum gehabt.

Dolmetscher trifft im Gefängnis ein

Al-Bakrs Pflichtverteidiger Alexander Hübner zeigte sich heute morgen im Interview mit dem MDR „fassungslos", dass es in der JVA keine Kameraüberwachung seines Mandanten gegeben habe. Wie Rolf Jacob in der Pressekonferenz erklärte, gibt es diese allerdings im gesamten Strafvollzugs des Bundeslandes Sachsen nicht—sie ist tatsächlich laut Untersuchungshaftvollzugsgesetz § 46 ausgeschlossen. Stattdessen würden Häftlinge, wenn erforderlich, von einer Sitzwache rund um die Uhr observiert.

Am Dienstagvormittag konnte Pflichtverteidiger Hübner dann als erste Person mit Hilfe eines Dolmetschers mit Al-Bakr sprechen. Dieser hatte sich in der Nacht unauffällig verhalten und nach dem Gespräch mit Hübner erneut mit einer Psychologin der JVA, dieses Mal in Anwesenheit des Dolmetschers, gesprochen. Hier habe Al-Bakr Interesse für sein weiteres Schicksal gezeigt und sich unter anderem erkundigt, ob sein Hungerstreik eventuell die Gefahr einer schnelleren Abschiebung provozieren könnte.

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Vor den Toren der Justizvollzugsanstalt Leipzig: Foto: Theresa Locker/Motherboard

Das Interesse am eigenen Schicksal („Was passiert mit mir?") sei als weiteres Indiz für das Nicht-Vorhandensein einer Suizidabsicht gewertet worden. Bei der verantwortlichen Psychologin habe es sich um eine 52-jährige „sehr erfahrene" Frau gehandelt, die seit 2001 sächsischen Justizvollzug und mit verschiedenen Arten des Strafvollzugs vertraut sei.

Der Sprung an die Lampe

Bei einer Teamsitzung im Laufe des Tages habe man dann entschieden, die Kontrollabstände von 15 auf 30 Minuten zu begrenzen. Auffällig wurde Al-Bakr dann erst wieder um 17:15 Uhr, als entdeckt wurde, dass er die Lampe in seiner Zelle von der Decke gerissen hatte. „Man hat das als Vandalismus eingestuft", erklärte Jacob—und eben nicht als mögliches Anzeichen auf eine Suizidgefahr.

An die Lampe in 2,60 Meter Höhe müsse Al-Bakr durch einen Sprung vom fixierten Tisch und oder über das Bett in seiner Zelle gekommen sein. Grund, die Kontrollen nun doch wieder im 15-Minuten-Takt durchzuführen, habe man nicht gesehen.

Als Al-Bakr dann in die Duschräume begleitet wurde, habe die erste Haftraumkontrolle stattgefunden, während festgestellt wurde, dass neben der Lampe auch die Steckdose beschädigt worden war. Man stellte der Zelle 144 daraufhin den Strom ab und die nächtlichen Kontrollen wurden per Taschenlampe durchgeführt, schilderte Jacob.

Der Fund der Auszubildenden

In der Teamsitzung am Mittwoch sei dann entschieden worden, das Kontrollintervall von 30 Minuten beizubehalten. Eine „Justizdienst-Anwärterin" (gemeint ist damit wohl eine Auszubildende) habe schließlich am Mittwochabend kurz vor ihrem Feierabend auf Eigeninitiative einen Kontrollgang zu Al-Bakrs Haftraum gemacht. Obwohl die letzte Kontrolle laut Protokoll erst um 19:45 Uhr stattgefunden hatte, machte sie die grausame Entdeckung: Al-Bakr hing stranguliert am Zwischengitter seiner Zelle.

Wie Jacob erklärte, gebe es für solche Zwischenfälle einen „roten Knopf", um über einen Alarm jegliches zur Verfügung stehende Personal zu aktivieren und an den Ort des Geschehnisses zu beordern. Al-Bakr sei umgehend aus der Strangulation befreit und Reanimationsmaßnahmen unter Mithilfe des Personals aus dem der JVA angeschlossenen Krankenhauses eingeleitet worden. Nachdem jegliche Wiederbelebungsmaßnahmen scheiterten, war um 20:15 Uhr offiziell der Tod von Dschaber Al-Bakr festgestellt worden.

Und die Moral von der Geschichte formulierte der Sächsische Staatsminister der Justiz, Sebastian Gemkow, eingangs der Pressekonferenz bereits in sehr trockenen Worten: „Die Prognose der beteiligten Fachleute hat sich nicht bestätigt."