Mein Bruder, der Salon-Rassist
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Mein Bruder, der Salon-Rassist

Er ist Chefarzt, prostet dem christlichen Abendland zu, nennt aber diejenigen, die Barmherzigkeit leben, abfällig „Gutmenschen“.

Mein großer Bruder hat jetzt eine Gas-Waffe an Bord. Sie lauert im Handschuhfach seines 3er-BMWs auf ihren Einsatz. Er hat Angst und besucht inzwischen regelmäßig das Schießtraining des örtlichen Schützenvereins. Seit Flüchtlinge nach Deutschland kommen, erkundigt er sich auf der Polizeistation auch immer wieder, mit was für Bedrohungen er und seine Familie zu rechnen haben: Einbrüche, Vergewaltigungen, Raubüberfälle.

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Mein Bruder ist belesen und gebildet. Er kann mit Komplexität umgehen, doch in der Flüchtlingsdebatte sucht er die einfache Erklärung. Er hat studiert, ist Chefarzt an einer großen Klinik, zählt zu den cleversten Medizinern des Bundeslands. Doch in Sachen Flüchtlingen ist er auf einer Linie mit jenen 50 Prozent der deutschen Bevölkerung, die überzeugt sind, dass Deutschland die Ankunft der vielen Flüchtlinge nicht verkrafte. Er zählt jetzt zu jenen besorgten Bürgern, die gegen Angela Merkel stänkern—und er hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg zurück. Zumindest mir gegenüber.

Seitdem die Flüchtlinge nach Deutschland kommen, verstehe ich meinen großen Bruder nicht mehr. Seine Ängste erscheinen mir völlig hysterisch bis pathologisch. Obwohl wir uns nahezu täglich Nachrichten schreiben, reden wir politisch längst aneinander vorbei, herrscht zwischen uns eine große Sprachlosigkeit, wenn wir über das Land sprechen, in dem wir leben und in dem wir leben wollen.

Seit Wochen bombardiert er mich jeden Tag mit Links zu Artikeln von Huffington Post, FAZ—vor allem aber von Focus Online. Zahl der Flüchtlinge, Vergewaltigungen durch Flüchtlinge, sexuelle Übergriffe durch Flüchtlinge, Sozialsystem, das zusammenbricht durch die Flüchtlinge, Sloterdijk, der mit Merkel abrechnet, etc. etc. Versehen mit Kommentaren wie „Ich lach mich schlapp" oder „Wo soll das noch hinführen"? Ich denke: Wenn man in erster Linie die Huffpost und Focus liest, glaubt man natürlich an den Weltuntergang. Also schicke ich ihm anfänglich noch tapfer Links zurück von Spiegel Online, der SZ oder von Medienkritiker Stefan Niggemeier. Er watscht jede Argumentation meinerseits mit knappen, zynischen Worten ab.

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Er prostet dem christlichen Abendland zu, nennt aber diejenigen, die Barmherzigkeit leben, abfällig „Gutmenschen".

Inzwischen traut er sich nicht einmal den Weg von seinem Lieblingsitaliener, wo er zu beinahe jeder Tages- und Nachtzeit mit heiterem „Dottore!"-Ausruf begrüßt wird, zu Fuß zu gehen. Der Weg führt durch eine der teuersten Gemeinden Deutschlands, an einer kleinen Uferstraße entlang unter großen Bäumen. Autos parken an dieser Straße – das billigste kostet 30.000 Euro.

Mein Bruder fährt hier nach Einbruch der Dunkelheit nur noch—mit seinem BMW oder seinem Landrover—die paar hundert Meter zur Tiefgarage der Siedlung. Er hat sein Haus mit Kameras ausgerüstet, die er von seinem Arbeitsplatz aus auf dem Handy steuern und überwachen kann. Eine überwacht den Eingang, eine andere den Wintergarten, die dritte den Garten mit neu verlegtem Rollrasen, Terrasse und Grill-and-Chill-Area.

Vor wem fürchtest du dich hier?, frag ich. Früher waren es die Banden aus Osteuropa, meint er, viele Einbrüche. Aber jetzt hätte „die Merkel" ja Tausende von potenziellen Gaunern und Vergewaltigern reingeholt: die Flüchtlinge. Ganz Deutschland macht mobil, erzählt er mir mit verschwörerischem Unterton, er hätte lange auf die Gasknarre warten müssen.

Ich sitze bei ihm im Wohnzimmer, atme Kaffeeduft, Ordnung und Verunsicherung. Das Gefühl ist neu. Ich habe mich hier eigentlich immer sehr wohl gefühlt—dieses Haus und mein großer Bruder waren für mich immer ein Fels in der Brandung. Er ist zehn Jahre älter als ich. Er hat mir erklärt, wie man eine Schleife bindet und wie man Espresso kocht. Als ich gerade Schreibschrift gelernt hatte, hat er Abi gemacht und einen Preis bekommen von der Schule, den man nur für ihn ins Leben gerufen hatte: für besonderes soziales Engagement.

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Ich werde mit jeder Mail wütender und frage mich, was er überhaupt bezwecken will mit seiner Email-Flut. Einen Dialog erwartet er ja wohl nicht. Er will offenbar einfach nur Bestätigung. Kurz zweifle ich an meiner politischen Positionierung. Was weiß ich denn eigentlich schon sicher? Außer, dass ich an das Gute im Menschen glaube, und daran, dass die vielen Familien, die zu uns flüchten auch ein Recht auf einen sicheren Ort auf dieser Welt haben, etwas zu essen, etwas zu trinken und etwas zu lachen. Aber vielleicht bin ich ja wirklich ein weichgespülter linker Traumtänzer. Ich weiß, dass wir alle noch immer genug zum Teilen haben in Deutschland. Und wir haben eine moralische Verantwortung. Ich möchte nicht zu den hartgesichtigen „besorgten Bürgern" gehören, die jeden Montag in Dresden behaupten, sie seien das Volk. Und ich will auch keine Selbstschussanlage rund um den Rollrasen aufbauen. Ich habe nicht mal einen Balkon. Aber vielleicht ist es das: Dass die, die mehr haben, auch mehr Angst haben, es zu verlieren?

Jetzt mit Mitte 40 sind Vater und Sohn plötzlich auf einer Wellenlänge. Was sie eint, ist die neue German Angst.

Unser digitaler politischer Battle erfährt einen traurigen Höhepunkt, als ich ihm den Link zu Niggemeiers Kommentar „Die Brüllspirale" zur Berichterstattung über die Kriminalität von Ausländern schicke. Mein Bruder, der normalerweise in seinem Job keine einzige freie Minute hat und nie vor 22 Uhr nach Hause kommt, nimmt sich die Zeit, mir eine seitenlange Antwortmail zu verfassen, die seine Angst in klare Worte fasst:

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„Meiner Meinung nach ist es ein gesteuerter Beginn eines Kampfes der Muslime, welche Glaubenssoldaten und andere Perspektivlose nach Europa pumpen sollen, um hier die Strukturen sukzessive zu schwächen und langfristig zu zersetzen um den Einflussraum auszubauen. Sie bedienen sich dabei einer ideologisch blinden europäischen Formation der linken Pseudogutmenschen welche diese Gefahr ums Verrecken (im wahrsten Sinne des Wortes) nicht erkennen. Sie machen sich damit indirekt zu Helfern von Erdogan und Co. und werden zum Dank am Ende des Tages zwangskonvertiert."

Ich bin sprachlos. Ich schreibe nur zurück: „Du bist ja schlimmer als Papa."

In den vergangenen Monaten wurde die Wandlung meines Bruders zum Asylgegner unübersehbar—doch wo mein Bruder diese Meinung her hat, will mir nicht in den Kopf gehen. Sind es Kollegen, sind es Freunde? Könnte es von unserem Vater sein? Eigentlich haben wir uns von dessen politischen Überzeugungen immer abgegrenzt, sie waren uns peinlich. Wir konnten sie mit seiner Lebensgeschichte entschuldigen, und bis vor wenigen Monaten war ich überzeugt, dass mein Bruder und ich beide alles dafür taten, die Welt anders sehen zu können, als es mein Vater tat.

Unser Vater ist Heimatvertriebener, hat das Wüten der Roten Armee miterlebt, seinen Vater und sein Zuhause verloren, ist durch Blut gewatet, stand an der Wand zum Abschuss, landete in Thüringen mit dem verbliebenen Rest seiner Familie, erlebte den Anmarsch des Kommunismus, zog alleine nach Westdeutschland und begann im Jugendheim bei Null und mit Null. Insofern haben wir seine Angst vor dem Kommunismus und dem Weltuntergang immer irgendwie mit einem Trauma entschuldigen können. Seine Mitgliedschaft und sein Engagement in diversen rechtslastigen Splitterparteien mit Anti-Euro-Kurs waren uns zwar peinlich, aber da sie sich mit schönster Regelmäßigkeit selbst zerfleischten in albernen Richtungsstreitigkeiten, erledigte sich das immer von allein. Er bewunderte Jörg Haider und klebte Aufkleber von „Politically Incorrect" an Laternenpfosten.

Mit Hilfe von jahrelanger Psychotherapie schaffte ich es, mich davon auch emotional distanzieren zu können. Mein Bruder kaufte sich stattdessen ein Mofa und distanzierte sich räumlich; er war nicht politisch. Jetzt mit Mitte 40 sind Vater und Sohn plötzlich auf einer Wellenlänge. Was sie eint, ist die German Angst und der Glaube an religiöse Klüngel, die sich verschwören gegen Deutschland.

Ich schaue auf den Rollrasen und verstehe: Mein Bruder ist jetzt auch ein Salon-Extremist. Er prostet dem christlichen Abendland zu, nennt aber diejenigen, die Barmherzigkeit leben, abfällig „Gutmenschen". Und er trägt eine Waffe. Wie sagt unser Vater immer am Telefon zur Verabschiedung: „Gute Nacht, Deutschland!"