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Chinas schöne neue Bonität

Mit Sesame Credit testet der chinesische Online-Riese Alibaba gerade ein umfassendes Kreditsystem, welches die Bonität eines Menschen anhand vielfältiger Daten aus seinen sozialen Netzwerken berechnet.

Das Punktesammeln beim Einkaufen im Supermarkt ist in Deutschland weit verbreitet. Nicht wenige Menschen lassen so ihr Konsumverhalten mehr oder weniger bereitwillig auswerten—und können dabei unter Umständen sogar Daten produzieren, die über ihre Kreditwürdigkeit bei Organisationen wie der Schufa entscheiden.

In China befindet sich jedoch gerade ein System im Aufbau, das noch wesentlich mehr persönliche Daten für die Ermittlung eines individuellen Bonitäts-Scores erfasst—und auch bestimmte Parameter und Verhaltensweisen von Social Media-Profilen analysiert. Im Juni dieses Jahres startete Ant Financial, ein Unternehmen aus der Finanz-Sparte des chinesischen Amazon-Pendants Alibaba, unter staatlicher Aufsicht das Pilotprojekt Sesame Credit. Es verteilt an jeden Nutzer eine Punktzahl zwischen 350 und 950 Punkten, die die Leute—wenn sie denn möchten—sogar auf ihren Social Media-Profilen posten können.

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„Jemand, der z.B. zehn Stunden pro Tag Videospiele spielt, wird als faule Person betrachtet."

Der Punktestand wird dabei fortlaufend aktualisiert, entsprechend der Handlungen, die ein Nutzer innerhalb der an Sesame Credit angeschlossenen Netzwerke tätigt. Diese Netzwerke umfassen im Falle von Sesame Credit—es gibt noch sieben weitere Pilotprojekte ähnlicher Art—die acht größten sozialen Netzwerke Chinas (wie z.B. die Twitter-Alternative Weibo und WEChat), Alibaba sowie Alipay, in etwa das chinesische Äquivalent zu Paypal.

Alibaba greift dabei auf seine Datenbank mit dem Online-Kaufverhalten von ca. 400 Millionen Chinesen zurück. Li Yingyun, technischer Leiter von Sesame Credit gab gegenüber dem chinesischen Magazin Caixin bereits offen zu, dass nicht jede Online-Bezahlung zwangsläufig zu einem höheren Punktestand des Käufers führe—entscheidend sei nämlich auch, was der Kunde kaufe: „Jemand, der z.B. zehn Stunden pro Tag Videospiele spielt, wird als faule Person betrachtet. Jemand, der regelmäßig Windeln kauft, wird wahrscheinlich als Elternteil betrachtet und damit im Vergleich als wahrscheinlich verantwortungsbewusster eingestuft."

Würdet ihr euren Schufa-Score auf Tinder zeigen?

Ein bereits im Juni 2014 veröffentlichtes Dokument des Staatsrats der Volksrepublik China, das höchste Verwaltungsorgan des Staates, nährt die Befürchtung, dass es auch um mehr als Bonitätsprüfungen gehen könnte. Ziel des neuen sozialen Punktesystem sei es, „die Regierung zu fördern". Außerdem wolle man die „öffentliche Meinung aufbauen, dass Vertrauenssicherung glorreich ist."

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Mit Vertrauen ist hier wohl mehr gemeint als die Kreditwürdigkeit einer Person. Sesame Credit selbst verkauft das neue Punktesystem, welches im Gegensatz zu herkömmlichen Bonitätsprüfungen auch kleinste Online-Transaktionen berücksichtigt, als Chance für Menschen, die normalerweise keinen Zugang zu Kreditkarten oder großen Darlehen haben.

Dafür bezieht Sesame Credit so vielfältige Daten mit ein wie kein anderes großes Kreditprüfungssystem. So fließen auch Informationen öffentlicher Träger und Behörden in den Score mit ein, wie Ant Financial in einer Presseerklärung mitteilte. Ob man fristgerecht sein Parkticket zahlt oder einen „stabilen Wohnsitz" vorweisen kann, schlägt sich also auch auf den individuellen Punktestand nieder.

Chinas größtes Dating-Portal Baihe featuret bereits Mitglieder mit besonders guten Sesame Scores auf der Startseite.

Stellt euch also vor, euer Schufa Score sinkt durch die „falschen" Einkäufe auf Ebay und geht schließlich aufgrund von Daten aus Einwohnermelde- und Ordnungsamt vollständig den Bach runter.

Soweit, so absurd, doch geht es nach Sesame Credit wird der soziale Puktestand zum offiziellen Aushängeschild einer Person. Bereits jetzt bietet gibt es eine App zum Download, mit der Personen spielerisch ihren Score miteinander vergleichen können. Das beliebte chinesische Dating-Portal Baihe featuret bereits Mitglieder mit besonders guten Sesame Scores auf der Startseite und auch in anderen sozialen Netzwerken tauchen die Punktestände der User vermehrt auf.

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Der Staatsrat hat die Vorteile des Programms unterdessen bereits klar erkannt und verkündet in einem Paper dass „das neue System diejenigen belohnen [werde], die einen Vertrauensbruch melden." Was nach einer Funktion zur Belohnung von Denunziantentumklingt, ist bisher nicht näher definiert, bietet aber in seiner vagen Formulierung allerhand Paranoia-Potenzial. Die Spielentwickler von Extra Credits waren angesichts der Pläne für das chinesische Social Credit System jedenfalls schon jetzt ziemlich schockiert und haben die Thematik aus ihrer Sicht in einem Erklärvideo kompakt zusammengefasst:

Laut Extra Credits könnte sogar jeder Klick, das Uploaden eines falschen Bildes oder das Teilen eines regierungskritischen Bildes zum Punkteabzug führen. Ein Artikel aus der China Daily, einer englischsprachigen Tageszeitung aus Peking, die sich in staatlicher Hand befindet, lässt vermuten, dass zumindest auch Aktivitäten, die in keiner Weise finanzieller Art sind, für die Berechnung des Scores herangezogen werden und spricht dabei von „Hobbies, Interaktion mit Freunden, […] Lebensstil."

Eine Bestätigung für solch weitreichende Funktionen gibt es bisher nicht, allerdings ist klar, dass hier nicht nur ein besonders gründliches Bonitätsprüfungssystem entsteht, sondern auch eines, dass in seiner Verbindung mit Social-Media-Aktivitäten zumindest Potential für Missbrauch bietet.

Rogier Creemers, Experte für Chinesisches Internet-Recht und -Regulierung, beschreibt es auf seinem

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vorsichtig mit folgenden Worten: „Die Regierung möchte eine Plattform aufbauen, die Dinge wie Big Data, mobiles Internet und Cloudcomputing nutzt, um das Leben der Menschen auf verschiedenen Ebenen zu messen und auszuwerten und damit einen gamifizierten Anreiz zu schaffen, sich besser zu verhalten."

„Es schadet nicht nur deinem Score, wenn du diese Dinge tust, sondern auch wenn irgendeiner deiner Freunde sie tut."

Die US-amerikanische NGO für Bürgerrechte ACLU äußerte sich da schon direkter zu Sesame Credit: „Das System wird von zwei Firmen betrieben, Alibaba und Tencent, die alle sozialen Netzwerke in China betreiben und dadurch Zugang zu einer riesigen Menge an Daten über soziale Verknüpfungen der Menschen, ihre Aktivitäten und dem, was sie sagen, haben. Zusätzlich zur Fähigkeit zu zahlen, dient der Score als Maß der politischen Konformität. Zu den Dingen, die dem Score der Bürger schaden, zählt das Posten politischer Meinungen ohne vorherige Erlaubnis oder von Informationen, die das Regime nicht mag. […] Es schadet nicht nur deinem Score, wenn du diese Dinge tust, sondern auch wenn irgendeiner deiner Freunde sie tut."

Ob die Kraken von Sesame Credit tatsächlich so weit reichen und sogar die Freunde eines Nutzers auswerten, können wir an dieser Stelle nicht verifizieren. Eine Interview-Anfrage der BBC, wie der Score denn nun genau errechnet werde, lehnte das Unternehmen ab, mit dem Hinweis, man wolle seine staatliche Lizenz zur Erstellung der credit scores nicht dadurch gefährden, dass man mit ausländischen Medien spreche.

Die Nutzung von Sesame Credit ist aktuell noch freiwillig. Bis 2020 will Chinas Regierung ein für alle Chinesen obligatorisches System entwickelt haben, das auf „Ehrlichkeit, Selbst-Disziplin, Vertrauenserhalt und gegenseitigen Vertrauen" basiere—„Bestrafungsmechanismen" inklusive.