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Jerusalem-Syndrom: Wenn du plötzlich glaubst, eine Person aus der Bibel zu sein

Besonders vor und während der christlichen Feiertage halten sich die Besucher Jerusalems für Gestalten aus der Bibel und predigen den Weltuntergang.

​Als ich mir bei dem Besuch einer Freundin in Tel Aviv einen Abstecher nach Jerusalem nicht entgehen lassen wollte, durfte ich gar seltsame Wandlungen erleben. Weinende Mitfünfzigerinnen vor den Gebeinen Jesu, eine Bar Mizwa an der Klagemauer, die die Mütter und Schwestern auf Stühlen stehend von der anderen Seite einer Trennmauer verfolgen duften und ein Mann, der mit riesigem Holzkreuz über der Schulter die Via Dolorosa entlang schlurfte.

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Bei dieser Möchtegern-Jesus-Inkarnation handelte es sich jedoch möglicherweise nicht um einen Schauspieler, engagiert vom neutestamentarischen Fremdenverkehrsverbund, sondern um ein Opfer des Jerusalem-Syndroms.

Diese akute psychische Störung ist ein vorübergehender Wahn, der sich ausschließlich auf das religiöse Zentrum inmitten Israels beschränkt. Während das Paris-Syndrom dem (zumeist japanischen) Touristen die romantische Vorstellung des Savoir Vivre mit der Realität einer westlichen Großstadt zerstört und das Stendhal-Syndrom die kulturelle Reizüberflutung von Florenz in ähnlicher Weise mit Halluzinationen, Panikattacken, Verfolgungswahn, Schwindel oder Schwitzen kompensiert, wartet das Jerusalem-Syndrom mit einer vielzahl unterschiedlicher medizinischer Ausprägungen auf.

Jährlich werden circa 100 Besucher in der Heimat von Ölberg, Felsendom und Grabeskirche von der geistigen Wirklichkeitsverschleierung heimgesucht und ergreifen die Identität einer beliebigen biblischen Person. Dabei wählen sie frei nach ihrer Religionszugehörigkeit und ihrem Geschlecht. Christen bevorzugen Personen des Neuen Testaments wie Paulus oder Johannes den Täufer, Juden Charaktere aus dem Alten Testament wie Moses oder Abraham, Frauen agieren als Frauen, Männer stellen Männer dar.

Ein Opfer des Jerusalem-Syndroms bei der Bergpredigt.

Ein Opfer des Jerusalem-Syndroms bei der Bergpredigt. Bild:  ​pixabay, ArmyAmber ​​Public Domain

Die Betroffenen identifizieren sich vollständig mit den Heiligen und geben sich als diese aus. Sie legen ihre weltliche, viel zu moderne Kleidung ab und hüllen sich in weite Leinen oder altmodische Gewänder. Sie halten Predigten, sprechen öffentliche Gebete und verkünden das Wort Gottes. Diese zweifelhafte Sinneswandlung sucht vor allem diejenigen Personen heim, die schon vorher unter psychischen Auffälligkeiten litten. Eine diagnostizierte  ​Schizophrenie, eine ​Videospielsucht oder eine akute ​Graphomanie sind also vielleicht nicht die besten Voraussetzungen für einen unbeschwerten Besuch im Gelobten Land.

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Als erster erkannte der Jerusalemer Psychiater Heinz Herman in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts das Krankheitsbild, welches damals noch unter dem Namen Jerusalem-Fieber grassierte. Erst Anfang der 1980er Jahre gab der israelische Arzt Yair Bar El dem Phänomen seinen heutigen Namen. Bar El behandelte seitdem über 400 Patienten in der psychiatrischen Klinik Kfar Saul, wo den Rahels und Davids mittlerweile sogar eine eigene Abteilung gewidmet ist.

Auch psychisch nicht vorbelastete Menschen können sich dem Reiz der uralten Stadt gelegentlich nicht entziehen und stellen in der Klinik eine besonders ​interessante Gruppe dar. „Irgendetwas ist mit mir geschehen", beginnen sie oft das erste Gespräch ihrer Psychotherapie.

Vor allem während der christlichen und jüdischen Feiertage wird die Stadt von Heilbringern jeder Couleur heimgesucht. „Sie alle haben eine Mission, wenn sie hierher kommen, warnen vor dem Weltuntergang oder kündigen die Apokalypse an", erzählte der Psychiater  ​Moshe Kalian der ​Zeit. Er forscht seit über 30 Jahren über dieses Krankheitsbild und veröffentlichte das Buch Jerusalem of Holiness and Madness.

Die Propheten der Neuzeit werden von der Aura der Stadt Davids geradezu vergiftet. Sie suchen die übernatürliche Erfahrung und geben sich besonders gern der mystischen Atmosphäre der nächtlichen Klagemauer hin.

Vielleicht gibt sich in euer Familie ja auch jemand als Heiliger aus, als Nikolaus zum Beispiel. Doch seid gewiss, der Wahn ist nur vorübergehend.

Frohe Weihnachten!

Psychomania ist eine neue Motherboard-Kolummne über Neurosen des Alltags. Schließlich gibt es keinen Wahnsinn, den es nicht gibt—und die Grenzen zwischen gesund und pathologisiert sind fließend.