So fühlt es sich an, mit 29 noch ungeküsst zu sein
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So fühlt es sich an, mit 29 noch ungeküsst zu sein

In Berlin gibt es eine Selbsthilfegruppe für Erwachsene, die noch nie Sex und eine Beziehung hatten. Einer von ihnen erzählt.

Georg, 29, sieht aus wie Tausende andere Männer in Deutschland: dunkler Pulli, roter Schal, Brille, die Augen dahinter wach und blau. Vielleicht ist er schüchterner als der durchschnittliche Kerl. Vielleicht etwas ruhiger, verkopfter. In unserer Gesellschaft ist es schwer vorzustellen, dass er noch nie eine Freundin oder einen Freund hatte. Noch nie einen Kuss bekam. Noch nie Sex hatte.

Die Hälfte der Deutschen hat spätestens im Alter von 17 Jahren ihr erstes Mal erlebt. Bei den 21-Jährigen hatten bereits 89 Prozent Sex. Erwachsene, die keinerlei romantische oder sexuelle Erfahrungen haben, nennen sich selbst Absolute Beginner. In Deutschland lebten im Jahr 2015 etwa 16,87 Millionen Menschen in Single-Haushalten. Wie groß der Anteil der Absoluten Beginner darunter ist, lässt sich schwer sagen – denn sie sprechen in den seltensten Fällen öffentlich darüber. In dem Buch Und wer küsst mich? von Maja Roedenbeck schätzt der Experte Wolfgang Cronrath die Anzahl auf etwa zehn Prozent.

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In Berlin gibt es eine Selbsthilfegruppe, in der Absolute Beginner sich über ihr Leben austauschen. Georg ist einer von ihnen. Und er heißt nicht wirklich so. Er hat VICE gebeten, seinen Namen zu ändern: "Die Scham ist zu groß." Er lebt alleine in Berlin und arbeitet im Bereich Online-Marketing.


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"Ich kann die Sprüche nicht mehr hören: 'Jeder Topf hat einen Deckel!' – 'Du musst nur die Richtige finden.' – 'Schon mal Onlinedating probiert?' Oder: '2017 klappt es bestimmt.' Seit Jahren höre ich das schon. Passiert ist nichts.

Körperlich bin ich einer Frau noch nie näher gekommen als Kuscheln. Mittlerweile traue ich mich, auch mal nach einem Date zu fragen. Es geht dann nur nie weiter. Ich weiß einfach nicht, wie ich mich Frauen gegenüber verhalten soll, wenn ich mit ihnen alleine bin. Bei einem Treffen war es furchtbar verkrampft und keiner wusste so recht, was er sagen oder tun sollte. Ein anderes Mal habe ich mich im Urlaub gut mit einer Frau verstanden und auch versucht, meinen Arm um sie zu legen, aber sie hat mir erklärt, dass sie schon jemanden hat. Oft deute ich auch Signale falsch. Frauen sehen mich häufig einfach als einen Freund.

Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich ein schüchterner, introvertierter Typ bin. Das war ich schon immer, allerdings früher deutlich stärker. Ich habe lieber ein Buch gelesen oder vor dem Computer gesessen, statt auszugehen. Dabei habe ich mich schon früh verliebt, so mit zehn oder elf. Aber ich habe es immer für mich behalten. Mit den Jahren habe ich mich immer stärker nach einer Beziehung gesehnt. Erst dachte ich, das kommt schon noch, es braucht nur Zeit. Aber mittlerweile frage ich mich an schlechten Tagen: 'Wird es sich überhaupt jemals ändern? Werde ich mal eine eigene Familie haben?' Dabei würde mir eine Affäre fürs Erste ja schon reichen. Ein Kuss, irgendwas, das über das erste Treffen hinausgeht.

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Am schlimmsten ist das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Es fehlt mir einfach etwas, das für andere selbstverständlich ist. Natürlich bekommt meine Familie das auch mit. Früher haben sie mich noch gefragt, ob ich eine Freundin hätte, aber jetzt haben sie damit aufgehört. Sie wissen, dass es ein sensibles Thema für mich ist, und wenn ich ehrlich bin, sind sie in dieser Hinsicht kein emotionaler Beistand. Außer ihnen, meinen engsten Freunden und den anderen ABs weiß keiner Bescheid, dass ich noch nie eine Freundin oder sexuelle Erfahrungen hatte.

Ich habe schon Angst, dass es jemand mitbekommt. Ich weiß nicht, wie andere darauf reagieren würden, habe keine Lust auf betretenes Schweigen oder Mitleid oder eben diese Topf-und-Deckel-Sprüche. Zum Glück hat mich auf der Arbeit noch niemand darauf angesprochen. Aber neulich bei einem Abend im Café hat eine Bekannte ganz selbstverständlich in die Runde gefragt, wie wir den Valentinstag verbracht haben. Ich war heilfroh, dass andere zuerst geantwortet haben, bevor ich etwas hätte sagen müssen. Klar hätte ich antworten können, dass ich Single bin. Aber, dass es für andere Menschen eine einfache Small-Talk-Frage ist, macht mir zu schaffen.

In solchen Situationen wünsche ich mir besonders eine Freundin. Oder auf Partys, wenn Pärchen von ihren Wochenendausflügen erzählen oder ihren Reisen zu zweit. Ich könnte dann höchstens vom Urlaub mit der Singlereisegruppe erzählen. Zweimal bin ich mitgefahren und es war toll, wie offen die Menschen waren. Gelaufen ist aber nichts.

Vor drei Jahren habe ich beschlossen, aktiver zu werden und etwas zu ändern. Durch das Buch von Maja Roedenbeck habe ich den 'AB-Treff' – ein Forum für Absolute Beginner – entdeckt und bin dann zur Selbsthilfegruppe gegangen. Bei unseren Gruppentreffen sind wir meist acht Erwachsene zwischen 25 und 45 Jahren, ungefähr die Hälfte sind Frauen. Was mir aufgefallen ist: Die ABs sind oft überdurchschnittlich gebildet und sehr klug – aber eben wie ich meist introvertiert und verkopft. Und viele sind sehr freundlich – fast übertrieben nett. Ich denke, viele von uns haben das Problem, dass wir Dinge tun, nur um anderen zu gefallen. Ich hatte auch Dates mit ein paar AB-Frauen. Die Vorstellung, dass zwei unerfahrene Menschen die Liebe gemeinsam entdecken, finde ich immer noch schön. In der Praxis funktioniert es aber nicht so leicht. Wenn beide keine Ahnung haben, macht niemand den ersten Schritt.

Die AB-Gruppe trifft sich jeden Sonntag für etwa zwei Stunden. Zuerst erzählt jeder, wie die Woche war und wie es ihm geht. Manche arrangieren sich gerade ganz gut mit ihrer Einsamkeit, andere schlechter. Manche hatten noch nie Kontakt zum anderen Geschlecht, andere hatten schon Sex, aber keine Beziehung. Mancher ist zu einer Prostituierten gegangen, um wenigstens einmal zu erleben, wie es ist. Für mich kommt Sex gegen Bezahlung nicht in Frage – zumindest jetzt nicht –, obwohl ich schon mal mit dem Gedanken gespielt habe. Aber die Hürde, es wirklich zu tun, ist dann doch noch zu groß.

Wenn ich an die Zukunft denke, so in 10, 20 Jahren, sehe ich mich mit Frau und Kindern. Ich hoffe einfach, dass ich bald eine Partnerin finde. Ich fühle mich nämlich sehr bereit für eine Beziehung. Und reifer als je zuvor. Ich warte nicht auf die perfekte Frau, sondern einfach auf jemanden, mit dem ich mich gut verstehe und Dinge gemeinsam unternehmen kann. Ich bin in einem Sportverein, gehe öfter auf Kulturveranstaltungen, Lesungen und Konzerte – aber da fühle ich mich auch manchmal einsam. Am meisten fehlt mir einfach jemand, der zu Hause auf mich wartet – oder auf den ich warten kann."

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