„Ich habe mir das auch anders vorgestellt"—Neustädters EM-Chronik Teil 4
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EM 2016

„Ich habe mir das auch anders vorgestellt"—Neustädters EM-Chronik Teil 4

Heute spricht Roman Neustädter über einen möglichen Turnier-Ausschluss wegen der Hooligan-Krawallen, die Rolle als Sündenbock in den russischen Medien und kritische Fan-Kommentare auf Facebook.

Schalke-Profi Roman Neustädter spielt für Russland bei der EM. Für VICE Sports berichtet er hinter den Kulissen seines ersten Turniers. Heute spricht er über einen möglichen Turnierausschluss wegen der Hooligan-Krawallen, die Rolle als Sündenbock in den russischen Medien und die kritischen Fan-Kommentare auf Facebook.

Die letzten Tage waren turbulent für mich. Die Strafe der Uefa gegen uns und die zahlreichen Stimmen dazu haben wir im Team natürlich auch mitbekommen. Wir hoffen einfach, dass wir nicht vom Turnier ausgeschlossen werden und durch einen Sieg gegen Wales vielleicht sogar noch weiterkommen können. Da es keine größeren Ausschreitungen mehr wie gegen England gab, müssen wir aber, denke ich, nicht mehr so große Angst über eine Disqualifikation haben. In der Mannschaft wurden die Vorfälle aber natürlich besprochen und wir fanden die Bilder schon krass. Für mich und einige Mitspieler war das eine völlig neue und heftige Dimension. Wir können nur hoffen, dass diesen Leuten der drohende Ausschluss unseres Teams bewusst ist und sie sich jetzt zusammenreißen.

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Unser zweites Gruppenspiel gegen die Slowakei haben wir leider verloren. Die zwei Gegentore fielen aus dem Nichts, nachdem wir vorher einige gute Torchancen hatten. Die Tore haben uns in der ersten Hälfte völlig aus der Bahn geworfen und wir waren alle irgendwie geschockt. Weil mein Zusammenspiel auf der Sechs mit Golovin nicht so funktioniert hat, wie wir uns das vorgenommen haben, mussten wir beide zur Halbzeit raus. In der zweiten Hälfte stand die Slowakei dann hinten drin und wir sind ständig angelaufen. Trotz einiger Chancen reichte es leider nur zu einem Tor.

Einige Medien haben vor allem meine Leistung nach dem Spiel stark kritisiert. So ganz neu ist mir diese Situation natürlich nicht, da ich so etwas ja irgendwie schon aus Schalke kenne. Kritik gehört dazu. Ich habe mir das natürlich auch anders vorgestellt.Ich kann meine Leistung einschätzen und weiß, dass ich besser spielen kann. Von mir wird mehr erwartet und ich erwarte auch selbst mehr von mir. Ich bin neu dazugekommen und muss täglich mit guten Leistungen zeigen warum.Ich werde mit dem ganzen Team gegen Wales alles daran setzen zu gewinnen.

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Ein ganz anderes Anliegen habe ich auch noch: Auf Facebook kritisieren mich immer wieder viele Leute dafür, dass ich jetzt für Russland spiele, und werfen mir viele politische Anschuldigungen an den Kopf. Es sind die ganz eigenen Gedanken von den Leuten und ich muss mich damit wohl abfinden. Ich bin mit diesem Land verwurzelt und stolz, für Russland auflaufen zu dürfen. Aber manche Sachen kann man sich nicht aussuchen. Ich habe meine eigene private Meinung wie jeder andere Mensch auch. Ich bin aber kein Politiker und vertrete somit auch nicht die politische Ebene Russlands. Ich will nicht, dass irgendjemand etwas falsch versteht oder es einfach aus dem Kontext herausreißt. Das machen viele Medien aber nun mal gerne. Ich bin Fußballer und versuche mich auf meine Leistung auf dem Platz zu konzentrieren, damit wir das nächste Spiel gewinnen. Alles andere steht auf einem anderen Blatt Papier.

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Wir haben jetzt den Anspruch an uns selbst, das letzte Spiel gegen Wales zu gewinnen. Dann haben wir vielleicht noch die Chance, in die nächste Runde zu ziehen—mehr zählt erstmal nicht.

Liebe Grüße,

Roman.

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Protokolliert von Benedikt Nießen