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Sülze

Vor 100 Jahren hat man sich wegen Aspikprodukten noch die Köpfe eingeschlagen

Es geht um die Sülze—während man früher noch auf die Barrikaden ging für diese Fleischware, macht man heute einen großen Bogen herum. Dabei ist es gar nicht schlecht, wenn die Qualität und die Marinade stimmt.

Vor 95 Jahren kommt es in Hamburg zu den sogenannten „Sülzeunruhen". Am 23. Juni 1919 zerbricht vor der Fleischwarenfabrik „Heil & Co." in Hamburg ein Fass mit verfaulten Tierkadavern. Passanten mutmaßen, dass die Kadaver zu „Heils Delikatesssülze" verarbeitet werden.

Daraufhin stürmen viele Menschen die Fabrik und finden zu ihrer Empörung tote Katzen, Ratten und Hunde in der Fabrik. Dieser Lebensmittelskandal direkt nach dem Ersten Weltkrieg in einer ohnehin aufgeheizten politischen Stimmung führte zum „Hamburger Sülzeaufstand", bei dem 80 Menschen starben. Der Fleischfabrikant Heil, der nur knapp einer Lynchjustiz entgangen war, musste drei Monate ins Gefängnis.

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Das Aspik, das die Fleischfetzen zusammenhält, gewinnt man, indem man kollagenreiche Schwarten, Knorpel und Knochen auskocht. Im Prinzip ist es Gelatine. Und die hat eine lange Geschichte: Schon die heilige Hildegard von Bingen (1098-1179) hat um die Heilkraft der Gelatine gewusst. Sie empfahl, gegen Gelenkschmerzen einen ausgekochten Kalbsknorpel zu verzehren.

Eine willkommene Abwechslung für den Abendtisch
„Mary Hahns Kochbuch" von 1952 schätzt Fleisch, Fisch oder Eier in Gelee als „eine Zierde für jede Tafel", die eine „willkommene Abwechslung für den Abendtisch" sei. Überschüssiges Aspik könne auch gewürfelt als Dekoration einer Aufschnitt-Platte dienen.

Aspikgerichte und Sülzen sind Produkte aus einer anderen Zeit. Aus einer Zeit, in der Mary Hahn in ihrem Kochbuch „Hausfrauen" darauf hinweist, dass die Zutaten für die Aspikherstellung in jedem „Kolonialwarengeschäft" erhältlich seien.

Ein Kolonialwarengeschäft ist höchstens noch im Namen des Einzelhandelsverbunds „Edeka" („Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin") zu finden. „Irgendetwas in Aspik" gibt es bis heute: Bei Edeka, jedem anderen Supermarkt, beim Discounter und in der Fleischerei.

Zum Beispiel bei „Wurst und Schinken Haase" in der Marheinekehalle in Kreuzberg. Hier gibt es Sülze, Corned Beef und eine Sülzwurst mit Gemüse. Auf die Frage, ob sie das Phänomen Aspik erklären könnten, schauen drei Metzgerinnen ungläubig über die Frischetheke. „Da müssen Sie mal das Internet fragen."

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Oder den nächstgelegenen Bio-Metzger Hoffmann: Hier gibt es Fleisch und Wurst aus artgerechter und umweltschonender Tierhaltung. Hoffmann bietet als einziges Aspikprodukt im Sortiment Sülze an. Nur Sülze?

Im Supermarkt: Große Auswahl, viel Aspik
Dass es im Supermarkt mehr Aspik gibt, liegt an der größeren Auswahl und daran, dass dort das verarbeitete Fleisch aus Massentierhaltung stamme. Macht Sinn: Mehr Tiere bedeutet mehr Fleisch bedeutet mehr Produktvarianten. Tatsächlich gibt es im Supermarkt-Kühlregal zum Beispiel Hähnchenbrust mit Ananas oder Kochhinterschinken mit Champignons in Aspik. Außerdem Meerrettich-Schinkenröllchen in Aspik.

Und die Krone der Aspikschöpfung: Sülzkotelett. Ein Stück Kasseler, das rundherum mit Gurken-, Ei- und Karottenscheibe verziert ist – alles in Aspik versteht sich.

Ob Sülze, Aspik oder Gelatine—von den „Sülzeunruhen" über das Sülzkotelett aus dem Kühlregal bis auf Omas Esstisch bietet die gummiere Masse, die man in eine Form presst und wieder herausstürzt, auch heute noch jede Menge Konfliktpotential. Aber probiert ein Stück Sülze doch mal mit einer Marinade aus ausgezeichnetem Kürbiskernöl, Senf, Apfelessig und Meerretich. Das ist unerwartet gut.