Im Regal steht ein Fußball, hinter dem Schreibtisch eine Porzellanfigur und in einem Schrank hängt eine Juso-Fahne. All diese Dinge strahlen in Regenbogenfarben. Selbst im Twitter-Profil: ein Regenbogen. Willkommen in der Welt von Kevin Kühnert.
Aus dem sechsten Stock des Willy-Brandt-Hauses, mit Blick auf den Berliner Tiergarten, lenkt der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende seine politische Welt. Mit 15 trat er der SPD bei, wurde 2017 zum Juso-Bundesvorsitzenden gewählt und zog 2019 ins Willy-Brandt-Haus ein. Zwischenzeitlich outete er sich 2018 öffentlich als schwul. “Es ergab für mich überhaupt keinen Sinn, meine Sexualität geheim zu halten”, sagt er heute.
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In Berlin-Lankwitz, im gutbürgerlichen Südwesten der deutschen Hauptstadt, wuchs Kevin auf. Er bewegte sich meist zwischen den Bezirken Schöneberg, Tempelhof und Steglitz. Schule, Hobbys, Freunde – alles gut behütet, sicher und geordnet. Seine Eltern sind bis heute glücklich verheiratet; der Vater Beamter, die Mutter im Jobcenter tätig. Die Erkenntnis, schwul zu sein, war für Kevin ein schleichender Prozess. “Es gab nicht diesen einen Aha-Moment, in dem alles klar geworden ist.” Er brauchte den Kontrast zu anderen Teenagern. Heterosexuellen Teenagern. Im Alter von zwölf Jahren fühlte er sich das erste Mal zu Jungen hingezogen. “Ich habe auf einmal Emotionen in mir entdeckt, mit denen ich arbeiten musste. Ich hatte mich bis dato noch gar nicht mit meiner Sexualität auseinandergesetzt – es war nicht mal die Vermutung da, dass ich schwul sein könnte.”
Je älter er wurde, desto präsenter wurde das Thema Homosexualität in seinem Leben. “In der Schule hat man als Teenager hin und wieder das Wort ‘schwul’ gehört. Da fing ich an, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, forschte im Internet und merkte: Das könnte auf mich zutreffen.” Manchmal wurde “schwul” auch als Schimpfwort benutzt, Kevin hatte aber das Glück, in einer liberalen Gegend zu leben, in der Homofeindlichkeit kein großes Thema war: “Bei uns war das nicht so heftig wie anderswo. Auch mein Umfeld in der Schule hat mir nie den Eindruck vermittelt, dass Homophobie jemals ein ernstzunehmendes Problem wäre.”
Kevin forschte im Internet, was Homosexualität eigentlich bedeutet. Er klickte sich durch Foren und Artikel. Je mehr er las, desto mehr konnte er sich damit identifizieren und seine Gefühle besser verstehen. Durch seine Internetrecherche kam es außerdem zum ersten Coming-out. “Meine Mutter suchte damals das Gespräch. Vielleicht hat sie im Browser-Verlauf etwas gefunden, was ich über meine Identität nachgeschaut hatte. Ich war in meinem Zimmer. Sie kam rein und wollte auf ungelenke Art etwas besprechen.” An genauere Details kann sich Kevin nicht mehr erinnern. Was seine Mutter zum Beispiel gesagt hat, was er geantwortet hat. “Im Nachhinein würde ich sagen, dass mein Schwulsein auf jeden Fall ein Thema zwischen meinen Eltern war. Und auch, dass es die Aufgabe meiner Mutter war, das Thema bei mir anzusprechen.” Kevin weiß aber noch, dass das Gespräch mit seiner Mutter sehr emotional war. Er hatte keine Lust auf eine weitere emotionale Runde in der Coming-out-Achterbahn, also sprach seine Mutter anschließend mit seinem Vater.
Mit 18 entdeckte er Dating-Seiten wie GayRomeo und das schwule Nachtleben in Berlin mit seinen unzähligen Bars und Clubs. “Mit 18 habe ich mich bei GayRomeo angemeldet, das ist das Mindestalter. Da war ich sehr penibel. Zuvor bin ich natürlich nicht auf die Idee gekommen, ein falsches Alter anzugeben.” Auf GayRomeo fand er Freunde, mit denen er die Berliner Schwulenszene erkunden konnte. “Das SchwuZ war unser Wohnzimmer. Wenn man nicht wusste, wohin mit sich, ist man dorthin gegangen. Das war unser Treffpunkt.” Damit grenzte sich Kevin auch ganz bewusst von anderen Teilen der Berliner Schwulenszene ab. “Wir gehörten damals nicht in den Nollendorfkiez, da waren eher die Älteren unterwegs. Aus den Teenie-Bars im Prenzlauer Berg waren wir herausgewachsen. Und somit waren wir am Mehringdamm angekommen.” Man traf sich zum Vorglühen in der Melitta Sundström Bar, zog später zum Feiern in den Keller des SchwuZ weiter. Umgeben von Berliner Institutionen wie dem Yorck-Kino, Mustafa’s Gemüse-Kebap und dem Bergmannkiez, wo Hipster ihre Deko-Kristalle kaufen und Touristen in Secondhandshops stöbern, tanzte er bis frühmorgens. “Bis wir rausgeworfen wurden”, erinnert sich Kevin.
“In der SPD, wie ich sie erlebe, ist die Sexualität vollkommen egal. Interessiert keinen. Wir sind fünf queere Evolutionswellen weiter.”
Damals tanzte und flirtete Kevin in den Berliner Schwulenclubs, heute sitzt er in seinem eigenen Büro im Willy-Brandt-Haus. Sein Leben und seine politische Laufbahn sind von einem SPD-Politiker besonders stark geprägt worden: “Die Geschichte von Klaus Wowereit hat mich wirklich sehr angetrieben. Nicht damals, 2001, zu seinem Coming-out – da war ich noch etwas zu jung. Aber im Rückblick war dieser Satz sehr prägend: ‘Ich bin schwul und das ist gut so.’” Zu diesem Zeitpunkt war offen schwul zu sein für Politikerinnen eine große Ausnahme. “Außerdem wurde er von Boulevardjournalistinnen indirekt erpresst: Entweder du outest dich oder wir tun es. Hoch beeindruckend, wie er das unter Druck gemanagt hat.” Nicht nur Kevin wurde von Klaus Wowereits Coming-out beeinflusst, sondern auch seine Heimatstadt Berlin. “In den ersten fünf Wowereit-Jahren ist sehr viel aufgebrochen, die Stadt ist internationaler geworden. Man dachte damals, dass mit der Industrie nicht viel zu holen war – also wollte man sich als Feier- und Kulturstadt etablieren. Klaus Wowereit hat das mit verkörpert.”
Heute ist der Umgang von Politiker*innen mit ihrer Homosexualität wesentlich offener – dank Klaus Wowereit und auch dank Kevin.
“In der SPD, wie ich sie erlebe, ist die Sexualität vollkommen egal. Interessiert keinen. Wir sind fünf queere Evolutionswellen weiter.” Die Schwusos, die vor 43 Jahren gegründet wurden, heißen heute zum Beispiel SPD queer – “weil es nicht nur um schwule Männer geht, sondern um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt”. In der SPD versuche man, möglichst alle marginalisierten Gruppen zu stärken, nicht nur queere Menschen, erklärt Kevin. “Menschen mit einer nicht weißen Hautfarbe machen im Schnitt viel heftigere Erfahrungen im Alltag durch, als ich sie mache. Nicht, dass es keine Diskriminierung gegenüber queeren Menschen gäbe. Natürlich gibt es die. Und ich erlebe das auch – aber ich habe nicht das Gefühl, auf der Skala der Ungleichbehandlungen auf dem vordersten Platz zu stehen.”
“Wenn du 15 Leute anflirten musst, bis ein Treffer dabei ist, ist das unangenehm. Deswegen sind Safe Spaces so wichtig.”
Das heißt natürlich nicht, dass alles gut ist. Es ist noch viel Arbeit nötig, bis queere Menschen sicher in Deutschland leben können. Kevin glaubt, dass die letzte bleibende Domäne der Homophobie der körperliche Angriff auf gleichgeschlechtliche Paare im öffentlichen Raum ist. “Wenn irgendwelche testosterongesteuerten Typen in Nord-Schöneberg unterwegs sind und rund um den Nollendorfplatz ein schwules Pärchen sehen – das ist durchaus eine Situation, in der man mit einer Anfeindung rechnen kann.” Deswegen spaziert auch Kevin nicht händchenhaltend durch die Berliner Straßen.
“Vielleicht habe ich da Komplexe. Ich sehe immer eine Exotisierung dahinter. Wenn man 20 Paare sieht, die Händchen halten, und ein homosexuelles Paar darunter ist, merken sich alle das homosexuelle Paar. Niemand würde sagen: ‘Da sind gerade 19 Hetero-Pärchen an mir vorbeigelaufen.’ Man sticht einfach heraus.” Und das möchte Kevin nicht. “Ich weiß, dass ich mich damit einschränke, wenn ich die Hand eines Mannes nicht halte. Daran sieht man, dass eigentlich überwundene Diskriminierungsmuster im Kopf erhalten bleiben.”
Bisher müssen sich queere Menschen in geschützte Räume zurückziehen, um sicher zu sein: Clubs, Bars, Treffpunkte wie Schwulenzentren und Dating-Plattformen. “Während der Corona-Pandemie habe ich noch stärker gemerkt, wie sehr die Szene ihre Treffpunkte braucht. Wenn man davon ausgeht, dass sechs oder sieben Prozent aller Menschen homosexuell sind, dann gestaltet sich das Flirtverhalten schwierig: Wenn du 15 Leute anflirten musst, bis ein Treffer dabei ist, ist das unangenehm. Deswegen sind Safe Spaces so wichtig.” Vor allem für Menschen, die sich im Coming-out-Prozess befinden.
“Ich stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich damals ein Jahr nicht rausgekonnt hätte – so wie das während der Pandemie der Fall war. Die Leute mussten zu Hause bleiben und soziale Interaktionen eingrenzen. Das war ein heftiger Einschnitt und zwang viele Menschen dazu, wichtige Identitätsfragen mit sich selbst auszumachen.”
Damit Teenager diese Fragen eben nicht mit sich allein ausmachen müssen, braucht es unter anderem öffentliche Vorbilder. Kevin outete sich 2018 im Berliner Szenemagazin Siegessäule. Es folgten Berichte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Auftritte bei Markus Lanz und in anderen Talkshows. “Persönliche Informationen wie meine Sexualität wollte ich eigentlich gar nicht preisgeben. Ich habe immer gesagt, ich möchte keine Betroffenheitspolitik machen. So funktioniert das aber nicht. Ich habe Privilegien durch meinen Beruf – und Öffentlichkeit bringt Verantwortung mit sich.” Das schließt für ihn ein, dass seine Sexualität die Öffentlichkeit sehr wohl etwas angeht. So wie bei seinem Vorbild Klaus Wowereit. “Ich kann dadurch selbst ein Vorbild sein. Teenager schreiben mir und bitten mich um Ratschläge für ihr Coming-out, weil sie ihren Freund nicht mit nach Hause bringen möchten oder Angst haben, rausgeworfen zu werden.”
Das Coming-out ist weiterhin für sehr viele Menschen ein großes Thema. Nicht jeder hat das Privileg, so wie er offen seine Sexualität ausleben zu können – mag es an gesellschaftlichen, kulturellen oder religiösen Stigmata liegen. Kevin sieht sich heute in der Verantwortung, für diese Menschen da zu sein und ihnen Orientierung zu bieten. Allgemeine Tipps für Coming-outs kann er allerdings nicht geben. “Das lässt sich nicht pauschalisieren. Ich kann nicht von meinen Eltern auf andere schließen, jeder Fall ist anders. Häusliche Gewalt ist ein großes Thema in Deutschland. Das Coming-out kann dann zur Bedrohung werden. Die Risikoeinschätzung muss jeder für sich selbst vornehmen. Wichtig ist zu wissen, dass es professionelle Hilfe gibt.” Er empfiehlt, sich im Internet zu informieren. Vereine, wie beispielsweise Liebe wen du willst, bieten Hilfe per Chat an. “Die Hemmschwelle, eine Nachricht im Internet zu verschicken, ist sehr gering. Das macht das Ganze so erfolgreich. Jugendliche können sich dort melden und anonym von ihren Sorgen berichten.”
Vor allem an Schulen möchte Kevin das Angebot für queere Teenager stärken. Zumindest sollen Plakate von Vereinen und Anlaufstellen, die Jugendliche kontaktieren können, zur Verfügung gestellt werden. Außerdem hofft er, dass eine gesetzliche Gleichstellung für queere Menschen erreicht wird: in den Punkten Blutspenden, Adoption und Transsexuellengesetz. Es kann einfach nicht sein, dass Männer, die mit Männern schlafen, in Deutschland nur unter strengen Auflagen Blut spenden dürfen und lesbischen Ehepaaren durch die Stiefkindadoption immer noch der Wunsch nach einem Kind erschwert wird. Und auch, dass sich transidente Menschen, die nach dem Transsexuellengesetz von 1980 stigmatisiert werden, zuerst eine geistige Krankheit attestieren lassen müssen, um die Geschlechtsanpassung bewilligt zu bekommen, ist für Kevin nicht akzeptierbar. Wie sein Büro im Willy-Brandt-Haus hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt zu gestalten: bunter und gerechter.
Coming-out – Queere Stars über den wichtigsten Moment in ihrem Leben ist im riva Verlag erschienen.