In der ‘Langstrassenwoche’ widmen wir uns einzig und allein der schillerndsten Strasse der Schweiz. Alle bisherigen Beiträge findest du hier.
Die Gentrifizierung der Langstrasse ist real: Zahlen der Stadt Zürich aus den letzten Jahren belegen, dass hier die Bodenpreise steigen, der soziale Status der Bewohner zunimmt und gleichzeitig mehr und mehr Ausländer wegziehen. Wie kam es zu diesem Wandel an der Langstrasse? Und Ist diese Entwicklung noch aufzuhalten? Um diese Fragen zu beantworten, bin ich mit Rolf Vieli verabredet. Er betreute über zehn Jahre das Projekt Langstrasse Plus, das im Zürcher Quartier Drogen, Dreck und Sexarbeiterinnen reduzierte.
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Ich treffe Rolf Vieli im vorläufigen Epizentrum der Gentrifizierung der Langstrasse: Dem 25-Hours-Hotel neben der Bahnhofsunterführung. Es ist ein dunkel schimmerndes Gebäude mit automatischen Schwingtüren und bunten Leuchtbuchstaben hinter der Rezeption. Der 69-Jährige betritt die Lobby in Sneakers und mit Vögele-Plastiksack in der Hand. Heraus zieht er einen Stapel Papier. Es ist eine ausgedruckte Powerpoint-Präsentation. Bevor er mir das Interview geben will, besteht er darauf, sie mir zu zeigen. Blatt für Blatt erklärt er mir die Geschichte der Langstrasse (schon seit dem 13. Jahrhundert Zürichs Abfallkübel) und deren Bewohner (höherer Ausländeranteil als Schwamendingen) und warum er das Wort Gentrifizierung hasst (Euphemismus!). Nach einer halben Stunde darf ich endlich mit dem Interview loslegen.
VICE: Herr Vieli, was ist Ihre Beziehung zur Langstrasse?
Ich bin im Langstrassenquartier aufgewachsen. Ich habe den Sinn, die Geschichte und die Entwicklung dieses Ortes aus der Perspektive eines Menschen kennengelernt, der wie viele Bewohner hier Armut erlebt hat. Ich war Leiter des Projekts Langstrasse Plus und des Projekts Rotlicht. Davor war ich Stadtammann, Buchhändler, Journalist und habe am Letten und Platzspitz mit Drogensüchtigen gearbeitet.
Wie wurden Sie Projektleiter von Langstrasse Plus?
Der Hauptgrund war wohl, dass ich bei den ansässigen Geschäftsbetreibern und Anwohnern einen guten Ruf hatte, im Quartier gut vernetzt war und mich durch meine Tätigkeit als Therapeut mit Drogensüchtigen auskannte. Im Jahr 2000 an Weihnachten kam dann der Stadtrat auf mich zu und fragte, ob ich die Projektleitung übernehmen wolle.
Warum wollte die Stadt die Langstrasse überhaupt verändern?
In der Bäckeranlage herrschten Zustände wie zu den schlimmsten Zeiten am Letten oder Platzspitz: Hunderte Dealer und Süchtige bevölkerten ununterbrochen das Quartier. An jedem Brunnen wurden Spritzen gewaschen, in der Nähe von Schulen warteten Prostituierte auf Kunden und Kinder wurden auf Pausenplätzen als Heroin- und Kokaindealer angeworben. Gewalt wurde sichtbar und alltäglich. Das machte den Bewohnern natürlich Angst, sie wollten nur noch weg. Vor allem ältere Leute trauten sich nicht mehr, ihre Häuser zu verlassen. Der Umsatz der Quartiergeschäfte brach innert kürzester Zeit um 50 bis 70 Prozent zusammen. Die Stadt hatte aber auch endlich gemerkt, dass die Durchmischung des Quartiers nicht mehr stimmt. Die Anzahl Menschen am Rand der Gesellschaft vergrösserte sich mehr und mehr.
“Es gibt in Zürich teilweise eine unglaubliche Arroganz gegenüber ärmeren Menschen.”
Sie sollten also vor allem die Entstehung einer neuen offenen Fixerszene verhindern?
Ja. Man muss meine Aufgabe aber noch in einem grösseren Zusammenhang sehen. Das Quartier wurde schon immer von aussen als negativ beurteilt. Zum Teil, weil es viele ärmere Leute hatte, keine Grünflächen, keine Gewässer. Diese Art von Quartier ist immer toleranter gegenüber Lärm und Dreck. Es gab und gibt weniger Reklamationen bei der Polizei. Wenn am Paradeplatz plötzlich 200 Dealer auftauchten, käme die Polizei sofort. Im Langstrassenquartier hiesse es: “Ach, die sind sich das ja gewöhnt.” Es gibt in Zürich teilweise eine unglaubliche Arroganz gegenüber ärmeren Menschen. Diese zu bekämpfen, war ebenfalls ein Anliegen meiner Arbeit.
Was haben Sie konkret getan?
Das allererste war fragen, fragen, fragen und sich dann die Situation der Anwohner anschauen. Ich habe zum Beispiel in ihren Wohnungen übernachtet. So konnte ich mir ein genaues Bild der Zustände machen. Wie ist das, wenn man morgens aus dem Haus läuft und über einen Haufen Spritzen stolpert? Dann haben wir uns die Hot Spots angeschaut. Wo sind die schlimmsten Orte und was können wir dagegen machen? Die Bäckeranlage war der neue Needle Park. Der Limmatplatz ein Ort, an den niemand gerne ging. Die erste grosse Aktion war, dass wir die Bäckeranlage für die Bevölkerung zurückerobern wollten. Das klingt so militärisch, aber das war so. Wir wollten, dass alle Menschen der Bevölkerung diesen Ort wieder nutzen konnten.
Wieso hat das Konzept funktioniert?
Am Anfang war es super schwierig. Niemand glaubte mehr daran, dass es funktioniert und eine Verbesserung möglich ist. Wenn die Hoffnung schwindet, muss man in kürzester Zeit erfolgreich sein. Darum war die Verwandlung der Bäckeranlage so wichtig. Wir haben es mit der Zeit geschafft, mit den Medien die Realität abzubilden, nicht nur das Schlechte oder nur das Gute. Wir konnten aufzeigen, wie es ist, wie es war und wie es sein wird. Und Versprechen einhalten. So wuchs das Vertrauen der Bevölkerung in das Projekt und unsere Arbeit. Und dann geschah etwas Wichtiges: Die Kulturschaffenden und die Gewerbetreibenden haben mit Kulturaktivitäten wie dem Kreislauf 4+5 und dem Architekturform gezeigt, wie viel Zukunft im Quartier steckt. Kreativität entsteht hauptsächlich im urbanen Raum wie dem Aussersihl. Dank dieser Grundlagenarbeit strömen heute auch so viele Kreative ins Quartier.
Was kritisieren Sie heute am Projekt Langstrasse Plus?
Das ist schwierig zu sagen. Es war ein Prozess, in dem man wahnsinnig schnell reagieren musste. Womit ich definitiv unzufrieden bin, ist die Immobilien- und Wohnsituation. Das ist aber nicht nur ein Problem des Quartiers, sondern der ganzen Stadt. Wir müssen mehr Fragen stellen: Wo wohnen wir in der Zukunft? In der Stadt oder vertrieben in der Agglomeration? Warum zahlen wir so viel für eine schlechte Wohnung? Wo wohnen eigentlich Menschen, die nicht viel Geld haben? Warum lassen wir diese überbordende Liegenschaften-Spekulation überhaupt zu? Der freie Wohnungsmarkt macht in Zürich 80 Prozent der Wohnimmobilien aus. Günstige Wohnungen sind ein knappes Gut. Ein Teil des Langstrassen-Projekts war darum, dass die Stadt Liegenschaften kauft und sie so der Spekulation entzieht. Wir wollten etwas unternehmen, damit die Normalbevölkerung hier bleiben kann. Wenn die Verdrängung an der Langstrasse in Wiedikon, Schwamendingen und Oerlikon stattfindet, hat das weitreichende Konsequenzen. So steuern wir auf amerikanische Zustände zu: Hier die Reichen, dort die Armen, dazwischen Stacheldraht. Auch wenn wir einige Erfolge hatten – es geschah zu wenig.
“Unsere Hoffnung war der Aufbruch in eine solidarische Gesellschaft. Doch dazu braucht es heute noch viel mehr Menschen, die sich wehren.”
Warum?
Ein Grund: Die politischen Hürden, Ideologie anstelle Pragmatismus. Ein weiterer Grund: Grossgrundbesitzer wie die SBB. Sie bauen Wohnungen mit Preisen in Millionenhöhe und lassen zu wenig Platz für genossenschaftliches Bauen.
Wann ist es zu viel mit der Aufwertung?
Wenn der Charakter eines Quartiers verloren geht. Es ist gut möglich, dass das in den nächsten 20 Jahren passiert. Das ängstigt mich. Die Langstrasse ist ein urbanes Dorf. Und der Kern eines Dorfs ist die Begegnung. Hier herrscht ein anderes Lebensgefühl als in Schwamendingen. Jede Stadt braucht so ein Quartier. Wenn das verloren geht, geht mehr verloren als ein Ort.
Was sagen Sie Leuten, die Sie beschuldigen, für die Gentrifizierung der Langstrasse verantwortlich zu sein?
Ein Politiker der Alternativen Liste hat mir das immer vorgeworfen. Und dabei die Realität und die Möglichkeiten eines städtischen Projekts verkannt. Dabei hatte ich gerade von der Alternative Liste erwartet, uns in der Absicht Liegenschaften zu kaufen zu unterstützen, um die Immobilienspekulation einzudämmen. Ich hatte den Eindruck, für einen Teil der Alternativen Liste war Langstrasse Plus nicht unterstützbar, weil es ein Projekt der Stadt war. Dabei haben wir vieles versucht. Die Sicherung von günstigem Wohnraum war Teil unseres Vier-Säulen-Projektstrategie. Ich hatte eine Liste mit zig “Schmuddelhäusern” und Problemliegenschaften, die die Stadt damals hätte kaufen sollen. Aber die Käufe kamen oftmals nicht zustande, weil die politische Unterstützung fehlte und auch das Geld. Ich erhoffte mir, dass alle politischen Gruppierungen anstelle ideologischer Streitereien gemeinsame Ideen und ein gemeinsames Vorgehen priorisieren. Diese Hoffnung musste ich teilweise begraben.
Lässt sich die Gentrifizierung noch aufhalten?
Nur, wenn wir griffige Mittel gegen die Bodenspekulation hätten. Zurzeit fehlt mir da der Glaube. Was es bräuchte? Mehr Empathie und Ethik in der Gesellschaft. Eine Zukunft für alle, statt schnelles Geld für wenige. Ein Bewusstsein, dass Ausbeutung inhuman ist. Da setze ich viel Hoffnung in einen Teil der jungen Generation. Deren Umweltbewusstsein scheint zu wachsen. Ich war Teil der 68er-Bewegung, bin selber von der Polizei zusammengeprügelt worden (er fasst sich an den Schopf) – Schwartenriss. Unsere Hoffnung war der Aufbruch in eine solidarische Gesellschaft. Doch dazu braucht es heute noch viel mehr Menschen, die sich wehren.