Im Mai 2022 trieb der leblose Körper von Bruno Borges im Industriehafen von Newcastle, Australien. Er trug einen Neoprenanzug und eine hochspezialisierte Tauchausrüstung. Um den 31-jährigen Brasilianer herum schwammen Kokainziegel. Insgesamt 54 Kilo, wie sich später herausstellte. Der Straßenwert in Australien: umgerechnet etwa 13 Millionen Euro.
Hafenmitarbeiter zogen den bewusstlosen Mann aus dem trüben Hafenwasser und leisteten erste Hilfe. Aber auch die herbeigerufenen Rettungskräfte konnten nichts mehr tun. Borges starb noch vor Ort. Die Behörden vermuten, dass Borges und ein weiterer Taucher, Jhoni Fernandes Da Silva, nur Tage zuvor für eine riskante Unterwassermission nach Australien geschmuggelt worden waren. Auf dem abgelegenen Kontinent sind Drogen besonders teuer, entsprechend lukrativ ist der Handel für die Banden.
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Die beiden Brasilianer sollten wohl nachts im Industriehafen 108 Kilo Kokain vom Rumpf des Schüttgutfrachters Areti GR bergen. Das riesige Schiff war die Nacht zuvor aus Argentinien an der australischen Ostküste eingetroffen.
Aber irgendwas ging schief, wahrscheinlich mit dem Kreislauftauchgerät, das Borges bei seinem Tauchgang benutzte, einem sogenannten Rebreather. Diese speziellen Geräte recyceln die ausgeatmete Luft und es steigen keine verdächtigen Luftbläschen an die Wasseroberfläche. Rebreather werden vor allem von Kampfschwimmern verwendet und sind auch für erfahrene Taucher schwer zu bedienen.
Borges Komplize Da Silva und das restliche Koks blieben verschwunden. Die Polizei weiß bis heute nicht, ob er geflohen oder ertrunken ist oder umgebracht wurde.
Nach Borges Tod nahm die australische Polizei den Besitzer einer Superjacht fest: James Blake B. war gerade dabei, in ein Flugzeug nach Singapur zu steigen, mutmaßlich um zu fliehen. Laut Gerichtsunterlagen hatte B. die beiden Brasilianer am 27. April 2022 über das nordaustralische Darwin ins Land geschmuggelt und ihnen die Ausrüstung gekauft. Zwölf Tage später war Borges tot. B. steht wegen Drogen- und Menschenschmuggels vor Gericht. Sein Sohn James muss sich ebenfalls wegen der Einfuhr verbotener Substanzen verantworten. Beide plädieren auf Unschuldig. Der Prozess soll dieses Jahr beginnen.
Bis dahin hatte Borges in Santos gelebt, Brasiliens wichtigster Hafenstadt. Einer seiner Freunde, der seinen Namen hier nicht nennen möchte, beschreibt Borges als “coolen Typen”. Der Freundeskreis habe aber beschlossen, aus Respekt für die trauernde Familie nicht in den Medien über ihren verstorbenen Freund zu sprechen.
Borges war ein begeisterter Surfer und Skateboarder und betrieb eine eigene Abseilfirma, Rope Experience. Davor hatte er als Berufstaucher für die Schiffsindustrie gearbeitet. Auf seiner Brust war ein großer Taucher tätowiert.
Torpedos, Seekästen und andere Unterwasserverstecke
Der Tod des Brasilianers gibt allerdings auch Einblicke in das sogenannte parasitäre Schmuggeln: Im Auftrag von Drogengangs befestigen Taucher in Südamerika heimlich wasserdichte Drogenpakete am Rumpf von Frachtschiffen und bergen diese im Zielhafen in Europa, Australien oder Asien wieder. Die Crews und Reedereien der betroffenen Schiffe wissen in der Regel nichts davon.
Ein besonders beliebtes Drogenversteck am Schiffsrumpf ist der Seekasten, eine Einbuchtung, über die Wasser zur Kühlung der Schiffsmaschinen angesaugt wird. Damit keine größeren Objekte oder Fische in die Kühlung gelangen, ist der Seekasten durch ein Gitter geschützt, das sich allerdings abnehmen lässt.
Eine andere Methode sind längliche Behälter, auch Torpedos genannt, oder Kästen, die mit Magneten am Schiffsrumpf befestigt oder sogar daran festgeschweißt werden. Ermittler fanden Drogen auch schon in den Ausbuchtungen hinter dem Ruder oder in Autoreifen am Rumpf festgekettet.
Eine Gruppe aus Michigan in den USA soll geplant haben, eine Unterwasserdrohne zu entwickeln, die sich per Fernsteuerung mit einem Magnet an Frachtschiffe heften und am Zielhafen wieder lösen kann. Sie nannten ihr Projekt The Torpedo.
Die Methode ist nicht neu. Bereits 1991 berichtete die New York Times von zwei Kolumbianern, die sich mitsamt Drogen in einer Ausbuchtung über dem Schiffsruder versteckt hatten. Nachdem das Schiff Ladung aufgenommen hatte, befand sich der Eingang zu ihrem Versteck unter Wasser. Fünf Tage hielten die beiden Männer in einem winzigen Luftloch direkt neben dem lärmenden Ruder aus, nur um dann bei der Ankunft von Polizeitauchern erwischt zu werden. Allerdings haben unsere Recherchen ergeben, dass sich Fälle von Rumpfschmuggel in den vergangenen zwei Jahren gehäuft haben – insbesondere bei Frachtern aus Brasilien.
Der brasilianische Seeversicherer Proinde, der seinen Sitz in der Hafenstadt Santos hat, veröffentlichte diesen Juli einen Bericht zum maritimen Kokainschmuggel. Demnach wurde allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres bei 19 Frachtschiffen Kokain im Seekasten gefunden – insgesamt über fünf Tonnen Drogen. Im vergangenen Jahr gab es insgesamt 26 Fälle, 2021 waren es noch 13 und 2020 neun Fälle.
Auffällig viele dieser Schiffe legten in Santos ab. Laut Proinde wurden 46 Prozent der Ladungen in den Seekästen entdeckt, bevor die Schiffe Brasilien verlassen hatten. Mutmaßlich würden die Pakete nachts angebracht werden, wenn die Schiffe weiter draußen ankern. Dort ist das Wasser tiefer und die Sichtweite größer, außerdem sind diese Ankerplätze kaum überwacht.
Ein Sprecher des europäischen Maritimen Analyse- und Operationszentrums gegen Drogenkriminalität sagt gegenüber VICE, dass seit 2021 und 2022 erheblich mehr Informationen zu dieser Schmuggeltechnik geteilt würden.
“Unsere Zusammenarbeit mit den brasilianischen und kolumbianischen Behörden hat die Identifikation solcher Schiffe erhöht. Das geht nur mit verlässlichen Informationen”, sagt er. Man habe auch den weit verbreiteten Einsatz von “erfahrenen Tauchern zur Durchführung dieser Operationen” festgestellt. “Sowohl an den Start- wie auch an den Zielhäfen.”
Wie die Ermittler den Schmugglern auf die Schliche kommen
Die australische Bundespolizei wurde vor allem durch die Operation Ironside auf die Schmuggeltechnik aufmerksam. Das FBI hatte 18 Monate lang das Kryptohandynetzwerk ANoM betrieben, das organisierte Kriminelle auf der ganzen Welt zur Kommunikation benutzten. Die Strafverfolgungsbehörde las alle Nachrichten mit.
Zu den acht Tonnen Kokain, die weltweit im Zuge der Ermittlungen beschlagnahmt wurden, gehörten auch 216 Kilo, die im Juni 2021 im Seekasten eines Fruchtsafttankers aus Brasilien entdeckt wurden, als dieser in der belgischen Hafenstadt Gent ankerte. Angeklagt wurde der australische Fitnesstrainer Julian L., Ehemann einer bekannten Instagram-Pole-Dancerin. Bereits 2020 war er in Sydney mit einem knappen Kilo Kokain im Auto von der Polizei erwischt worden.
Zwei weitere Männer aus Sydney, einer von ihnen ein erfahrener Taucher, wurden ebenfalls verhaftet. Sie sollen Kokain in den Containerhafen Port Botany geschmuggelt haben. Die Drogen befanden sich in Autoreifen, die mit Ketten am Rumpf von Containerschiffen befestigt waren. Seitdem setzt Australiens Grenzpolizei regelmäßig Taucher und Unterwasserroboter ein, um eintreffende Schiffe an australischen Häfen zu untersuchen.
Auch in Newcastle, wo der Brasilianer Bruno Borges starb, scheinen weiter Schiffe mit angehängten Kokainpaketen einzutreffen.
Am 25. Januar dieses Jahres entdeckte ein Hafenarbeiter in den frühen Morgenstunden einen Taucher im Wasser. Er rief die Polizei, die dann am Ufer eine zurückgelassene Tauchausrüstung entdeckte. Noch am selben Tag wurden zwei Norweger verhaftet.
Ähnlich wie die Brasilianer im Jahr davor sollen auch die beiden norwegischen Berufstaucher von einem Schmugglerring nach Australien geflogen und mit teurem Equipment ausgestattet worden sein, um 82 Kilo Kokain vom Rumpf eines Frachtschiffs zu bergen, das gerade über China aus dem brasilianischen Santos eingetroffen war.
Aber auch in Europa gibt es solche Fälle. Im April dieses Jahres fanden Behörden Kokain im Wert von 150 Millionen Euro versteckt im Seekasten eines Frachtschiffs, das von Santos nach Venedig gekommen war.
Keine Bestechung, keine Schmiergelder, kaum Insiderwissen
Allerdings gehen Expertinnen und Experten davon aus, dass es sich bei den entdeckten Fällen nur um die Spitze des Eisbergs handelt. Verglichen mit den gigantischen Koksmengen, die in Frachtcontainern in Häfen wie Antwerpen, Hamburg oder Rotterdam ankommen, ist die Menge, die an Schiffsrümpfen übers Meer geschmuggelt wird, außerdem verhältnismäßig klein. Das Besondere an dieser Methode ist allerdings, dass es dafür kaum Insiderwissen braucht.
Erfahrene Taucher am Start- und Zielhafen sind zwar unerlässlich, aber man muss niemanden von der Schiffscrew einweihen oder Zoll- und Hafenmitarbeiter bestechen. Man muss auch keine hochseetüchtige Jacht besitzen oder aufwendig ein eigenes U-Boot bauen.
Jerry McDermott ist Mitbegründer und Co-Direktor von Insight Crime, einem Think-Tank, der sich mit dem organisierten Verbrechen auf dem amerikanischen Kontinent beschäftigt. “Das Befestigen dieser sogenannten Torpedos an Schiffsrümpfe hat mehrere Vorteile”, sagt er. “Man muss nicht lauter Hafenmitarbeiter schmieren und hat ein geringeres Risiko, verraten zu werden.” Die größte Herausforderung sei es, an einer Stelle Zugang zum Schiff zu bekommen, wo die Taucher ungestört arbeiten können, um die Drogen zu befestigen oder zu bergen.
Und laut mehrerer Expertinnen und Experten, mit denen VICE gesprochen hat, sind viele Häfen leicht zugänglich und unzureichend überwacht. Sobald eine Ladung Kokain dann am Rumpf eines Schiffes befestigt ist, lässt sich dessen Fahrt und sogar die geplante Ankunft über Websites wie MarineTraffic verfolgen. So lässt sich die Bergung der Ware einfach planen.
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Yarin Eski forscht an der Vrije Universiteit Amsterdam zu den Bereichen Kriminologie, Governance und Überwachung. Für seine Studie Diving for Dope hat er das Taucherteam des Zolls befragt, das Schiffe im Hafen von Rotterdam kontrolliert.
“Die meisten Männer im Taucherteam des niederländischen Zolls sind wie Bären gebaut. Viele von ihnen kommen aus dem Unterwasserbau. Aber das Tauchen in Industriehäfen nach Drogen an Schiffsrümpfen ist sehr arbeitsintensiv”, sagt Eski. “Die können ein oder zwei Schiffe am Tag untersuchen, aber in Rotterdam kann es schon mal 200 bis 300 Schiffsbewegungen am Tag geben, 100 davon könnte man als risikobehaftet bezeichnen. Die kann man niemals alle kontrollieren.”
Equipment wie in einem James Bond-Film
Die Banden haben nicht nur die Flut von Frachtschiffen auf ihrer Seite, die tagtäglich in Güterhäfen abgefertigt werden, sondern sind auch technisch häufig sehr gut ausgestattet. Neben gefährlichen Kreislauftauchgeräten setzen sie auch immer wieder Tauchscooter ein, um schnell zu den Schiffen hin und mit der Ladung wieder wegzukommen.
2014 wurden in Großbritannien zwei Niederländer zu Haftstrafen verurteilt, die in einem schottischen Hafen versucht hatten, Kokain vom Rumpf eines kolumbianischen Frachters zu bergen. Die beiden Männer, einer von ihnen 68 Jahre alt, hatten offenbar für britische Verbrecherbanden als Koksbergedienst gearbeitet. Sie gaben sich als Camper aus und verfügten über eine professionelle Ausrüstung, darunter auch Tauchscooter.
“Der Tauchscooter war wie aus einem Bond-Film”, sagte David Norris von der National Crime Agency damals. “Sie wollten damit im Schutze der Dunkelheit unter das Schiff tauchen und das Kokain im Wert von mehreren Millionen Pfund bergen. [Diese Männer] sind auf die Drogenbergung für organisierte Verbrecherbanden spezialisiert. Wir konnten sie mit anderen Schiffen in Verbindung bringen, die mit Kokain abgefangen wurden.”
Anspruchsvoll, aber nicht unmöglich
Vince Hurley, ein ehemaliger verdeckter Drogenfahnder der australischen Polizei, der heute als Kriminologe an der Macquarie University in Sydney arbeitet, sagt, dass die Unterwasserwelt eine ungenutzte Ressource für Drogenschmuggler ist.
“70 Prozent des Erdballs sind vom Meer bedeckt, so dass die Unterwasserwelt ein natürlicher Weg für den Drogenhandel ist. Da die Häfen kaum überwacht werden, ist der Rumpfschmuggel eine Goldgrube für die Schmuggler. Es ist nicht ungewöhnlich, Segelboote zu sehen, die vor Frachtschiffen kreuzen. Niemand würde mit der Wimper zucken, wenn da jemand aus dem Wasser auf ein Boot klettert oder von einem ins Wasser springt.”
Hurley sagt, die Parasitentechnik sei wahrscheinlich eine Weiterentwicklung der klassischen Methode, bei der Schnellboote Drogen auflesen, die von großen Schiffen runtergeworfen werden. “Aber für einige Banden ist es ein unnötiges Risiko, die Besatzung über ein Drogenversteck zu informieren. Stattdessen lassen sie irgendeinen armen Kerl im Zielhafen versuchen, nach den Drogen zu tauchen.”
Laut Simon Rogerson, Redakteur des Scuba-Magazins, ist das Anbringen und Bergen von Drogen am Rumpf eines Frachtschiffs knifflig, aber nicht unmöglich für jemanden, der entschlossen und mutig genug ist
“Die Skills, die man braucht, um so ein Paket anzubringen, sind ziemlich rudimentär. Man braucht keine besondere Ausbildung und muss nicht besonders tief tauchen”, sagt Rogerson. “Man muss ein kompetenter Taucher sein, aber nicht unbedingt ein Profi. Das Schwierigste sei, das Paket am Schiff zu befestigen – vor allem, wenn es heimlich oder bei Nacht geschehen muss. Das lasse sich aber leicht lernen. “Wenn sie möglichst unentdeckt arbeiten müssen, kann es schon sein, dass die Taucher eine militärische Ausbildung haben. Es ist schon ein Kunststück, sich im trüben Hafenwasser zurechtzufinden.”
Rogerson sagt, dass geschlossene Kreislauftauchgeräte, wie Borges eins benutzt hat, selbst für erfahrene und körperlich fitte Taucher gefährlich sein können. “Man muss genau wissen, was man tut. Da kann eine Menge schiefgehen.”
Die parasitäre Schmuggeltechnik ist vielleicht unkomplizierter, actionreicher und abenteuerlicher als der heute weit verbreitete und hoch professionalisierte Containerschmuggel, bei dem es darum geht, Computersysteme zu infiltrieren und Referenzcodes zu stehlen. Am Ende sind es aber Menschen, die nachts in trüben Industriehäfen an Stahlkolossen hinabtauchen, um Drogen zu bergen. Es ist gefährlich, aber es wird immer Leute geben, die bereit und verzweifelt genug sind, das zu tun.
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