Krummes Gemüse für eine bessere Welt: Lebensmittel-Retten wird Mainstream

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Raphael Fellmer hat lange Essen aus dem Müll gegessen – allerdings freiwillig. Mehr als fünf Jahre lang lebte er ohne Geld, um auf Verschwendung aufmerksam zu machen. Er ist Mitbegründer der Foodsharing-Bewegung, zu der heute fast 30.000 Freiwillige gehören. Mit SirPlus starten der Berliner und zwei Kollegen nun eine Firma, die gerettete Lebensmittel an die Verbraucher bringt, über einen Outlet-Store in Berlin und einen deutschlandweiten Lieferdienst. Dabei fängt die Rettung schon beim Hersteller an, denn SirPlus bringt aussortierte und nicht der Norm entsprechende Lebensmittel in den Handel, die Supermärkte nicht verkaufen.

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Die drei Unternehmer wollen in erster Linie nicht sich selbst, sondern die Welt bereichern: Ihre geplante digitale Plattform werden sie kostenfrei Non-Profit-Organisationen zur Verfügung stellen. Derzeit läuft ihre Crowdfunding-Kampagne, zukünftige Kunden haben schon 1.000 “Retterboxen” bestellt. Ich habe Raphael gefragt, wie er vom Dumpster Diver zum Sozialunternehmer wurde und warum Essen das wichtigste Thema der Welt ist.

VICE: Du wolltest früher Millionär werden, um Menschen zu helfen. Warum hast du dann das Gegenteil gewählt und ohne Geld gelebt?
Raphael Fellmer:
Ich habe verschiedene Geschäftsmodelle durchdacht und festgestellt, dass oft die Natur, Menschen und Tiere leiden müssen, damit ich auf deren Kosten was Gutes machen kann. Ich fand das paradox, habe nach anderen Wegen gesucht. Dann kamen zwei Einladungen nach Mexiko und wir beschlossen, ohne Geld von Holland nach Mexiko zu reisen, um auf Verschwendung aufmerksam zu machen. Insgesamt waren wir 15 Monate mit 500 verschiedenen Fahrzeugen unterwegs. So fing es an.

Für deine Kinder bist du aus dem Geldstreik getreten, und jetzt bist du sogar Unternehmer.
Ich und alle Foodsharing-Freiwilligen haben zwar ohne Geld viel geschafft, aber ich glaube mittlerweile, dass wir mit Geld sogar noch mehr bewegen können. Wir haben nach der Reise die Foodsharing-Bewegung aufgebaut, das Projekt ist sehr groß geworden: Insgesamt 27.000 Foodsaver haben 9 Millionen Kilo Lebensmittel gerettet. Das ist großartig, aber ich habe auch gemerkt, dass ehrenamtliches Engagement seine Grenzen hat. Deswegen retten wir jetzt mit einem skalierbaren Geschäftsmodell noch mehr Lebensmittel.

Deswegen baut ihr jetzt SirPlus auf?
Wir haben letzten Oktober angefangen, den digitalen Marktplatz für überschüssige Lebensmittel zu entwickeln. Die Idee stammt von meinem Mitgründer Alexander Piutti, der schon andere Marktplätze entwickelt hat. Wenn ein Bauer Gurken anbaut, dann sind vielleicht 20 Prozent davon zu krumm, zu dünn oder zu dick, und die wird er nicht los. Zukünftig kann er die Gurken über unseren Marktplatz anbieten, statt ihn zur Biogasanlage zu bringen. Und das machen wir mit jeglichen anderen Lebensmitteln: abgelaufen, zu spät geliefert, zu wenig drin, zu viel drin… Es reicht ja schon, wenn ein Buchstabe falsch gedruckt ist. In Deutschland werden 20 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr weggeschmissen – das ist ein voller LKW pro Minute.


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Warum ist so vielen Menschen Lebensmittelverschwendung egal?
Weil Lebensmittel so günstig sind, fehlt es an Wertschätzung, glaube ich. Ein Drittel der Deutschen schmeißt Essen spätestens an dem Tag weg, an dem es abläuft. Bei Privatleuten landen 30 bis 60 Prozent der Lebensmittel im Müll. Gerade wir Stadtkinder haben keine Ahnung von der Lebensmittel-Produktionskette und was das für die Natur bedeutet, die Arbeiter oder auch die Tiere. Wir brauchen mehr Aufklärung und Aufmerksamkeit. Wir wollen Lebensmittelretten mainstream machen. So wie Bio- und Fairtrade-Produkte, die gab es vorher auch nur in Reformhäusern, jetzt sind sie bei Aldi angekommen. Wir leben in einer sehr bequemen Gesellschaft, Zeit ist wichtig, und viele wollen trotzdem gern die Welt retten. Das machen wir bald mit SirPlus möglich.

Erntest du für dein Sozialunternehmen auch Kritik?
Die meisten finden es super, weil sie sich jetzt am Lebensmittelretten beteiligen können. Manche aus der Foodsharing-Bewegung sind der Meinung, gerettete Lebensmittel müssten immer kostenlos sein. Aber ansonsten sehen die meisten den Wandel vom geldfreien Retten zum Sozialunternehmen sehr positiv. Ich versuche ja nur mein Bestes, und ich glaube, wenn wir das alle versuchen, dann kommen wir voran.

Warum ist es so wichtig, unseren Konsum zu ändern?
Allein die Tierindustrie verursacht je nach Statistik zwischen 20 und 50 Prozent der Treibhausgase. Unsere Ernährung hat einen massiven Einfluss auf unseren ökologischen Fußabdruck. Wenn du dich vegan ernährst, konsumierst du zum Beispiel 70, 80 Prozent weniger Fläche, und dementsprechend weniger Lebensmittel, Wasser, Energie und Pestizide. Wie gehen wir mit anderen Lebewesen und zukünftigen Generationen um? Das hat damit zu tun, was wir konsumieren.

Meinst du, es wird ein Umdenken geben?
Definitiv. Es ist alles eine Frage der Zeit und es ändert sich gerade viel in der Welt. Alle, die sich heute pflanzlich oder vegetarisch ernähren, haben schon einen anderen Weg gewählt als unsere Eltern. Wenn wir uns ändern, ändert sich auch die Kultur.

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