Tech

Unschuld als Ware: Das Geschäft mit den Jungfernhäutchen

Alev ist Anfang 20, als Demir um ihre Hand anhält. Die junge Deutsch-Türkin ist glücklich. Sie kennt Demir schon eine Weile, hat Gefühle für ihn. Doch mit jedem Tag, den ihre Hochzeit näher rückt, wächst auch ihre Angst. Alev ist keine Jungfrau mehr und niemand darf es erfahren. Schon gar nicht Demir.

Mit 18 war Alev schon einmal verliebt. So sehr, dass sie sich von ihren Gefühlen hatte verleiten lassen und mit dem Mann schlief. Streng genommen hätte sie das nicht tun dürfen. Sie wusste, dass ihre Religion und ihre traditionelle Erziehung Sex vor der Ehe verbieten. Doch sie war sicher: Der Mann, dem sie ihre Jungfräulichkeit schenkte, würde sie heiraten.

Videos by VICE

Er tat es nicht.

Wenn du mehr solcher Themen lesen willst, dann solltest du Broadly auf Facebook liken.

Der Weg zurück in die Jungfräulichkeit

Ein Streifzug durch Hilfeforen wie gofeminin.de oder gutefrage.net zeigt, dass andere Mädchen und junge Frauen Alevs Schicksal teilen. Viele haben Angst vor der Hochzeitsnacht. „Dass Blut kommt, gilt als Symbol der Ehre!”, schreibt eine Ratsuchende. Wie werden der Zukünftige oder die Schwiegereltern reagieren, wenn es ausbleibt? Wenn Alev doch nur die Zeit zurückdrehen und wieder eine Jungfrau sein könnte.

Verschiedene Internetangebote verheißen genau das: einen Weg zurück zur Jungfräulichkeit. In einigen Schönheitsinstituten kostet die Hymenrekonstruktion bis zu 3000 Euro. Manche Frauenärzte nehmen den Eingriff schon für wenige hundert Euro vor. Dabei wird das Jungfernhäutchen im Bereich der Einrisse mit einem Skalpell gespalten und wieder zusammengenäht. Beim nächsten Geschlechtsverkehr, so hoffen die Patientinnen, wird das auf diese Weise verengte Gewebe verletzt und blutet. Die Jungfräulichkeit wäre damit „bewiesen”, die Ehre gerettet. Eine Garantie gibt es dafür aber nicht.

Es geht jedoch auch deutlich günstiger und ohne OP oder ärztliche Expertise. Eine Internetfirma aus Recklinghausen verspricht mit ihrem Produkt ein „100% reales Blutergebnis” in der Hochzeitsnacht. Virginia Care verkauft für 55 Euro das Stück künstliche Jungfernhäutchen.

Diese können sich Frauen vor dem Geschlechtsverkehr selbst wie ein Tampon in die Scheide einführen. Bei den künstlichen Hymen handelt es sich laut Angaben des Herstellers um eine Membran aus wasserlöslicher Cellulose. Darin eingeschlossen ist sterilisiertes, gefriergetrocknetes Rinderblut. In der Scheide verflüssigt sich dieses Granulat. Durch die Penetration des Penis tritt es aus—die Frau „blutet”.

„Soll das Blut nach der Hochzeitsnacht nachgewiesen werden? Dann ist dieses Hymen ideal!”

Virginia Care gibt es in zwei Farbvarianten: Einmal in kirschrot für den „Frischbluteffekt”, der den Zukünftigen noch im Bett überzeugen soll und einmal in braun-rot für die lieben Verwandten. „Soll das Blut nach der Hochzeitsnacht nachgewiesen werden? Dann ist dieses Hymen ideal!”, frohlockt es auf der Website des Herstellers. In manchen Kulturen verlangt es die Tradition tatsächlich, dass etwa den Eltern am nächsten Morgen das blutige Laken zum Beweis der Jungfräulichkeit präsentiert wird. Für eine in jeglicher Hinsicht überzeugende Performance bietet Virginia Care auch ein straffendes Vaginalgel an. Das „Rundum-sorglos-Paket” bestehend aus allen drei Produkten ist für 129,50 Euro zu haben. Den Tipp, sich während des Sex zu verkrampfen und Schmerzen vorzutäuschen, gibt es frei Haus.

Das künstliche Hymen von Virginia Care gibt es in zwei Farbvarianten. | Bild: Screenshot

„Der Glaube daran, dass ein intaktes Hymen ein Beweis für Jungfräulichkeit sei, ist noch immer so vorbehaltlos verbreitet, dass viele Eltern ihre Töchter von Gynäkologen offiziell als Jungfrau zertifizieren lassen wollen”, heißt es in einer niederländischen Studie von 2012 zum Thema Hymenrekonstruktion im European Journal of Contraception and Reproductive Health Care. „Bei dem kleinsten Verdacht, ein Mädchen könne vielleicht keine Jungfrau mehr sein, wird es mitunter zu einer Vaginaluntersuchung durch einen Laien oder Arzt gezwungen. Zahlreiche Suizidstudien dokumentieren, dass diese Situation für viele Mädchen so beschämend war, dass sie lieber starben, als sich von einem Fremden auf diese Art anfassen zu lassen.”

Die Geschichte vom blutenden Jungfernhäutchen ist ein Mythos. „Viele stellen es sich als eine Art Siegel vor, das die Scheide verschließt und beim ersten Mal vom Penis des Mannes durchstoßen wird”, erklärt Myria Böhmecke. Sie arbeitet im Referat Gewalt im Namen der Ehre bei der Frauenhilfsorganisation Terre des Femmes. „Dabei ist das Hymen keine Membran, sondern eher ein Saum, der die Scheidenöffnung umgibt.” Theoretisch könne das Hymen zwar beim ersten Geschlechtsverkehr verletzt werden und leicht bluten. Tatsächlich aber blute die Mehrheit der Frauen beim ersten Mal nicht.

Dennoch entscheidet auch Alev sich für eine Hymenrekonstruktion. Der Druck, der auf ihr lastet, ist groß. Einen Ehemann zu haben, bedeutet ein sicheres Heim und Einkommen zu haben. Doch würde Demir sie verstoßen, wäre nicht allein Alevs Existenzgrundlage in Gefahr.

Auch für ihre eigene Identität, für ihre Rolle in der muslimischen Gemeinschaft, ist es wichtig, „sauber” in die Ehe zu gehen. Spräche sich herum, dass sie vor der Ehe Sex mit einem Mann hatte, wären Demütigungen in der Familie und auf der Straße die Folge. Sie hätte zwar vielleicht keine körperliche Gewalt zu befürchten, würde aber das Leben einer Aussätzigen führen—mitten in Berlin im 21. Jahrhundert. Weil sie ihre Identität schützen möchte, können auch wir ihre Geschichte nur mit verändertem Namen erzählen.

Eine Frage über Leben und Tod

Die jungen Frauen, die sich Myria Böhmecke und ihren Kolleginnen von Terre des Femmes anvertrauen, durchleiden mitunter sogar Todesangst. Rund alle zwei Monate komme es vor, dass Ratsuchende explizit nach einer Hymenrekonstruktion fragen. „Wir erkundigen uns dann zunächst zu den Hintergründen der Frauen. War der Sex einvernehmlich? Handelt es sich bei dem Bräutigam um den Freund der Frau?” In solchen Fällen rate das Team von Terre des Femmes dem Paar, gemeinsam einen Plan zu schmieden, wie die Eltern von der Jungfräulichkeit des Mädchens überzeugt werden könnten.

Anders sehe es im Falle einer Zwangsheirat aus. „Ist das Leben einer Frau in akuter Gefahr, raten wir tatsächlich mitunter dazu, eine Ärztin oder einen Arzt aufzusuchen, um über die Möglichkeiten einer Hymenrekonstruktion zu sprechen. Das künstliche Hymen von Virginia Care kenne ich nicht. Ich kann mir aber vorstellen, dass es eine Alternative zu einer Operation ist.”

„Suizidstudien dokumentieren, dass diese Situation für viele Mädchen so beschämend war, dass sie lieber starben, als sich von einem Fremden auf diese Art anfassen zu lassen.”

„Wir wickeln im Monat ca. 150 Bestellungen ab. 70 Prozent davon erfolgen über unseren Onlineshop, 30 Prozent kommen über die Apotheken”, erklärt Virginia Care auf Anfrage von Motherboard per E-Mail. Die Kundinnen seien in der großen Mehrheit junge muslimische Migrantinnen aus Deutschland aber auch Österreich und der Schweiz, die kurz vor der Hochzeit stünden und vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt hätten. Überprüfen können wir diese Angaben nicht. Die Produkte von Virginia Care verfügen über eine Pharmazentralnummer (PZN). Das bedeutet, dass zu dem betreffenden Produkt Informationen in der Datenbank der Apotheken vorliegen und diese es beim Hersteller oder Großhändler bestellen können. „Die PZN ist allerdings kein Qualitäts- oder Prüfsiegel”, verdeutlicht Christian Splett von der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände. „Marktzahlen über einzelne Produkte können wir Ihnen leider nicht bereitstellen. Ebenfalls liegen uns keine Datenerhebungen über derartige Anfragen von Frauen in Apotheken vor.”

Eine weitere Website namens Hymenshop.com bietet ebenfalls künstliche Jungfernhäutchen an. Abgesehen vom grellpinken Design schreckt die Tatsache ab, dass es hier nicht einmal ein Impressum gibt. Virginia Care scheint eine Marktlücke zu besetzen. Nach eigenen Angaben stieg die Nachfrage in den sechs Jahren seit der Gründung des Unternehmens stetig.

Aber hält das Produkt, was es verspricht? Auf der Website führt der Hersteller eine Reihe von Danksagungen und Bewertungen auf. Tenor: „Ich wüsste nicht, wo ich heute ohne euch wäre” oder „Danke, Virgina Care. Ihr habt mir das Leben gerettet.” Auf Amazon oder vergleichbaren Verkaufsportalen vertreibt Virginia Care das Hymen bewusst nicht, „damit es speziell bleibt und zielgerichtet ist”, so der Hersteller. Auf der Seite gibt er an, mit einem medizinischen Labor zusammenzuarbeiten. Dieses sei in Thüringen, erklärt man Motherboard, aber wolle nicht namentlich genannt werden.

Kritik? Fehlanzeige

Zwei Dinge irritieren beim Surfen auf der Seite von Virginia Care: Zum einen ist es die Aufmachung. Die Seite ist in weiß und pink gehalten und könnte ebenso gut für einen Joghurtdrink oder ein Zahnbleaching werben. Junge, breit lächelnde „Ärzte” in weißen Kitteln und mit um die Schultern baumelnden Stethoskopen begrüßen den User schon auf der Startseite und sollen wohl für eine Art „Med Appeal” sorgen. Gleichzeitig wimmelt es aber nur so von Rechtschreib- und Grammatikfehlern. Zum anderen ist es die Tatsache, dass auf der Website nicht ein kritisches Wort zu finden ist. Dass sich das Angebot an junge Frauen richtet, die in patriarchalen Strukturen leben und sexuell unterdrückt werden, wird schlicht nicht thematisiert.

„Die Seite wirkt sehr kommerziell”, sagt auch Myria Böhmecke von Terre des Femmes. „Mir fehlt ein fundierter, medizinischer Hintergrund. Ich würde mir ein besseres Beratungsangebot wünschen.” Virginia Care hingegen erklärt: „Auf unserer Unternehmensseite klären wir generell alle wichtigen Fragen und sind über unsere Beratungshotline selbstverständlich immer erreichbar.” Zudem existiert eine weitere Seite, die von der Agentur Maxmedia betrieben wird. Diese immerhin versucht sich an einem reflektierteren Umgang mit dem Thema.

Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums suchten im Jahr 2008 3.443 Personen wegen einer drohenden Zwangsverheiratung Hilfe bei einer Beratungsstelle. Ein Drittel davon waren Minderjährige. Myria Böhmecke sagt, bei Terre des Femmes seien es allein im Jahr 2015 230 Anfragen gewesen. „Das Thema Jungfräulichkeit spielt dabei fast immer eine Rolle. Der Druck, als Jungfrauen in diese Ehen zu gehen, ist enorm.”

Bei den Hilfesuchenden handele es sich zumeist um Migrantinnen in zweiter oder dritter Generation, die nach außen hin perfekt integriert seien. „Das macht es etwa für die Lehrerinnen und Lehrer enorm schwer, das Problem zu erkennen”, sagt Böhmecke. Viele Muslima trügen kein Kopftuch, schminkten sich, dürften auch mal abends alleine raus gehen. „Aber davon, dass die Frauen für die Erhaltung der Ehre zuständig sind, verabschieden sich die Familien nicht. Das wird von Generation zu Generation weitergegeben.”

„Vorehelicher Geschlechtsverkehr ist im islamischen Recht verboten—so wie in anderen religiösen Traditionen auch.

Aber was ist hier eigentlich das Problem? Ist es der Islam als solcher? Ist es die Väterherrschaft bestimmter Kulturkreise? Beides? „Vorehelicher Geschlechtsverkehr ist im islamischen Recht verboten—so wie in anderen religiösen Traditionen auch”, erklärt der Islamwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Eich von der Universität Hamburg gegenüber Motherboard. Dies sei jedoch nicht gleichzusetzen mit der Forderung, eine Frau müsse in ihrer Hochzeitsnacht ein intaktes Hymen haben.

„Die islamischen Rechtsgelehrten haben schon über Jahrhunderte hinweg gesagt, dass ein Hymen auch aus anderen Gründen reißen kann, als durch Geschlechtsverkehr. Dies kann also nicht als Beweis dafür dienen, dass die Frau vor der Ehe Sex hatte. Deswegen sagen viele Rechtsgelehrte explizit, dass sich ein „Gesetz zur Jungfräulichkeit” im Sinne des Nachweises eines intakten Hymens nicht aus den islamischen Rechtsquellen herleiten lässt.” Hilfstechniken wie die Hymenrekonstruktion oder simulierte Blutungen würden kontrovers diskutiert, so der Experte. „Prominente Gelehrte wie der frühere Mufti Ägyptens, Ali Gumaa, haben all diese Techniken für erlaubt erklärt. Andere verbieten diese Techniken mit der Begründung, dass es sich hier um eine Täuschung des Ehemanns handle.”

Der Jungfrauenkult sei nicht per se im Islam verankert, sagt Myria Böhmecke, „sondern in patriarchalen Strukturen, die so alt sind, dass ihre Ursprünge im Grunde gar nicht mehr erkennbar sind.” Aus jenen Strukturen auszusteigen sei noch schwieriger, als aus einer rechtsextremen Gruppierung auszusteigen, erklärt der Psychologe Ahmad Mansour im Dokumentarfilm „Der Jungfrauenwahn” von Güner Balci. „Denn da übt nur eine kleine Gruppe Druck aus. Aber hier macht die ganze Kultur mit. Du musst dich gegen die ganze Kultur positionieren.”

Für Alev war das zu viel. Sie beugte sich dem Druck und ließ ihr Jungfernhäutchen operativ rekonstruieren. Auf diese Weise konnte sie ihr Gesicht wahren. Heute lebt sie in einem goldenen Käfig. Demir ist gut zu ihr, doch von Selbstbestimmung und einem erfüllten Sexleben ist sie weit entfernt. Scheidung ist keine echte Option. Alev hätte das Gefühl, als Frau versagt zu haben.

Schweigen ist keine Option

Mit Alevs Geschichte offenbart sich ein Konflikt: Dienen Produkte wie das künstliche Hymen von Virginia Care oder Rekonstruktionen tatsächlich zum Schutz? Oder wird hier die Unwissenheit und Sorge junger Frauen für kommerzielle Zwecke missbraucht? Geben diese Angebote dem Mythos vom blutenden Jungfernhäutchen nicht zusätzlichen Aufwind? Unterstützen sie damit nicht indirekt die Unterdrückung der Frau? Aber was wäre die Alternative?

„Sie können die Familien nicht einfach direkt ansprechen”, so die Frauenrechtlerin Myria Böhmecke. „Die Ehre der Frau, insbesondere ihre Jungfräulichkeit, ist ein absolutes Tabuthema. Vor allem bei den älteren, konservativen Generationen.” Aufklärung könne nur ganz behutsam funktionieren, oder gar nicht. So beteiligt sich Terre des Femmes etwa an Schulungen der Berliner „Kiezmütter”. Diese freiwilligen Helferinnen wiederum beraten die schwer zu erreichenden migrantischen Mütter direkt vor Ort, in Erziehungsfragen etwa. „Das ist eine der wenigen Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen.”

So traurig es ist: Es gibt einen Markt für künstliche Hymen und operative Rekonstruktionen. Sicherlich sind Unternehmen wie Virginia Care nicht frei von kommerziellen Interessen, aber ihre Produkte könnten unter Umständen tatsächlich Frauen vor akuten Gefahren bewahren. Die Krux: Richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit—durch Beiträge und Artikel wie diesen—auf jene Angebote, könnte dies das Misstrauen bei patriarchalen Vätern und Ehemännern verstärken. Aber deswegen schweigen? Das ist auch keine Option.

Die Schilderungen der Deutsch-Türkin Alev beruhen auf einer realen Person, die der Redaktion bekannt ist, die aber aus Angst nicht erkannt werden möchte. Ihren Namen sowie den ihres Mannes haben wir geändert.