Was ich beim Kühekuschel-Seminar über Nähe gelernt habe

Die Autorin, auf einer Kuh reitend

Bevor wir in den Stall gehen, streichelt der Bauer meinen Hals. Er macht das ganz sanft, mit der Rückseite seiner Finger, schaut dabei die Leute an, die um uns herumstehen und sagt: “So nähert man sich einer Kuh richtig! Am Hals!” Die Leute nicken.

Ich bin zwar keine Kuh, aber an diesem Tag auf diesem Bauernhof klingt das Wort auch nicht wie eine Beleidigung. Ich stehe vor einem Kuhstall in Bottrop-Kirchhellen, zwischen einem Haus aus Ziegelsteinen und grünen Weiden, über die sich Hochspannungsleitungen ziehen. Es riecht, wie es auf Bauernhöfen eben riecht und es sieht aus, wie es auf Bauernhöfen eben aussieht. Nur, dass auf diesem Hof gleich etwas stattfinden wird, das das Verhältnis zwischen Mensch und Kuh für immer verändern könnte. Kühen begegnet man im Großstadt-Alltag tendenziell vor allem auf Milchpackungen oder in Form eines Burger-Pattys. Hier, auf dem Hof des Bauern Burkhard Sagel, sind sie Schmusetiere. “Kuh-Kuscheln” heißt das Projekt, bei dem er seine 40 Kühe zusammenbringt mit Leuten, die große Lust haben, eine Kuh zu streicheln. Heute sind, mit mir, drei Frauen aus Bottrop gekommen, Oma, Mutter, Tochter, außerdem ein Ehepaar, das bei Bauer Sagel regelmäßig Fleisch kauft. Mandy ist zusammen mit ihren zwei Söhnen da, der Jüngere von beiden zeigt auf jede Kuh, die er sieht, und ruft: “EINE KUH!” Bauer Sagel sagt dann jedes Mal “Pssssssst!”

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Der Bauer mit Kunden und Kühen
Bauer, Kunden, Kuh

Es ist gar nicht so einfach mit den Kühen – deshalb auch der Theorie-Unterricht mit mir als Vorführ-Kuh. “Kühe sind wie Katzen”, sagt der Bauer. “Wenn man sie verliert, verliert man sie für immer.” Also: nicht rennen, nicht schreien, nicht quietschen. Trotz aller Aufregung.

In dem Stall, in dem heute ungefähr zehn Kühe wohnen, hat Bauer Sagel früher Schweine gehalten, hunderte. Die Schweinezucht hatte er von seinem Vater übernommen, aber mit der Zeit wurde sie ihm zu grausam. Es gab Tage, da musste er 400 Ferkel nacheinander kastrieren, “wer das gerne macht, der ist pervers”, sagt er heute. Also baute er seinen Hof um, erstellte eine Seite unter tierfreundliche-landwirtschaft.de, machte einige seiner Felder zu Gemeinschafts-Gärten für Städter, veranstaltete Kindergeburtstage und Hofführungen. Als die Besucher bei den Hofführungen immer wieder fragten, ob sie die Kühe auch streicheln dürften, dachte er: Warum eigentlich nicht? Zuerst lachten die Nachbarn ihn aus, Kuhkuscheln, sagten sie, du hast sie nicht mehr alle. Dann meldeten sich so viele Besucher an, dass Sagel sie kaum mehr alle unterbringen konnte. Seitdem lacht keiner mehr.

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Und Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, und füllt die Erde, und macht sie euch untertan; und herrscht über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf der Erde regen! – Genesis 1:28

Kuscheln ist ein Bedürfnis wie trinken oder schlafen. Wer keinen Körperkontakt bekommt, wird verrückt. Berührungen sorgen dafür, dass Oxytocin durch unseren Kopf rauscht, es macht uns glücklich, lässt uns langsamer atmen. Jeder neunte erwachsene Mann in Deutschland schläft gern mit einem Kuscheltier im Arm ein. Und jede fünfte Frau. Ich bin eine von ihnen. Es ist eine Altlast. Als Kind habe ich mein Bett mit ungefähr 50 Stofftieren geteilt, Katzen, Pferde, Hunde, sogar ein Schwein – eine Kuh jedoch war nicht darunter. Übrig geblieben sind ein rosanes Einhorn, das ich durch seinen Trash-Faktor rechtfertige, und ein Küken mit sehr großen Augen.


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Über eine Mauer aus Strohballen klettere ich in einen Auslauf, in dem zwei Kühe mit ihren Kälbern wohnen. Eigentlich darf man Kühe nicht nerven, wenn sie Kälber haben, “aber die beiden Mädels kenne ich, die machen nichts”, hat Bauer Sagel gesagt. Also gehe ich jetzt langsam und leise auf Sharon zu. Sie ist eine von Bauer Sagels Lieblingskühen, eine, bei der er sich nicht sicher ist, ob sie irgendwann zum Schlachter kommt. Sagels Kühe sind nicht zum Milchgeben da, nach ihrem Tod wird aus ihnen Fleisch. Deshalb sind sie auch nicht groß und knochig, so wie man das von Milchkühen kennt, sondern klein und rund, mit kurzen Beinen.

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“#1487: Hug a cow.” – H. Jackson Brown Jr., The Complete Life’s Little Instruction Book

Ich versuche Sharon anzuflirten – auf Kühe sollte man von der Seite zukommen, hatte Bauer Sagel erklärt. Niemals von vorne, das macht die Kühe nervös. Man sagt ja manchmal: “Mach mich nicht so blöd von der Seite an”, aber eigentlich ist der Spruch großer Quatsch. Denn bei Menschen ist das ja auch so: niemand mag es, frontal angesprochen zu werden. Es fühlt sich bedrängend an. Im Club flirtet man mit Schulterblicken. Das erzeugt das Gefühl, dass man die Entscheidung, stehen zu bleiben, selbst trifft.

Keine Ahnung, ob es Sharon gefällt, was ich mache. Nein heißt nein, das weiß ich, bei Katzen heißt Schnurren “ja”, – aber bei Kühen? Verhalten streichle ich Sharons Hals, es fühlt sich nach Pferd an, nur etwas staubiger. Kuh-Haare rieseln mir entgegen, dann wirft Sharon ihren Kopf in meine Richtung, schüttelt ihn und trabt davon. Es ist ein großer Kopf, ein Kopf, der mich umhauen könnte, wenn er wollen würde. Kühe brauchen kein “nein” – wenn sie etwas nicht wollen, dann gewinnen sie mit ihren anderthalb Tonnen sowieso gegen meine 60 Kilo.

Weil ich so leicht bin, darf ich auf die Kuh rauf. Bauer Sagel selbst verbietet sich das, “die würden denken, ich wäre ein Bulle”. Er pfeift Sharon zurück, sie kommt angetrottet und schaut versöhnlich. Da es keine Kuh-Sattel gibt, muss ich Bauer Sagels Knie zum Aufsteigen benutzen. Ich schwinge mein Bein über Sharons Rücken, und dann sitze ich da, auf der Kuh. Sagel fängt an, Sharons Kopf zu kraulen.

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“To country people Cows are mild / And flee from any stick they throw / But I’m a timid town bred child / And all the cattle seem to know.” – T. S. Eliot

Früher war ich ein Pferdemädchen. In einem meiner Pferde-Bücher las ich damals die Theorie von Sigmund Freud, der behauptete, dass Mädchen Pferde lieben, weil sie etwas Großes, Warmes zwischen ihren Beinen spüren wollen. Natürlich fand ich das beleidigend und eklig – dass jemand meine spirituelle Liebe zu Ponys auf so etwas Niederes wie Sex zurückführen wollte. Heute, auf dieser Kuh in einem Stall in Bottrop, denke ich, dass Freud vielleicht doch nicht so blöd war.

Die Kuh ist sehr warm, und ich streichle um ihre Gunst an. Massiere ihre Schultern, kraule ihr Fell mit meinen Fingerspitzen, rubble mit meinen Handflächen, und frage mich, wie fest man bei einer Kuh drücken muss, damit sie etwas spürt. Bauer Sagel hilft, kratzt Sharon hinterm Ohr, genau da, wo sie es besonders gerne mag. Mit jeder Berührung bitten wir die Kuh, mich nicht abzuwerfen. Still zu halten. Vier Menschenhände, die versuchen, anderthalb Tonnen Kuh zu kontrollieren, ohne Zügel, ohne Gewalt, sondern mit Liebe und Zuneigung. Nach ein paar glücklichen Minuten schwankt Sharon, will loslaufen in Richtung Futter. “Steig lieber ab jetzt”, sagt Bauer Sagel.

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“Wir müssen unseren Garten bestellen.” – Voltaire, Candide oder Der Optimismus

Es gibt ein Lied von den Beatles, das ich nur kenne, weil es so heißt wie ich. Darin geht es um eine Anna, die den Sänger bittet, sie gehen zu lassen, weil sie einen neuen Mann gefunden hat. “You say he loves you more than me / so I will set you free / go to him” , wenn er dich mehr liebt, dann lasse ich dich ziehen, ist die Antwort. Das klingt abgeklärt, ist aber zutiefst romantisch. Denn man hat eben nur das verdient, was freiwillig bei einem bleibt. Eine Kuh kann man nicht am Arm zurück ins Bett ziehen, man kann sie nicht zügeln und ihr kein schlechtes Gewissen machen, damit sie bleibt. Kühe sind der Mensch, den du nicht haben kannst, den du aber so, so dringend willst – und deshalb gibst du dich schon damit zufrieden, wenn er dich beim Fressen für ein paar Sekunden seinen Kopf kraulen lässt. Jeden Moment, den man kuschelnd mit einer Kuh hat, muss man sehr genießen, denn er ist ein Geschenk. “Tschüss, danke!”, sage ich zu Sharon, als ich über den Heuballen aus ihrem Auslauf klettere.

Je mehr man gekuschelt wird, desto mehr will man kuscheln. Das ist auch bei Kühen so. Und deshalb vergibt Bauer Sagel Kuh-Patenschaften. Er bildet Kuh-Kuschler aus, die jederzeit auf den Hof kommen, wenn sie Lust dazu haben, mindestens einmal pro Woche. Ist Kuscheln überhaupt etwas, das in der Natur der Kuh liegt? “Klar”, sagt Sagel, die Kühe liebkosen sich auch untereinander. Allerdings gibt es ein Hindernis, das zwischen manchen Kühen steht: Hörner.

Der Bauer vor seinen Kühen
“Der Mensch hat die Macht über die Natur” – Anna Mayr

Kühe mit Hörnern sollte man als Mensch lieber nicht kuscheln. Und auch als Kuh ist das so eine Sache. Kuhhörner sind quasi das Äquivalent zu notorisch verletzendem Verhalten in einer Beziehung. Es gibt ja Leute, die quälen den, den sie lieben, ohne dass sie es wirklich böse meinen. Mit ihrer Eifersucht oder Ignoranz machen sie ihre Partner kaputt. Bei Kuhhörnern ist es etwas plastischer: Eine Kuh mit Horn, die eine andere zu doll berührt, hinterlässt blaue Flecken. Deshalb versucht Bauer Sagel, die Hörner seiner Kühe “wegzuzüchten” – eine Kuh, die mit Hörnern geboren wird, bleibt kinderlos.

Der Mensch hat die Macht über die Natur. Bauer Sagel entscheidet, welche Kuh wann von welchem Bullen schwanger wird, er entscheidet, was die Kühe fressen und wann sie sterben. Auch Berührung kann eine Macht-Geste sein. Wer zum Beispiel jemanden lobt und dabei die Hand auf dessen Schulter legt, der sagt eigentlich: “Ich stehe über dir.” Angela Merkel kann ein Flüchtlingskind streicheln, aber ein Flüchtlingskind kann nicht Angela Merkel streicheln. Berührung ist unter Menschen nur dann schön, wenn sie in beide Richtungen funktioniert.

Zwei Kühe stehen auf einem Misthaufen und sehen dabei komischerweise ein bisschen wie Hühner aus
Zwei Kühe, die sich benehmen wie Hühner

Bauer Sagel hat uns von den beiden Kuh-Müttern mit ihren Kälbern zur nächsten Kuh-Clique geführt. Ich freunde mich mit einer braun gescheckten Kuh an, die einen kleinen Horn-Stummel hat, “das Einhorn”, nennt Bauer Sagel sie. Während ich ihren Hals streichle und sie mit ihrer langen Kuhzunge das Stroh aufleckt, spreche ich mit ihr. In einer Stimmlage, die reserviert ist für Tiere und Säuglinge. Dass sie ein feines Mäuschen ist, sage ich, eine liebe Kuh, jaaaa, du Kleine, hallo, jaaaa, du bist aber brav.

Sagel schaut uns zu, er will mir noch etwas erklären: “Am Hals mögen sie besonders gerne”, sagt er, “weil das auch unter den Kühen eine Geste ist.” Wenn eine Kuh eine andere am Hals leckt, dann ist das ein Zeichen der Unterwerfung. Ich dachte, ich hätte die Kuh dressiert, mit der bloßen Kraft meiner kraulenden Hand. Ich dachte, wir wären Freunde. In Wirklichkeit habe ich mich ihr nur unterworfen. “Das ist es wahrscheinlich, warum die Leute herkommen”, sagt Bauer Sagel. “Kühe sind gefährliche Tiere.” Und deshalb will man sie anfassen, unbedingt: weil es eigentlich bescheuert ist.

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“I’m a poor lonesome cow, and a long way from home” – Die Kuh

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