FYI.

This story is over 5 years old.

News

Zu Weihnachten mal eben aus der Wohnung geschmissen

Einige Mieter von der Reeperbahn in Hamburg wurden zwangsevakuiert—das passt dem Besitzer gut in den Kram.

Stell dir vor, es ist zwei Uhr in der Nacht. Du sitzt zu Hause, arbeitest an deiner Diplomarbeit oder schläfst und dann hämmert die Polizei an deine Tür, tritt sie fast ein, weil sie dein Leben retten will. Das Gebäude sei akut einsturzgefährdet. Dir bleibt wenig Zeit, um ein paar Sachen einzupacken, die du mitnehmen möchtest. Du musst die Wohnung jetzt für immer verlassen. Das passierte letzten Samstag einigen Mietern an der Reeperbahn in Hamburg St. Pauli. Sie wohnen in einem Gebäudekomplex, der aus zwei Mehrfamilienhäusern, mehreren Gewerbebetrieben und einer Esso-Tankstelle besteht. Schneller als die etwa 100 Bewohner es begreifen konnten, standen sie draußen auf der Straße. Gegen elf Uhr an diesem Samstagabend begann die Evakuierung des ersten Wohnblocks und der Bars, Restaurants und Diskotheken. Einige Bewohner hatten sich bei der Polizei wegen wackelnder Wände gemeldet. Deswegen mussten alle sofort raus.

Anzeige

„Ich wurde noch nie so menschenunwürdig behandelt“, sagt Oxana, Mieterin einer Einzimmerwohnung im zweiten Wohnblock. „Hey, komm da jetzt runter“, hat ein Polizist Oxana hoch gerufen. Weil sie aber nicht wollte und nicht genau wusste, was los war, trat er ihr beinahe die Tür ein, erzählt sie mir. „Ich habe mir meinen Laptop geschnappt, mein Handy, Portemonnaie, ein paar Klamotten und zwei Bücher für mein Studium“, erzählt sie. Diese Woche muss sie eigentlich ihre Diplomarbeit abgeben.

Schon vor der Evakuierung stand fest, dass der Betrieb der Esso-Häuser bis Mitte nächsten Jahres eingestellt werden sollte. 100 Prozent der Bausubstanz ist Schrott—stellten Gutachter fest. „Jetzt haben sich für unseren Vermieter über Nacht alle seine Probleme gelöst und wir, die Mieter, haben dafür sehr viele neue bekommen“, sagt Oxana. Denn eigentlich hätte Geschäftsführer Bernhard Taubenberger für jeden seiner Mieter eine Wohnung im Stadtteil St. Pauli suchen müssen—was bei derzeitiger Marktlage fast unmöglich ist. Jetzt müssen die Mietern selber suchen, wenn sie nicht weiter in Hotels oder auf der Couch von Freunden/Nachbarn schlafen wollen. Ich sitze mit ihr und Julia, einer weiteren Neu-Obdachlosen, am Küchentisch ihrer vorübergehenden Bleibe. Die Wohnung gehört Ted und Melissa, aus deren Zimmern man direkt auf die Esso-Häuser schauen kann. Ich sehe die Balkone, die seit Februar 2013 nicht mehr begehbar sind und bedarfsmäßig mit Holzbalken stabilisiert wurden. Auch die ohnehin schon dreckige Fassade weist zusätzlich ein paar Löcher auf. „Die wollten ein paar lose Fassadenteile abklopfen, haben aber nie neue rangemacht“, erzählt Oxana. Man bekommt den Eindruck, der Vermieter, die Bayerische Hausbau, wollte dem Haus ein extra schäbiges Aussehen verpassen. Sie und Julia sind überzeugt, dass ihr Vermieter das gesamte Areal aus Profitgier verrotten lassen hat. „Die haben nichts gemacht, nur diese maroden Holzbalken aufgestellt“, erzählt Julia: „Und ein Gerüst, das uns ein halbes Jahr die Sicht versperrt hat.“ Und in der Tiefgarage wurden insgesamt 1600 Stahlträger als Stützen eingebaut. Schon seit Jahren gibt es Streit um den Komplex—die Anwohner wollen die Sanierung, die Eigentümer den Abriss. Dabei machte die Bayerische bereits beim Kauf 2009 keinen Hehl daraus, hier alles platt und neu und schöner und vor allem teurer zu machen http://www.taz.de/!70842/. Geplant sind mehr als 200 neue Mietwohnungen, Eigentumswohnungen, Gewerbeeinheiten, aber auch Sozialwohnungen für die derzeitigen Mieter. Julia war noch unterwegs und kam gerade nach Hause, nachdem Oxana sie anrief und ihr von der Evakuierung erzählte. „Es war wie in einem epischen Film“, sagt sie. Sie kam auf das Haus zu, überall Polizei, überall verwirrte Menschen. Fast durfte sie nicht mehr in ihre eigene Wohnung, bis sich ein Beamter erbarmte und mit ihr hoch ging. „Das Licht war ausgefallen, wir gingen im Dunklen diesen Flur lang, er mit einer Taschenlampe hinter mir. Ich war panisch. Wie in einem Horrorfilm“, erinnert sie sich. Fünf Minuten. Laptop, Kamera, ein Kleid—mehr nicht. Später konnte sie wenigstens noch die Magnum-Wodka-Flasche retten. „Die war ein Geschenk und ich hatte ihn nötig“, erzählt sie. Ob die bisherigen Klub- und Restaurantbesitzer wieder zu ihren alten Konditionen zurück in den Neubau kehren dürfen, ist unklar. Wenn nicht, würden etwa die Kultkneipe Planet Pauli oder das Molotow vom Kiez verschwinden. Ich bin bei der Gemeinwesenarbeit St. Pauli (GWA St. Pauli e.V.), die heute ihre Räume für eine Pressekonferenz der Initiative Esso-Häuser zur Verfügung stellt. Sie sind davon überzeugt, dass die Bayerische den Esso-Komplex kaputtbesitzt hat und möchte verhindern, dass diese nun belohnt wird, indem sie ihren profitbringenden Neubau hochzieht. Um mich herum sitzen viele Presseleute, aber noch viel mehr Mieter, die jetzt kein Zuhause mehr haben, die vorübergehend bei Freunden oder Verwandten schlafen oder in einem der ranzigen Hotels (so beschreiben mir die meisten die Hotelzimmer), die der Vermieter gebucht hat. Die Stimmung ist eine Mischung aus Wut, Enttäuschung, Empörung, und Unsicherheit—einige stehen kurz vor dem Nervenzusammenbruch, denn ein Zurück wird es nicht geben, das haben Statiker am Dienstag festgestellt. Zlatko Bahtijarevic, Inhaber des Planet Pauli, kann seinen Betrieb nicht weiterführen, muss bereits gebuchte Partys absagen, kann seinen Mitarbeitern keinen Lohn geben und auch keine weiteren Rechnungen zahlen: „Ich stehe kurz vor der Insolvenz und das innerhalb von drei Tagen. Wenn das eintritt, bin ich als Unternehmer ruiniert.“ Zum Ausräumen seines Lokals will man ihm sechs Stunden geben und einen viel zu kleinen Transporter. Es macht ihn wütend, sagt er, dass jetzt in der Weihnachtszeit die Menschen auf der Straße sitzen, ihre Existenzen und Jobs verlieren, durch eine verfehlte Politik, durch die Versäumnisse der Eigentümer. Für Andreas trägt ebenso die Bayerische die Schuld. Der Mieter sitzt am improvisierten Rednerpult der GWA. Beim Reden fuchtelt er mit den Armen, seine Stimme ist kurz vorm Brechen: „Kein Wunder, dass das Haus kaputt geht. Die haben mit Baggern im Hof die Erde abgetragen. Haben den wunderschönen Flieder kaputt gemacht.“ Er wohnt seit 25 Jahren in den Esso-Gebäuden, bis er jetzt rausgetrieben wurde: „Auf der Straße stand eine Frau mit ihrem Baby im Arm, kaum angezogen.“ Er scheint den Tränen nahe. Die Mieter sind aufgebracht. Derzeit bekommen sie ein Hotelzimmer mit Frühstück bezahlt. Sie haben dort aber weder eine Küche, noch großartig Gelegenheiten, ihre Wäsche zu waschen. Wer anders untergekommen ist, bekommt 35 Euro Aufwandsentschädigung pro Tag—ein Witz. Diese Mittel fließen solange, bis sie eine Wohnung gefunden haben. Bernd Vetter ist Rechtsanwalt und Experte für Bodenspekulation und Mietwucher. Er hatte die Bayerische schon bereits lange vor der Evakuierung angezeigt, wegen Verstößen gegen das Wohnraumschutzgesetz. „Die Instandsetzungspflicht der Gebäude wurde jahrelang, sogar jahrzehntelang, vernachlässigt“, sagt er. Auch schon vom vorherigen Eigentümer des Esso-Komplexes. Im Oktober hatte er die Behörde aufgefordert, die Bayerische zur Sanierung zu verpflichten—was die Behörde verweigerte.   „Wir haben in den vier Jahren die Dinge instand gehalten, die instand zu halten waren“, erzählt mir der Geschäftsführer der Bayerischen, Bernhard Taubenberger. Auch sei der Vorwurf haltlos, sie würden sich nicht um ihre Mieter kümmern, so Taubenberger. Es sei immer ein Ansprechpartner da, der sich kümmere. Meinen sie die Dame, die ihre Visitenkarte nur auf Anfrage rausgegeben hat und alleine für über 100 verzweifelte Mieter und Gewerbetreibende zuständig ist, so wie die Betroffenen behaupten? Er erzählt mir, dass dies Blödsinn sei. Insgesamt seien es sechs Leute, inklusive ihm, die sich um die Mieter kümmern. Aber jeder, den ich treffe, fühlt sich im Stich gelassen vom Vermieter. Auch erzählen sie mir, wie das Haus immer schäbiger wurde. Es sehe nicht danach aus, dass Herr Taubenberger oder der vorherige Eigentümer jemals wirklich Geld in diesen Gebäudekomplex investiert haben.