Wer „Narcos“ schaut, muss auch „Cartel Land“ sehen

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Wer „Narcos“ schaut, muss auch „Cartel Land“ sehen

Wir haben eine exklusive Vorschau auf die preisgekrönte Doku aus dem Herzen von Mexikos erbarmungslosen Drogenkrieg.

Pablo Escobar ist aktuell wie schon lange nicht mehr: In der neuen Serie Narcos lässt Netflix noch einmal die Anfänge des südamerikanischen Drogenhandels aufleben—und das sieht, bei aller Brutalität, durchgehend ziemlich glamourös aus. Der Größenwahn, das Geld, die Häuser, die Flugzeuge, die Boote—das erste südamerikanische Drogenimperium, das Medellin-Kartell, war überlebensgroß.

Der Drogenhandel hat Süd- und Mittelamerika seitdem nie wieder losgelassen. Trotzdem hat sich seit Escobars Tagen viel verändert. Nach dem Untergang des großen Kolumbianers übernahmen mexikanische Kartelle endgültig die Kontrolle über den Handel, heute kontrollieren sie 90 Prozent des Kokains, das in den USA ankommt.

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VIDEO: Wie Pablo Escobars Vermächtnis der Gewalt heutige Kartellkriege antreibt.

Seitdem ist wenig vom Glamour übrig geblieben, Gewalt gibt es dafür umso mehr. Spätestens, seit letztes Jahr im Bundestaat Guerreo in einer Nacht 43 Studenten von der Polizei entführt, an Kartell-Henker übergeben und ermordet wurden, weiß die Welt, wie sehr der Drogenkrieg Mexiko zerrüttet hat. Dem amerikanischen Dokumentarfilmer Matthew Heinemann ist jetzt gelungen, einen tiefen Einblick in die Realität dieses Krieges zu erhalten. Sein Film „Cartel Land" zeichnet ein verstörendes Bild von Gewalt, Machtkämpfen, Korruption und Verzweiflung.

Einen exklusiven Auszug aus dem Film könnt ihr hier sehen:

Der Film folgt zwei sehr unterschiedlichen Männern, die beide Bürgerwehren im Krieg gegen die Kartelle anführen: Der eine ist Tim „Nailer" Foley, der mit seiner „Arizona Border Recon" auf der amerikanischen Seite der Grenze patrouilliert, weil die Grenzbehörden seiner Meinung nach nicht in der Lage sind, den Drogenschmuggel der Kartelle zu verhindern—ein knöchriger, grimmiger „Patriot", der eine Gruppe von ebenso grimmigen und bewaffneten Rednecks um sich gesammelt hat, die alle ein eher problematisches Verhältnis zum Staat und vor allem zu Mexikanern zu haben scheinen. In Deutschland wären sie wahrscheinlich „Asylkritiker".

Der andere ist Dr. José Mireles, der charismatische Anführer der frisch formierten „Autodefensas" im mexikanischen Bundesstaat Michoacán. Die Autodefensas haben sich aus Bauern, Handwerkern und kleinen Händlern gebildet, um der Schreckensherrschaft des Tempelritter-Kartells in ihrer Gegend ein Ende zu setzen. Zu Anfang des Films scheint das noch ziemlich friedlich abzulaufen: Die Autodefensas fahren in eine Stadt und erklären sie für befreit, sie schwingen Reden und setzen sich mit Hilfe der begeisterten Stadtbevölkerung gegen die Armee durch, die auftaucht, um die Miliz zu entwaffnen. Vom Kartell ist erstmal nicht viel zu sehen. Als Zuschauer denkt man sich hier noch, dass es vielleicht schon reicht, dass man keine Angst mehr vor ihnen hat, um die Macht der Drogendealer zu brechen.

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Und dann kommt diese Szene: Eine junge Frau erzählt mit monotoner Stimme und leeren Augen, wie ihr Mann zusammen mit anderen Autodefensas von zwei Kartell-Henkern namens El Chaneque und Caballo hingerichtet wurde: „Zuerst haben sie meinen Mann mit einem Schweißbrenner verbrannt, als er noch lebte. Dann haben sie noch vier Leute reingebracht. Sie haben sie einen nach dem anderen umgebracht. Sie haben ihre Köpfe, ihre Hände, ihre Beine—alles—in Stücke geschnitten. Dabei haben sie gelacht wie Verrückte. Es hat sie glücklich gemacht."

Kurz darauf ist Heinemann dabei, als die Autodefensas El Chaneque und Caballo finden und nach einer Schießerei festnehmen. Man kann den wütenden Männern die Tritte und Schläge kaum übelnehmen, die sie den beiden Mördern verpassen.

Nur hört es da nicht auf: Die Autodefensas werden zunehmend mächtiger, errichten eigene Gefängnisse, foltern und misshandeln ihre Gefangenen. Selbst der edle Dr. Mireles gibt nachts an einem Checkpoint den geflüsterten Befehl, einen gefangenen mutmaßlichen Kartell-Kämpfer an Ort und Stelle zu exekutieren—Heinemanns Kamera und Mikrofon sind immer mit dabei.

Aber während Mireles tatsächlich von seiner Befreiungsmission überzeugt scheint, wird langsam deutlich, dass die anderen Autodefensas andere Vorstellungen haben, was sie mit ihrer neuen Macht anfangen können. Als die Regierung schließlich anbietet, die Miliz in „Rural Defense Corps" umzubenennen und mit besseren Waffen auszurüsten, ist sich der Doktor sicher, dass sie vereinnahmt werden sollen. Die meisten seiner Weggefährten, unter die sich zunehmend ehemalige Kartell-Mitglieder gemischt haben, nehmen den Deal gegen seinen Willen an, Mireles muss fliehen und aus dem Exil zusehen, wie seine Autodefensas zunehmend selber ins Drogengeschäft verstrickt werden.

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Der Film endet mit einer Gruppe Männer, die nachts irgendwo in der Wüste Meth kochen. Einer von ihnen trägt die Uniform des Rural Defense Corps. „Wir als Köche müssen den Kopf unten halten, jetzt wo wir Teil der Regierung sind", erklärt er ruhig. „Es ist eben eine endlose Geschichte." Wenn es nicht die Realität wäre, würde man den Plot als zu vorhersehbar abtun.

So aber ist es Heinemann gelungen, eine geradezu epische Erzählung über die ausweglose Spirale von Gewalt, Ausbeutung und Profit in Mexikos armen Regionen zu schaffen. Das einzige Manko ist vielleicht, dass er unbedingt an seiner Parallelstruktur mit der Bürgerwehr in Arizona festhalten wollte—die Erzählung von Foleys Truppe ist zwar auch interessant, neben der tragischen Geschichte des Dr. Mireles in Michoacán muss sie aber verblassen.

Cartel Land ist ein bedrückender, wichtiger Film, der die Realität des Drogenkrieges jenseits von jedem Escobar-Kult zeigt. Und gerade deshalb sollte man ihn sich unbedingt anschauen.

Cartel Land wird heute abend im Sputnik Kino in Berlin gezeigt, für alle anderen ist er auf iTunes verfügbar.