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Aufwachsen im Thurgau

Willkommen in Mostindien, dem Kanton, dessen Einwohner Lieblingsapfelmarken haben.
Foto von Gerhard Giebener

Eine typische Thurgauerin bin ich nur in einer Hinsicht: in Bezug auf meinen Apfelkonsum. Ich habe sogar eine Lieblingsapfelmarke, so wie andere ein Lieblingsbier haben. Ansonsten bin ich Kreuzlingerin, denn ich finde es schwer, mich mit dem Thurgau zu identifizieren oder mit dem, was ich dafür halte. Thurgau ist für mich das Ländliche, Bäuerliche. Holzschnitzelfeste wie die legendäre "Crazy Night" in Müllheim. Am Ende des Abends hat man da nicht vom Tanzen, sondern vom Vom-einen-Zelt-zum-nächsten-Laufen müde Beine. Dann die Tendenz, SVP zu wählen. Kreuzlinger wählen zwar auch SVP, haben aber gleichzeitig einen Ausländerbeirat, der ebenfalls eine politische Stimme hat. Verständlicherweise, mit mehr als 50 Prozent Ausländeranteil in der Bevölkerung.

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Besonders meine Sek-Zeit war geprägt von multikulturellen Klassenkameraden und Jugo-Slang, der so ganz anders ist als das Thurgauerdeutsch, auf das man in den restlichen Schweizer Kantonen immer angesprochen wird. Und in der Primarschule sangen wir an Geburtstagen nicht nur auf Deutsch, Englisch und Französisch "Happy Birthday", sondern auch in der Muttersprache des jeweiligen Geburtstagskindes. Ich kann bis heute einem Albaner, Serben oder Türken zum Geburtstag gratulieren.

Sofern nicht anders angegeben: Foto von der Autorin

Alle Kreuzlinger finden, dass Kreuzlingen hässlich ist. Wir finden unsere Heimatstadt nicht schön und belächeln die vergeblichen Versuche der Stadtverwaltung, mit der Errichtung des sogenannten "Boulevards" Kreuzlingen so etwas wie ein Zentrum zu geben. In diesem Zentrum sollen sich die Einwohner treffen zum Einkaufen, Ausgehen und Kaffeetrinken. Aber wer macht das schon? Die Kreuzlinger Jugend geht nach Konstanz.

Die in der Mittagspause auf den Gängen der Kanti und PMS, der Pädagogischen Maturitätsschule, wohl am meisten gestellte Frage lautet "Gömer Konschdanz?", woraufhin die Rucksäcke im Aufenthaltsraum verstaut werden und man nur mit dem Portemonnaie in der Hand in die Nachbarstadt eilt, um sich dort eine Vorspeise plus Pizza plus Getränk für 7.50 Euro zu gönnen, wofür man diesseits der Grenze sicher das Doppelte gezahlt hätte. Zugegeben: In den letzten Jahren sind mit der "Paninoteca" und der "Chickeria" annehmbare Alternativen für das Mittagessen der Kreuzlinger Kanti- und Semischüler entstanden. Die "Paninoteca" richtet sogar ihre Betriebsferien nach den Schulferien aus.Nicht nur zum Mittagessen geht die Thurgauer Jugend gerne nach Konstanz.

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Auch zum Shoppen und zum Feiern am Wochenende trifft man sich lieber jenseits der Grenze. Sozusagen direkt hinter dem Zollhaus liegt auf deutscher Seite die Bar " Globetrotter". In dieser trifft man fast ausschliesslich Schweizer an. Um ihre ersten Cocktails zu schlürfen, gehen vor allem Teenager ins "Rigg's", das ich noch als "Pastante" kenne. Dessen unansehnliche Einrichtung hielt ich jeweils nur durch die günstigen und guten Drinks aus. Zum Tanzen bevorzugte ich lange Zeit den Club "Berry's". Einerseits verfügt er über zwei Floors, da fand ich eigentlich immer Musik, die ich mochte. Andererseits traf ich dort garantiert auf bekannte Gesichter.

Als ich an einem Freitagabend partout niemanden fand, der ebenfalls Lust auf Ausgang hatte, beschloss ich, allein ins "Berry's" zu fahren. Es wurde einer der besten Ausgehabende meines Lebens, weil ich zum einen auf Leute traf, die ich seit langem nicht gesehen hatte, zum andern plötzlich Bekannte auftauchten, die ich nie im "Berry's" erwartet hätte. Seitdem weiss ich, dass ich im Lieblingsclub meiner Jugend bestimmt nie einsam sein werde. Auch wenn der nicht in meinem Heimatort, sondern in der Nachbarstadt steht.

Es ist aber durchaus nicht so, dass Kreuzlingen nur schlecht ist, nein, gar nicht. Zum einen hat Kreuzlingen den Seeburgpark. Im Sommer ein wunderbarer Ort zum Baden, Sünnele, Relaxen und Leute treffen. Der ist so beliebt, dass sich die samstägliche Völkerwanderung, bei der normalerweise einkaufslustige Schweizer nach Konstanz pilgern, sogar umkehrt und Deutsche nach Kreuzlingen kommen, um die Idylle des weitläufigen Parks zu geniessen. Wenn die Nächte lau sind, eignet sich unser Seeufer sogar als Partylocation. Einige meiner besten Ausgehnächte begannen und endeten im Seeburgpark.

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Nachdem wir, von Bowlefrüchten leicht beschwipst, einen gefundenen Einkaufswagen kichernd und johlend über die Wege geschoben hatten, machten wir es uns am Ufer nochmal gemütlich. Dann ging es weiter in einen der Konstanzer Clubs, in dem wir die Nacht durchtanzten und uns erst am nächsten Morgen von einem Taxi am Hafenbahnhof wieder absetzen liessen. Nun waren wir ohnehin wach, an Schlaf war nicht mehr zu denken, und bis zum Sonnenaufgang war es auch nicht mehr lang. Und wo liesse sich dieser besser geniessen als am Seeufer? Also kehrten wir an unseren Ausgangspunkt zurück und genossen erschöpft, aber zufrieden den Anblick des sich rot färbenden Himmels.

An diesem Thurgauer Seeufer lässt es sich bestimmt auch gut wach bleiben | Foto von Hansueli Krapf | Wikimedia | CC BY-SA 3.0

Weiter hat Kreuzlingen die Gymnastik-Gruppe. Seit der dritten Klasse lerne ich dort tanzen und turnen—Zehen strecken, Spannung, Rad schlagen, Flik, Bögli und alles, was dazugehört. Auch die Gymnastik-Gruppe ist anders als die übrigen Thurgauer Turnvereine, die TV. Erstens haben wir keine Männer. Zweitens—daraus folgend, würde ich sogar behaupten—halten wir uns in den Festzelten der Turnfeste bei Alkoholkonsum und Gegröle meist vornehm zurück. Während die anderen laut johlend ihre Platzierungen feiern, anstossen, singen und manchmal auf den Tischen tanzen, holen wir unsere Preise ab, strahlen in die Kameras und fahren dann, mit Schinken, Käse und Speck beladen, im Teambus wieder nach Hause.

Obwohl ja "mein" Verein kein typischer Thurgauer Turnverein ist, bin ich dennoch der Meinung, dass die TV-Kultur etwas sehr Schönes, für die Gesellschaft Wichtiges ist. Besonders in den ländlicheren Regionen meines Kantons spielen die Turnvereine eine grosse Rolle im sozialen Leben, da sich sowohl Männer als auch Frauen mit ihnen identifizieren können und sie zudem generationenübergreifend sind. Man treibt gemeinsam Sport, organisiert Anlässe und Wettkämpfe, arbeitet, isst, trinkt und feiert miteinander.

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Als typische Kreuzlingerin bin ich es überhaupt nicht gewohnt zu pendeln. Wer in Kreuzlingen aufwächst, muss während der Pflichtschulzeit garantiert nie die Stadt verlassen. Wir haben fünf Primarschulen, drei Sekundarschulen und zwei Mittelschulen. Eine der Mittelschulen ist die Kantonsschule, die andere die Pädagogische Maturitätsschule, Semi genannt. Ich war eine der "Semis", denen der Ruf anhaftet, über die Wiese tanzende, Gras rauchende, Gitarre spielende Hippies zu sein. So redet man zumindest an der Kanti. Und zwar nicht ohne Grund. Allerdings darf dieser Ruf auch nicht verallgemeinert werden, nicht alle Semis können sich damit identifizieren. Einige stören sich sogar an dem ihnen von aussen aufgedrängten Hippie-Image und protestieren lautstark oder rollen mit den Augen, wenn Kommentare dieser Art gemacht werden.

Kreuzlingen hat irgendwie doch alles, was man so für den Alltag braucht—vorausgesetzt, man darf die Shopping- und Ausgehmöglichkeiten von Konstanz zu den Kreuzlinger Attraktionen zählen. So war ich lange Zeit nie gezwungen, meinen Wohnort zu verlassen. Das macht ein Stück weit unflexibel, und man verpasst Events, die der Rest des Kantons Thurgau zu bieten hat. Zum Beispiel die WEGA, die grösste Thurgauer Messe mit zahlreichen Ständen, einem Jahrmarkt und Festzelten. Für mich persönlich ist die WEGA der einzige Event, der alle Thurgauer vereint.

An die WEGA geht Jung und Alt, sei es zum Ausgehen, Essen, Trinken, Musik hören, Einkaufen, um sich zu informieren oder einfach nur Leute zu treffen und zu plaudern, egal, ob man vom Bodensee, der Region Frauenfeld oder dem Hinterthurgau kommt. Sonst kenne ich kaum Anlässe, die wirklich im ganzen Thurgau Anziehungskraft ausüben. Die Seenachtsfeste der einzelnen Städte sind zwar ebenfalls sehr sehenswert und beliebt, werden aber hauptsächlich von Einwohnern der näheren Umgebung besucht. Auf der WEGA hingegen trifft man Leute aus dem ganzen Thurgau und sogar von ausserhalb.

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Ein paar Mal machte ich mich abends, geschminkt, gut angezogen, die bequemen Sneakers und das Gleis-7-Abo in der Tasche, auf den Weg nach Winterthur oder Zürich. Da sich meine sonstigen Ausgangserfahrungen auf Konstanz beschränkten, war ich an dementsprechend niedrige deutsche Euro-Preise gewohnt. Als ich das erste Mal in Winti oder Zürich weg war, blieb mir erst einmal die Luft weg. Und die nächsten Male schaute ich, dass ich entweder mit spendablen Herren oder mit Leuten mit Connections feiern ging.

Häufig war ich allerdings nicht in der Schweiz im Ausgang. Was einerseits wirklich an den noblen Preisen liegt, andererseits aber auch daran, dass der Thurgau ausser speziellen Events wie der WEGA nun wirklich nichts zum Ausgehen bietet und man somit immer auf den reichen Nachbarkanton Zürich angewiesen ist. Damit zusammenhängend ist man auch von den ÖV und deren Fahrzeiten abhängig. Aus diesem Grund verbrachte ich einmal einige Nachtstunden müde und allein am Winterthurer Bahnhof, weil die Verbindung nach Weinfelden erst ab 05:00 Uhr morgens wieder fuhr. Danach konzentrierte ich mich eine Zeit lang wieder auf Konstanz, dessen Weggeh-Locations für mich alle in Laufnähe liegen.

Partymässig scheint der Thurgau also nicht viel zu bieten zu haben. Oder ich habe die richtigen Orte noch nicht entdeckt. Ich kenne einen einzigen Club im Thurgau, der mir persönlich zusagt: die "Katakomben" in Tägerwilen. Ein Kellergewölbe mit Bar und Tanzfläche, in dem einmal im Monat eine Party steigt und jedes Mal grossartige Stimmung herrscht. Von aussen würde man das nie vermuten. Wer weiss, vielleicht gibt es in den Thurgauer Dörfern noch weitere solcher Geheimtipps. Die Hoffnung habe ich noch nicht aufgegeben.

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Wer am Bodensee aufwächst, wächst auch mit den allsommerlichen Seenachtsfesten auf. Kreuzlingen, Arbon, Bottighofen, Romanshorn. Damit wir uns jeweils auf der dazugehörigen Chilbi amüsieren und an den Ständen verpflegen konnten, erhielten meine Schwester und ich von unseren Eltern ein paar Franken extra, unser "Seenachtsfestgeld". Meine Heimatstadt liefert sich jeweils ein Duell mit dem deutschen Nachbarn Konstanz, wer das prächtigere Feuerwerk in die Luft jagt. Auf beiden Seiten der Grenze ist man sich jeweils einig: Die Kreuzlinger schlagen die Konstanzer um Längen.

So schlecht ist es also gar nicht, in Kreuzlingen im Thurgau aufzuwachsen. Durch meine Heimat bin ich eine naturverbundene, multikulturelle, durch Euro-Preise geizig gewordene Apfelsüchtige geworden, die am liebsten zu Fuss in den Ausgang geht. Man kann darüber streiten, ob diese Mischung schön ist. Auf jeden Fall ist sie interessant. Genau wie Kreuzlingen, das ja eigentlich hässlich ist.

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Titelfoto von Gerhard Giebener | Wikimedia.jpg) | CC BY 2.0