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Mode

Exactitudes

Für alle Individualisten da draußen: Ihr seid bei Weitem nicht so einzigartig, wie ihr denkt.
Jamie Clifton
London, GB

Eines der Flygirls – Rotterdam, 2002

Exactitudes ist ein Fotoprojekt, das 1994 von Ari Versluis und Ellie Uyttenbroek ins Leben gerufen wurde und alle noch bestehenden Träume von Individualität (wenn du auf so was Bizarres und Masochistisches stehst) zerstört. Exactitudes ist eine zwei Jahrzehnte umspannende anthropologische Studie über jede soziale Gruppe und Subkultur, die das Duo in ihr Studio locken konnte; von den Beijing Kids, die von Scream Records besessen sind über in Pelz verliebte Italienerinnen und Hausdaddys hin zu religiösen Rockern aus Rotterdam. Jede Gruppe ist auf absolut uniforme Weise fotografiert und in einem Gitternetz zusammengestellt, um die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu betonen. Ich habe mit Ari über das Projekt gesprochen und darüber, was es bedeuten soll.

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Skater – Rotterdam, 1997

VICE: War dir bewusst, dass aus Exactitudes solch ein gewaltiges Projekt wird, als du angefangen hast?
Ari Versluis: Nein, der Anfang war eigentlich nur ein Zufall. Eine holländische Telekommunikationsfirma beauftragte mich, Porträts von Jugendkulturen zu machen und Gabber war in Rotterdam gerade richtig im Kommen. Also habe ich Porträts von Gabber-Jungs gemacht und das war’s.

Was dann?
Nach einer Weile haben wir im Studio gesessen und etwas zu viel Wein getrunken und dachten uns, wie großartig es wäre, wenn wir Hunderte solcher identischer Porträts hätten. Also sind wir zu Nightmares, dieser großen Gabber-Party in der Rotterdamer Energy Hall, gegangen und haben da einen Haufen Leute gefragt, ob sie mit uns ins Studio kommen. Die meisten davon waren ziemlich zugedröhnt, aber wir haben es doch hinbekommen, ein Paar reinzukriegen. Die holländischen Medien haben es geliebt, weil viele schon über Gabber geschrieben haben, aber keiner es geschafft hat, sie vernünftig zu fotografieren. Bis wir kamen. Da haben wir einfach weitergemacht.

Gabberbitches – Rotterdam, 1996

Stylt ihr die Models überhaupt vorher?
Nein, kein bisschen. Deswegen will auch Ellie nicht mehr Stylistin genannt werden, sondern Profilerin. Als wir angefangen haben, war Styling überhaupt kein großes Thema. Die Briten hatten ein bisschen was am Laufen, so mit Simon Foxton und den frühen i-D-Sachen, aber heutzutage ist jeder Stylist, was das Wort wieder entwertet. Aber es verwirrt ja auch, wenn die Leute denken, wir würden Hand anlegen, was wir aber nie tun. Wenn wir jemanden auf der Straße sehen, der uns gefällt, fragen wir ihn, ob er im selben Outfit, in dem wir ihn treffen, zu uns kommen würden.

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Wie entscheidet, ihr welche neuen Gruppen es wert sind, fotografiert zu werden?
Wir versuchen wirklich, offen und frei zu sein, wenn wir ein neues Projekt starten, was in Wirklichkeit sehr schwer ist, da man immer irgendwie erwartet, welche sozialen Gruppen man treffen wird. Aber da muss man wirklich aufpassen, sonst bringt man Klischees und die sind nie aufregend.  Die letzte Reihe, zum Beispiel, bestand daraus, dass wir in Mailand einfach überall hingegangen sind—Einkaufszentren, Clubs, Theater, Supermärkte—und einfach gekuckt und analysiert haben, so lange bis wir etwas Besonderes fanden.

Also muss hinter einer Gruppe auch eine echte Kultur stehen, damit ihr euch überhaupt die Mühe macht, sie zu einem Teil von Exactitude zu machen?
Ja. Aber das ist ja auch das besonders Interessante, erst die Geschichte wird zeigen, ob eine gesellschaftliche Gruppe wirklich so wichtig sein wird, wie man es sich zu dieser Zeit denkt. Es ist genauso, wie Susan Sontag es gesagt hat, dass ein Bild älter wird und entweder viel viel wichtiger wird oder sich zeigt, dass es überhaupt nicht bedeutend ist.

Gimmies – Praia, 2004

Gibt es irgendwelche Gruppen, die kamen und gingen und die du gerne fotografiert hättest, aber nicht hast?
Ja, sogar ziemlich viele, aber das ist auch Teil des Flusses, der dich voran bringt. Es gibt unzählige Gründe, dafür, warum wir sie nicht fotografiert haben. Sie können zum Beispiel zu grausam, zu politisch, zu religiös sein und all diese Faktoren machen es wirklich schwer, eine Gruppe so zu infiltrieren, dass man ein Foto machen darf. Hier in den Niederlanden zum Beispiel ist es wirklich schwer, die marokkanischen Boys und die muslimischen Fashion-Girls an Bord zu kriegen. Selbst wenn eine Gruppe in den Straßen sehr sichtbar ist, heißt es nicht, dass es leicht ist, sie zu porträtieren.

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Kannst du genauer auf ein paar bestimmte Exactitudes eingehen? Hast du einige davon selbst benannt? Z.B. Cocktails & Dreams?
Ja, Cocktails & Dreams sind Mädchen aus den Niederländischen Antillen, eine Gruppe, die in Rotterdam sehr sichtbar ist. Eigentlich sind sie aus der Karibik und nicht den Niederlanden, deswegen nennen wir sie Cocktails & Dreams. Wir hätten sie auch „Girls from the Dutch Caribbean“ nennen können, aber der Name ist nicht sehr prickelnd.

Ghoullies – Rotterdam, 2002

Das ist wahr. Was ist mit Smas?
Oh, Smas steht in der niederländischen Umgangssprache für harte Mädchen. Eigentlich gibt es viele mit spezifisch niederländischem Bezug. Die Speedfreaks sind zum Beispiel besonders niederländisch. Hier in den Niederlanden gab es einen großen Club, der Now & Wow hieß, da gab es eine Nacht, die Speedfreaks hieß. Die Leute kamen dahin und waren wie die Tektoniks aus Frankreich angezogen—ein Haufen Gel in den Haaren und so weiter. Das kennzeichnete eine große Veränderung der gesellschaftlichen Gruppen der Niederlande, vor allem, weil viele muslimische Kids dabei waren, die vorher in den Jugendsubkulturen nicht sichtbar waren. Also war das ein ziemlich emanzipatorisches Ding für sie.

Cool. Was ist mit den Chillers? Die sehen ziemlich cool aus.
Das ist eine ganze Serie über das erste Jahr, das man in der Oberstufe verbringt. Nachdem wir sehr, sehr viele Schulklassen gesehen haben, haben wir festgestellt, dass es immer einen Typen gibt, der alles anders macht. Er war der erste Skater, der erste, der sich die Haare bleichte, oder was auch immer und außerdem war er ziemlich gelassen. Keiner hat ihn je wirklich verstanden und er hatte immer das tiefsitzende Gefühl, dass er anders ist als der Rest. Aber er schaffte immer, sich einen gewissen Respekt zu verschaffen.

Leathermen – Rotterdam, 1998

Welche besondere Gruppe wolltest du leidenschaftlich gern fotografieren?
Die Gabbers. Es ist die erste Serie des ganzen Projekts und fasziniert mich einfach so sehr. Es war die erste echte niederländische Jugendkultur. Und zufällig waren es Jugendliche die gern Hardcore und aggressiven Techno hörten und lieber bonbonfarbene Neon-Trainingsanzüge trugen, das war unglaublich. Zuerst hatte Rotterdam keine einzige Plattenfirma, jetzt sind es 2000, von denen alle Gabber verkaufen und das war noch vor dem Internet, was das Ganze viel lokaler und natürlicher macht. Außerdem hat es die Art verändert, wie wir Street-Fashion in den Niederlanden sehen—es ließ uns neu bewerten, was man noch alles machen könnte. Also ja, ich denke das ist die Schlüsselreihe für uns.

Ich denke, ich muss dir zustimmen. Abschließend, gibt es irgendeine Botschaft, die du über die Jahre, in denen du an dem Projekt arbeitest, entwickelt hast? Oder ist es eine reine Dokumentation von Subkulturen?
Nach nahezu zwei Jahrzehnten, in denen ich Leute beobachtet und detailliert studiert habe, habe ich das fundamentale Prinzip entwickelt, niemanden zu beurteilen. Das ist eine überaus humanistische Sichtweise und könnte von der, mit der die Leute das Projekt interpretieren, abweichen, aber genau so fühle ich.