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Ich habe Experten gefragt, warum Weihnachten dich emotional fertigmacht

Fressgelage, Geschenkestress und die Familie oder auch die Abwesenheit davon können einen um Weihnachten ziemlich fertig machen.
Foto: Imago/STTP

Die Weihnachtszeit ist nicht nur die Zeit des Glühweins mit Schuss, der Abstürze nach ausufernden Firmenweihnachtsfeiern und der festlich befeuerten sexuellen Aktivität, die die Geburtenrate neun Monate später in die Höhe schnellen lässt. Die Weihnachtszeit ist auch die Zeit der Familie, der schwer erträglichen bis unerträglichen Christmas-Playlists und der kitschigen Weihnachtsfilme, die uns glauben machen wollen, dass der wichtigste aller christlichen Feiertage selbst den fiesesten Großkapitalisten in einen herzensguten Philanthropen verwandeln kann.

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Und natürlich ist die Weihnachtszeit auch die Zeit der emotionalen Zusammenbrüche, ausgelöst durch Stress und die Angst vor Enttäuschungen oder durch trickreiche Werbestrategen, die genau wissen, wie man auch noch dem abgebrühtesten Weihnachtshasser eine Träne aus dem skeptischen Auge kullern lässt. Einige reagieren auf diese Rührseligkeit mit Trotz und Aggression wie Olli Schulz in der Circus HalliGalli-Antwort auf den Edeka-#heimkommen-Spot, andere wiederum scheinen, kurz vor und bis über die Festtage hinaus in Trauer und düsterer Stimmung zu versinken. Um herauszufinden, was am Mythos der Weihnachtsdepression wirklich dran ist, habe ich mich mit zwei Experten über dieses Thema unterhalten.

Uli Schulte-Döinghaus von der Telefonseelsorge hat an den Weihnachtstagen nicht mehr zu tun als sonst, allerdings seien die Gespräche in dieser Zeit besonders intensiv. Die größten Faktoren für die traurige Weihnachtsstimmung sind Einsamkeit und soziale Isolation, meint der Telefonseelsorger. Die Klientel bestehe hauptsächlich aus Frauen mittleren Alters, bei denen die Familie zerrüttet ist, und aus sehr alten Damen, bei denen alle langjährigen Freunde bereits verstorben sind. „Mit denen singen wir dann auch schon mal ein Weihnachtslied am Telefon", sagt Schulte-Döinghaus, „auch wenn es schrecklich klingt, aber das hört ja keiner." Dass hauptsächlich Frauen anrufen, bedeute übrigens nicht, dass Männer an den Festtagen weniger leiden, sondern lediglich mit ihrem Leid anders umgehen, indem sie zum Beispiel in die Kneipe gehen oder ihre Probleme ausschließlich mit sich selbst ausmachen. Auch junge Leute rufen manchmal an, doch meistens erst spät in der Nacht. Laut Schulte-Döinghaus allerdings nicht, weil sie vereinsamt sind, sondern weil Probleme in der Partnerschaft eskaliert sind oder eine Liebe nicht zustande gekommen oder in die Brüche gegangen ist.

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Als Nächstes spreche ich mit dem Psychotherapeuten Jörg Otto. Dem Psychologen sind keine wissenschaftlichen Studien bekannt, die belegen würden, dass die Depressivität unter den Menschen um die Weihnachtszeit zunimmt. Er erzählt, dass die Kliniken und Depressionsstationen das ganze Jahr über gut belegt sind und es Ende Dezember keinen Anstieg der Einlieferungen gibt. Die Gefährdung für Suizide nähme nicht zu Weihnachten zu, sondern vielmehr im Herbst und Frühjahr, wobei im Herbst besonders die älteren Menschen erhöht gefährdet seien und im Frühling die jüngeren. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die bei Suiziden eine erhebliche Rolle spielen, doch Weihnachten ist keiner davon. Otto hält das Wort Weihnachtsdepression, wie viele seiner Kollegen, daher für übertrieben. Dass sich Krisen und Konflikte speziell an Weihnachten häufen, hält er jedoch keinesfalls für einen Mythos.

Reagieren die Leute um Weihnachten emotionaler als sonst? „Ich glaube schon, dass es vielen so geht", sagt Otto. „Das ist eine komplexe Nummer. Ich glaube, dass bei Menschen, denen Weihnachten viel bedeutet oder einmal viel bedeutet hat, ein erhöhtes Risiko für emotionale Krisen besteht, wenn die Familie inzwischen zerrüttet ist und Weihnachten nicht mehr so einen hohen Stellenwert hat. Für uns als Psychologen ist es dann schwierig, was man den Patienten, wo die familiäre Situation problematisch ist, in solchen Fällen raten soll. Kann der Patient oder die Patientin besser die Konflikte ertragen oder die Isolation? In den meisten Fällen sind meiner Meinung nach die Konflikte doch noch die bessere Lösung. Besser jedenfalls, als wenn jemand allein bleibt und sich total einigelt." Wenn es mit den Angehörigen jedoch gar nicht funktioniert, empfiehlt der Psychologe, sich stattdessen lieber mit Freunden oder Bekannten zu treffen, mit denen ein „unbelastetes" Verhältnis besteht.

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Weihnachten ist in Deutschland ein klassisches Familienfest. Und gerade Spannungen innerhalb der Familie spielen laut Otto eine wichtige Rolle, wenn es um emotionale Krisen geht. Um Erinnerungen, unerfüllte Wünsche und Konflikte, die vielleicht seit Jahren unter der Oberfläche gären. Oft stecken wir in einer Zwickmühle, ob wir unsere Gefühle lieber für uns behalten oder eine Grundsatzdiskussion vom Zaum brechen sollten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur uns selbst, sondern auch allen anderen das Fest verdirbt. Otto rät in so einem Fall, lieber authentisch mit seinen Gefühlen umzugehen als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Natürlich wird eine Konfrontation immer schwieriger, je mehr Leute noch anwesend sind, die mit dem Konflikt vielleicht gar nichts zu tun haben, deshalb empfiehlt es sich immer, besser das Zweiergespräch zu suchen. Außerdem sollte man nicht erwarten, dass die Person so reagiert, wie man sich das wünscht, oder dass sich die Leute gerade zu Weihnachten ändern."

Einen weiteren Grund für die gesteigerte Emotionalität sieht Otto in übermäßigem Alkoholkonsum. Ein paar Gläser Rotwein oder ein paar gut gemeinte Schnäpse nach dem Essen führen nicht unbedingt dazu, dass sich der Weihnachtsstress leichter ertragen lässt, sondern befeuern die Emotionen. „Alkohol ist ein Katalysator für Krisen und Konflikte, er enthemmt und führt dazu, dass Sachen gesagt werden, die man sonst nicht sagen würde. Er führt auch dazu, dass man impulsiver agiert und die anderen dementsprechend impulsiv reagieren."

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Tatsächlich ist ein Weihnachtsfest mit der Familie wohl nur in den allerwenigsten Fällen so harmonisch und voller Liebe und Glückseligkeit, wie es in Filmen und in der Werbung propagiert wird. Diese Bilder eines perfekten Weihnachtsabends spielen nicht nur mit unserer tiefen kindlichen Sehnsucht nach Harmonie, Liebe und Geborgenheit, sie setzen uns auch genauso unter Druck wie Filme und Werbung voller perfekter Körper. Wir vergleichen unsere Realität mit Illusionen und kommen zu dem Schluss, nie gut genug zu sein. Wir sehen, wie wunderschön Weihnachten sein könnte (ob diese Illusion sich nun in der Realität tatsächlich umsetzen ließe oder nicht, sei dahingestellt) und sind traurig und enttäuscht, wenn wir uns daran erinnern, dass unsere Augen schon lange nicht mehr so geglänzt haben wie die von den Kindern in der Coca-Cola-Werbung oder daran, dass unser Opa für uns noch nie ein 5-Sterne-Menü aus Tiefkühlkost gezaubert hat. Manchmal spielt auch die Freude an der Sentimentalität eine Rolle. Wir genießen es, uns bei Love Actually die Augen aus dem Kopf zu heulen und erleben danach eine geradezu kathartische Wirkung auf unser Seelenleben.

Für Leute, die sowieso psychisch krank sind, ist Weihnachten eine besondere Belastung. „Es entsteht eine große Traurigkeit darüber, dass die Familie nicht so ist, wie man sich das wünscht und darüber, dass sich das vielleicht auch nie mehr ändern wird", erklärt der Psychologe. Krisen könnten zudem auch auf rein persönlicher Ebene auftreten:„Weihnachten ist ja immer auch ein Jubiläum, und das kann wie alle Jubiläen besonders mit Krisen behaftet sein. Man fängt an, über sich selbst nachzudenken und darüber, wo man im Leben steht. Man wird sich zu solchen Gelegenheiten besonders bewusst, dass die Zeit vergeht und dass man bestimmte Dinge, die man vielleicht erreichen wollte, nicht erreicht hat." Derlei Grübeleien wirken sich auf die Stimmung und das Selbstwertgefühl natürlich eher negativ als positiv aus.

Da Silvester einen noch größeren Jubiläumscharakter als Weihnachten hat, müssten derartige Stimmungstiefs am letzten Abend des Jahres eigentlich ebenso weitverbreitet sein, oder? „Ich habe sowieso das Gefühl, dass die Wichtigkeit von Weihnachten bei den jüngeren Generationen eher gesunken ist und dort die Krisen vermehrt an Silvester auftreten", sagt Otto. „Man ärgert sich darüber, zu keiner Party eingeladen worden zu sein oder nur zu einer, zu der man keine Lust hat, und nicht zu der, auf die man am liebsten eingeladen worden wäre. Darauf folgt dann manchmal die große Abrechnung mit dem Bekanntenkreis. Man fragt sich, wie wichtig man seinen Freunden ist, und ob man vielleicht doch nicht so gut integriert ist, wie man immer dachte. Vielleicht wird Silvester Weihnachten was Krisenhaftigkeit angeht ja irgendwann sogar überholen."


Titelfoto: Imago/STTP