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​Wie es sich anfühlt, einen Terrorangriff zu überleben

Am 13. März griffen Islamisten einen Badestrand mit über 2.000 Gästen an der Elfenbeinküste an. Ein Deutscher war mittendrin und erzählt uns im Interview, wie er den Terror er- und überlebt hat.
Illustration: Sarah Schmitt. Foto vom Strand von Grand-Bassam: Zak Le Messager | Flickr | CC BY 2.0

Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Terroranschläge gehören immer mehr zu unserer Welt. Spätestens seit den Anschlägen von Brüssel vom 22. März sind der Terror und die Angst davor auch im Herzen Europas angekommen. Für viele Länder ist das aber längst Alltag: In Irak, Pakistan, Jemen, Ägypten, Somalia und vielen weiteren Ländern häufen sich seit fünf Jahren die Terroranschläge. In diesem ersten Vierteljahr von 2016 waren es schon 20 bedeutende weltweit, so viele wie ganz 2015.

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Deshalb ist es fast kein Wunder, dass es am 13. März dieses Jahres gleich zu zwei massiven Terroranschlägen in zwei Ländern kam: In der türkischen Hauptstadt Ankara sprengten sich zwei Selbstmordattentäter an einer zentralen Bushaltestelle mit ihrem Auto in die Luft und rissen 38 Menschen mit sich in den Tod. Zu dem Anschlag bekannte sich eine Splittergruppe der kurdischen PKK.

Deutlich weniger mediale Aufmerksamkeit erfuhr in Europa jedoch ein anderer Anschlag: Am gleichen Tag stürmten in der Elfenbeinküste bewaffnete Männer den malerischen Strand des Urlaubsortes Grand-Bassam mit Kalaschnikows und Handgranaten. Mindestens 18 Menschen kamen bei dem von einem al-Qaida-Ableger verübten Anschlag am 13. März ums Leben, mehr als 33 wurden verletzt (die Zahlen variieren allerdings stark). Mittendrin: Marten*.

Der 22-jährige Student aus Berlin war mit einem Freund unterwegs von Senegal über die Elfenbeinküste nach Ghana. Gefahr hat er nirgends verspürt, eher das Gegenteil. Die Menschen in Westafrika seien durchgängig nett, gastfreundlich und großzügig gewesen. Zwei Warnhinweise gab es im letzten halben Jahr aber dennoch: Die Nachbarstaaten Mali und Burkina Faso wurden von Islamisten angegriffen. In Malis Hauptstadt Bamako starben 19 Hotelbesucher, in Ouagadougou etwa 30. Urlaubsorte, an die nach den Attentaten nur noch wenige kommen wollen.

Aber auch wenn die Angst immer alltäglicher wird: Die Wahrscheinlichkeit, in einen Terroranschlag zu geraten, ist für den Einzelnen verschwindend gering. Was einem natürlich nicht hilft, wenn es trotzdem passiert. Wir haben mit Marten darüber geredet, was man in so einem Moment denkt.

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VICE: Hattest du, als ihr in Grand-Bassam ankamt, irgendwann ein mulmiges Gefühl?
Marten: Nein, eigentlich nicht, ich war davor schon in Afrika und habe nie krasse Sachen wie einen Überfall erlebt. Samstag sind wir nach Grand-Bassam gefahren, in die alte Kolonialstadt Frankreichs, die hinter dem Strand liegt. Die ist relativ runtergekommen, da wohnen die Einheimischen, eine Art Slum. Und am langen Strandabschnitt sind die ganzen großen Hotels und Ressorts mit Touristen. Wir haben uns abends nach Hotels umgesehen. Das billigste war 35 Euro, für die Elfenbeinküste ziemlich viel Geld.

In der Stadt gab es welche für drei oder fünf Euro. Wir sind zu einem gefahren, da hat uns der Taxifahrer schon gesagt: „Da solltet ihr eigentlich nicht schlafen als Weiße, das ist gefährlich." Es war ein richtiges Rattenloch, total dreckig, kein Strom, kein Wasser. Es war aber so spät, da dachten wir, die eine Nacht bleiben wir hier und am nächsten Morgen gehen wir ins teure Hotel am Strand. Wir dachten: Aber morgen am Strand, da wird's geil, da ist es ja auch sicher! Im Endeffekt war es genau andersrum.

Wie war am Sonntagmorgen die Atmosphäre in der Stadt?
Ganz normal, das konnte ja keiner ahnen. Wir sind zum Hotel—und dann sind mehrere Zufälle eingetreten. Wir konnten noch nicht ins Zimmer einchecken, obwohl wir reserviert hatten. Wir mussten bis drei Uhr warten, das war schicksalshaft. Wir konnten uns also nicht im Zimmer verstecken, was viele gemacht haben. Wer weiß, was dann passiert wäre.

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War das eins der drei Hotels, die in den Medien als Angriffsziele auftauchen?
Der Angriff war hauptsächlich bei einem Hotel. Der Strandabschnitt ist vielleicht zwei, drei Kilometer an einer Halbinsel mit Lagune gelegen. Zwischen der Stadt und dem Strand liegt ein Fluss, da gibt es nur eine einzige Brücke—die liegt auf der Höhe, wo der Angriff war. Unser Hotel war circa 150 Meter daneben.

Screenshot: Google Maps

Der Strand war komplett voll mit Leuten, es war Sonntag, bestimmt 2.000 Einheimische waren da. Das Krasse war: Wir waren genau auf der Höhe vom Hotel des Anschlags, haben uns hingesetzt und mit den Leuten geredet. Dann haben wir überlegt, wir gehen nochmal zurück zu unserem Hotel, holen noch meine Kamera, mein Handy, cremen uns ein und dann kommen wir zurück und essen mit ihnen. Das war fünf Minuten vor dem Anschlag.

Wo wart ihr, als es losging?
Wir waren auf dem Weg zurück, nach vielleicht vier Minuten kamen die ersten Schüsse hinter uns—ich habe das nicht gerafft. Vier, fünf Sekunden hat das gedauert, bis der erste in Panik weggerannt ist, dann ist der ganze Strand panisch von den Schüssen weggelaufen. Erst als alle weggerannt sind, sind wir natürlich mit. Ich dachte nur: OK, ich renne jetzt mit, aber es könnte ja ein Jäger sein oder ein Besoffener, der in die Luft schießt. Den Abend zuvor haben wir gesehen, dass vor den Hotels private Wächter mit Schusswaffen standen.

Wir haben uns erst in einer leeren Schule 100 Meter weit weg versteckt, Panik und Chaos. Nach zehn Minuten vielleicht—ich kann die Zeit nicht mehr einschätzen, es kamen jede Minute drei, vier Schüsse, durchgehend—wollten wir weiter zum Hotel. Wir dachten, bestimmt haben wir ja auch so einen Wächter.

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Habt ihr es zum Hotel geschafft?
Ja, das war noch skurriler. Im Hotel waren alle total cool und ruhig. Wir haben gefragt: „Da waren doch Schüsse, habt ihr das nicht gehört?" „Doch doch, aber wir kümmern uns drum." Die Gäste saßen rum, haben gegessen und am Pool gespielt. Da dachte ich: Krass, wenn die alle so cool sind, dann scheint es ja nichts Wildes zu sein.

Dann haben wir beide ein Floß vorbeifahren sehen, den ganzen letzten Abend und morgen war da kein einziges Boot. Es hatte eine rote Flagge—der Angriff war ja von al-Qaida im Islamischen Maghreb. Das wusste ich da aber nicht. Dann kam ein Einheimischer vorbeigerannt und hat irgendetwas geschrien. Daraufhin wurden die Hotelangestellten panisch und haben die 50 Leute aus dem Hotel in die Duschkabinen hinterm Pool geschickt. Die konnte man nicht absperren, aber da war immerhin eine Mauer davor.

Wir haben uns mit zwei Marokkanern hinter der Mauer versteckt und ums Eck geschaut, während mein Freund die Botschaft angerufen hat. Dann habe ich einen Terroristen gesehen, wie er in die Einfahrt in unser Hotel reingelaufen ist. Ich war 50 Meter weg, habe ihn gesehen, er hat aber nicht zu uns hingesehen. Im Hotel war alles leer, er ist rein und hat keinen gesehen.

Wie sah der Terrorist aus?
Er hatte eine Waffe in der Hand, hat auf den Boden gezielt und war komplett schwarz gekleidet. Blöderweise kann ich mich nicht mehr an seine Hautfarbe erinnern, aber ich glaube, er war nicht schwarz. Woran ich mich aber erinnern kann: Er hatte keine AK-47, er hatte ein modernes Gewehr. Danach hatten sie überall in den Medien gesagt, dass die nur AKs hatten, aber ich habe gesehen, dass das nicht so war.

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Was habt ihr dann gemacht?
Meinen Freund hatte ich inzwischen aus den Augen verloren. Ich wollte weglaufen und habe einen Geräteschuppen gesehen. Da waren ungefähr 20 Leute drin, alle unter Panik. Mein Freund war zwar nicht da, aber ich habe schon die nächsten Schüsse gehört und bin da geblieben. Dann war ich drei Stunden mit den anderen im Geräteschuppen. Ein Hoch und Runter, zehn Minuten gab es mal keine Schüsse, dann wieder sauviele. Granaten hatten die auch, die hat man gehört. Ich wusste ja, dass zumindest einer bis zum Hotel gekommen ist. Die Chance war 50-50—ist er wieder umgedreht oder hat er sich das genauer angeschaut?

Was geht einem durch den Kopf, wenn man sich drei Stunden im Geräteschuppen vor Terroristen versteckt?
Erst dachte ich, der kommt gleich hier rein, ich werde sowieso sterben. Keiner hatte eine Waffe, um sich zu wehren. Dann habe ich gedacht, wenn er reinkommen würde, könnte man sich ja neben die Tür stellen und ihn umtacklen. Ich wollte mir ein Holzbrett als Waffe nehmen, dann haben mich alle wieder auf den Boden geschubst, wollten ja ruhig sein. Ich war voll sauer in dem Moment, wollte nochmal aufstehen, wurde wieder zurückgedrückt und habe versucht, einem in Zeichensprache zu erklären, wie ich mit dem Holzbrett zuhaue. Dann hat der andere angefangen zu lachen, da habe ich auch gemerkt: Fuck, wie doof ist das eigentlich?

Ihr habt im Schuppen gelacht?
Ja, das war richtig skurril. Zwischendurch haben wir geweint, dann wieder gelacht, dann waren die Schüsse wieder näher und wir waren wieder ruhig. Das war immer ein Hoch und Tief, zehn Minuten lang Schüsse, dann wieder gar nichts. Eine Situation gab es, da hat einer eine Wasserflasche umgestoßen und das Wasser lief raus. Er entschuldigte sich, es täte ihm so leid, dann haben alle gelacht. Was ist das denn? Ist doch gerade voll egal.

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Nach einer halben Stunde hat sich die Lage etwas beruhigt, der Terrorist ist wohl nicht beim Hotel geblieben, die Schüsse waren weiter weg. Ein marokkanischer Junge konnte etwas Englisch. Er hat allen erzählt, es handle sich nur um einen Raubzug. Wir konnten etwas aufatmen, vielleicht töten die ja niemanden? Die Einheimischen und weißen Touristenfamilien haben dann im Schuppen angefangen, die Polizei und ihre Botschaften anzurufen. Ich habe da auch erfahren, dass mein Kumpel im Dorf war, in Sicherheit.

Hattest du im Geräteschuppen mal das Gefühl, du überlebst das?
Es war ein Hin und Her. Ich habe überlegt, mir ein Handy von den Marokkanern zu leihen, um meine Familie anzurufen. Ich wollte meine Freundin anrufen, kannte ihre Nummer aber nicht auswendig. Aber dann dachte ich, es bringt nichts, ich würde ihr nur sagen, dass ich in Gefahr bin, sie würden sich lange Sorgen machen und am Ende würde ich eh sterben. Das ist ja nicht leichter für sie.

Ich musste aber irgendetwas machen, einen Abschiedsbrief schreiben. Ich habe einen Stift gefunden und mir auf mein Bein geschrieben: „Mama, Papa, hab' euch lieb. Kathi, ich liebe dich." Irgendwie musste ich was zurücklassen. Ich habe aber voll geschwitzt—das war dann meine Beschäftigung: Ich habe geguckt, dass alles dranbleibt.

Wie wurdet ihr befreit?
Nach anderthalb, zwei Stunden kam das Militär. Auf einmal waren pausenlos Schüsse da, Automatikfeuer. Vorher waren nur Einzelschüsse und Granaten. Jetzt war es nur 20 Meter weit weg, genau vor dem Geräteschuppen. Als das Automatikfeuer losging, lagen alle nur noch auf dem Boden und haben angefangen zu beten. Wir dachten, es wird nicht lange dauern, bis der Terrorist hier drin ist. Nach einer halben Stunde Dauerfeuer die Auflösung: Ein Soldat kam bei der Tür rein, wir wurden befreit. Unser Hotel war voller Soldaten, das Militär hat bei unserem Hotel seinen Stützpunkt errichtet und sich an unserer Hotelmauer verschanzt. Das Automatikfeuer waren also die Schüsse der Guten, das wussten wir aber nicht.

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Hast du in dem Moment gewusst, dass es ein Soldat und kein Terrorist ist?
Ja ja. Am Anfang dachte ich ja noch, ich würde dem mit einem Holzbrett eins überziehen, aber beim Dauerfeuer lag ich auch nur noch auf dem Boden. Wäre es ein Terrorist gewesen, wären wir alle draufgegangen. Nach drei Stunden hatten alle aufgegeben. Das Dauerfeuer hat eingeschüchtert. Selbst die beiden Marokkaner, totale Schränke, die erst neben der Tür standen und rausgeguckt haben, lagen nur noch am Boden. Keiner hätte sich bei einem Terroristen mehr gewehrt.

Wie lief die Rettung ab?
Ein Soldat hat uns aus dem Schuppen geführt, die meisten sind gefolgt, viele sind panisch zu ihren Autos gelaufen.

Wart ihr euch sicher, dass alles vorbei war?
Nein, gar nicht. Ich war noch voll mittendrin. Ich habe den Typen gesehen und wusste, wir sollten hinterherlaufen, hatte aber nicht begriffen, dass es die Rettung war. Das war robotermäßig. Ich habe auch gar nicht gecheckt, dass unser Hotel die Militärbasis ist und da 100 Soldaten rumsitzen. Ich bin über die Straße in so eine große Lagerhalle mit Kunstateliers gelaufen. Das war die Auffangstation mit so 50 Leuten drin. Alle anderen hatten das Gefühl, sie sind da relativ sicher, haben sich umarmt und gelacht. Irgendwer hat so einen portablen DVD-Player organisiert und die Kinder haben Kinderserien darauf geschaut, waren schon wieder voll am Lachen—fünf Minuten danach.

Bei einem Terrorangriff oder Amoklauf denkt man an wild rumballernde Chaoten. Das scheint aber viel gezielter abgelaufen zu sein.
Die haben sich richtig lange Zeit gelassen, ja. Ein Augenzeuge hat einen Terroristen gesehen, der voll unter Drogen stand, gestürzt und getaumelt ist. Krass, dass 16 Leute und die vier Terroristen gestorben sind [Die Zahlen variieren hier in den Medien, Anm. d. Red.]. Am Strand waren aber wie gesagt 2.000 Menschen. Also hätten sie es anders gemacht, hätten sie bestimmt noch mehr erwischen können. Es scheint ja auch lange geplant gewesen zu sein. Viele haben gesagt, die Terroristen haben schon drei Tage vorher im Hotel eingecheckt und es ausgekundschaftet.

Wie ging es euch nach dem Anschlag?
Wir waren noch drei Tage in Abidjan und haben nichts gemacht, außer im Bett gelegen und Fernsehen geschaut. 24 Stunden kam auf allen Sendern der Terroranschlag. Wenn wir mal draußen waren zum Essenholen, sind wir zusammengezuckt, sobald ein Hund gebellt hat. Oder neben dem Krankenhaus, wo mein Kumpel erst lag, gab es eine Moschee, wo der Muezzin um 6 Uhr geschrien hat: „Allahu Akbar". Wir haben uns voll erschreckt. Die Terroristen haben das wohl auch laut geschrien, aber ich habe es nicht gehört. Ich dachte, wir könnten das schnell verarbeiten, aber es hat ein paar Tage gedauert.

Selbst wenn du das alles eindringlich erzählst, ist es schwer, das zu begreifen oder nachzuempfinden.
Ja, für mich ist das mittlerweile auch nur noch eine Story, die ich mir zurechtgelegt habe. Die ersten paar Tage war das Trauma echt krass, auch das Erzählen vor der Familie. Aber nach zehn, fünfzehn Mal Erzählen bin ich da irgendwie gar nicht mehr. Aber das ist auch ganz gut.

Was hat das bei dir hinterlassen?
Ich habe gemerkt, es kann echt überall passieren, das hat mit dem Land nichts zu tun. Ein Tag nach meinem Rückflug war das in Brüssel. Ich dachte, ich wäre in Sicherheit, und dann ist vor der Haustür nochmal so ein Ding.

Das Erlebnis hat meine Einstellung zu vielen Sachen geändert. Vor allem beim Flüchtlingsthema. Ich habe nur einen Tag Schießereien erlebt und fand es schon so krass, war so traumatisiert. Jemand, der in Syrien oder einem anderen Bürgerkriegsland lebt und das jeden Tag erleben muss, den kann ich absolut verstehen, dass der da weg möchte. Das Erste, was ich danach dachte: Ich will da weg. Wir sind zum Flughafen und meinten, wir wollen zurück. Da meinte die Frau von der Airline: „Ja, und uns lasst ihr zurück."