Wie es war, an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen Zivildiener zu sein
Foto: Robert Hunter | Flickr | CC BY 2.0

FYI.

This story is over 5 years old.

Stuff

Wie es war, an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen Zivildiener zu sein

Zwischen Imponiergehabe und Überforderung: Ein ehemaliger Zivildiener erzählt von seiner Zeit an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.

Zwischen 1938 und 1945 wurden im KZ Mauthausen und seinen Nebenlagern rund 190.000 Menschen inhaftiert. Über 90.000 überlebten das auf wirtschaftliche Ausbeutung sowie körperliche und psychologische Zerstörung ausgerichtete System nicht. Heute ist die KZ-Gedenkstätte Mauthausen der zentrale Erinnerungs-Ort in Österreich. In den letzten Jahren stand die Gedenkstätte vermehrt in der Kritik: von ehemaligen Mitarbeitern werden Reformen gefordert und Besucher vor Ort klagen über Personalmangel. Zur Kritik am neuesten Gesetzesentwurf haben wir bereits berichtet. Hier werden die Erlebnisse eines ehemaligen Zivildieners geschildert.

Anzeige

Mitte der 2000er Jahre war ich an einem persönlichen Tiefpunkt angelangt: meine damalige Freundin ließ mich sitzen und ich hatte generell keinen Plan, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ein kleiner Lichtblick war, dass ich nach der Matura als Zivildiener in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen anfangen konnte. Meine Ausgangssituation an der Gedenkstätte war eine Mischung aus Perspektivenlosigkeit, Post-Langzeitbeziehungs-Depri-Stimmung und Naivität.

Obwohl ich nur wenige Kilometer von Mauthausen entfernt aufgewachsen bin, wusste ich über die Gedenkstätte—die in der Umgebung nach wie vor als „KZ" bezeichnet wird—nur wenig. Meine einzige, wirklich greifbare Erfahrung war ein Schulausflug in der Oberstufe, bei dem wir eine Führung von einem Zivildiener bekamen, der nicht viel älter war als wir. Um was es während dieser Führung genau ging, wusste ich schon damals nicht mehr so genau. Was hängenblieb, war ein beklemmendes, mulmiges Gefühl. Diesem seltsamen, festungsartigen Bauwerk, das man nur über eine steile, gewundene Straße erreicht, etwas von seiner unwirklichen, fast mystischen Aura zu nehmen, schaffte dieser Schulausflug nicht. Dieser Fakt gibt mir jetzt—gut 10 Jahre später—zu denken.

Ich hatte mich zwar ein wenig informiert, fühlte mich aber dennoch beim Antritt meines Zivildienstes überfordert. Nicht so sehr vom Zivildienst selbst, denn darauf freute ich mich, sondern eher vom Ort und den Eindrücken, die in den ersten Tagen und Wochen auf mich und die anderen einprasselten.

Anzeige

Ich erinnere mich, dass am ersten Tag richtig viel Schnee lag. Ich stapfte vom Parkplatz zum Besucherzentrum—ein riesiger, schnörkelloser Betonklotz, der außerhalb der Lagermauern errichtet wurde—und wartete gemeinsam mit den anderen neuen Zivis. Wir stellten uns kurz vor und wurden auf einen Rundgang durch die Gedenkstätte mitgenommen. Appellplatz, Baracken, Museum und Gaskammer wirkten auf mich so unwirklich, dass wir über persönliche Dinge sprachen und das Thema Gedenkstätte konsequent ausklammerten. Einige merkten flapsig an, dass es hier immerhin besser als beim Bundesheer sei. Beim Großteil merkte ich, dass sie das Ganze schon ernst nahmen, aber unterbewusst genau wie ich von all den Eindrücken niedergeschlagen und überfordert waren. Wir wussten, dass wir schon bald selbst Schulklassen durch die Gedenkstätte begleiten mussten, hatten aber alle noch unsere Zweifel und konnten uns das nicht so recht vorstellen.

„Wir waren Jugendliche und junge Männer, die gerade einmal drei oder vier Jahre älter waren als die Schüler und Schülerinnen, denen wir unsere Meinung überstülpen sollten."

Als Grundlage sollte uns ein dreiwöchiger Geschichte-Cashkurs dienen, der bereits am zweiten Tag losging. Das hieß täglicher Frontalunterricht von einem ehemaligen Geschichteprofessor, in dem wir trocken und faktenorientiert historische Eckpunkte vor und während der Zeit des Nationalsozialismus durchkauten. Wir mussten beispielsweise Dienstgrade und Rangabzeichen der SS auswendig lernen und wurden später—wie wir es von der Schule gewohnt waren—abgeprüft.

Anzeige

Wenn ich jetzt, gut 10 Jahre später, die Notizen, die ich mir damals gemacht habe, wieder durchblättere, wird mir bewusst, dass uns weder didaktische noch psychologische Aspekte vermittelt wurden. Ich fand die Ausbildung grundsätzlich spannend, las viel zum Thema und auch in meiner Freizeit ließ mich das Ganze nicht mehr los. Mir wurde nach und nach klar, wie menschenfeindlich und durchorganisiert Mauthausen und andere Konzentrationslager in der NS-Zeit waren. Nach anfänglicher Euphorie war ich vom hässlichen Betonklotz daneben, in dem unser Schulungsraum war, richtig angewidert. Viel Zeit, alles einzuordnen, blieb aber nicht. Nach gut drei Wochen wurde es tatsächlich ernst und wir probten in einer Art Trockentraining Führungen, bei dem jeder von uns einen kleinen Abschnitt des Lagergeländes übernahm. Richtig sicher fühlte sich keiner von uns und alle hatten noch immer so ihre Bedenken, ob wir als 18-, 19- oder 20-Jährige nach einer kurzen Einschulung dieser Aufgabe gewachsen wären.

Wir waren Jugendliche und junge Männer, die gerade einmal drei oder vier Jahre älter waren als die Schüler und Schülerinnen, denen wir unsere Meinung überstülpen sollten. Die didaktische Herangehensweise—sofern man das so bezeichnen konnte—mussten wir uns selbst beibringen. In der Praxis bedeutete das, dass wir bei „altgedienten" Zivis, die schon länger (also maximal 8 Monate) an der Gedenkstätte Führungen machten, einfach bei einer Führung mitgingen und Elemente von ihnen übernahmen.

Anzeige

Dass es bei Führungen oft auch mehr um Imponiergehabe als um Inhalte ging, zeigte sich unter anderem daran, dass sich einer meiner Zivi-Kollegen nach einer Führung kurzerhand ein Date mit einer Schülerin ausmachte und am gleichen Abend beim Fortgehen in Linz mit ihr und danach mit noch einer aus ihrer Klasse rummachte—zumindest erzählte er das (durchaus glaubwürdig) am nächsten Tag.

„Unter uns Zivis galt es als besonders bewundernswert, wenn einer es schaffte, dass Schüler und Schülerinnen während einer Führung in Tränen ausbrachen."

Zwischen Mai und August kam es wegen der hohen Temperaturen und den langen Gehwegen innerhalb des Gedenkstätten-Geländes auch vor, dass Schüler oder Schülerinnen kollabierten und wegen der direkten und effekthascherischen Führungen nicht mehr in der Lage waren, weiterzugehen. Unter uns Zivis galt es als besonders bewundernswert, wenn einer es schaffte, dass Schüler und Schülerinnen während einer Führung in Tränen ausbrachen und völlig aufgelöst unsere Erzählungen über sich ergehen ließen. Zwar passierte das nicht allzu häufig, aber solche Vorfälle wurden als eine Art Zeichen von guter Arbeit gewertet und es wurde unter uns Zivis eher damit geprahlt, anstatt uns zu fragen, was wir dadurch anrichten. Wir arbeiteten damals völlig auf uns alleine gestellt, es gab keine Möglichkeit, kritisch und mit etwas Distanz unsere Arbeit zu reflektieren und der einzige inhaltliche Austausch erfolgte unter uns Zivis.

Anzeige

Wer damals die Gedenkstätte besuchte und an Führungen teilnahm, bekam eine Art Geisterbahnfahrt aufgetischt, bei der 18- bis 20-jährige Zivildiener in einer Schocktherapie Jugendliche gegen Rassismus und NS-Ideologie „impfen" sollten.

Abgesehen davon, dass ein solches Vorhaben grundsätzlich zum Scheitern verurteilt ist, ist es symptomatisch für das Bildungssystem und die Erinnerungspolitik Österreichs, dass diese wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe an junge und unerfahrene Zivis ausgelagert wurde.

Wie gering der Stellenwert der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in den Schulen war, zeigen die Antworten, die mir Lehrer gaben, als ich vor den Führungen fragte, wie viel Vorbereitungsarbeit vor dem Besuch in der Gedenkstätte schon investiert wurde. Im Idealfall wurde je eine Unterrichtseinheit in die Vor- und eine in die Nachbereitung eines Gedenkstättenbesuches investiert. Damit war das Thema Nationalsozialismus abgehakt. Häufig wurde mir auf die anfängliche Frage, was denn schon mit der Klasse rund um die Themen NS-Zeit oder Rassismus gemacht wurde, lapidar mit „Nichts, dazu sind wir ja hier und machen eine Führung" geantwortet. Es waren natürlich auch Lehrer und Schulklassen dabei, die überraschend gut vorbereitet waren und kluge Fragen stellten, der Regelfall sah aber anders aus. Mir war klar, dass dem Thema selbst im Geschichteunterricht immer noch ein unangenehmer Beigeschmack anhaftete. Anstatt sich der Geschichte zu stellen, wurde Mauthausen und die Aufarbeitung der NS-Zeit wie ein unangenehmer Arztbesuch behandelt. Für viele Lehrer und Lehrerinnen kam es da gelegen, dass ein Besuch in der Gedenkstätte quasi als All-in-One-Paket zur Verfügung stand und ihnen ein unliebsames Thema abnahm. Das ist bitter, denn dank genau dieser Logik kamen viele während der Schulzeit gar nicht mit Mauthausen und dem Thema in Berührung—oder wenn, nur in Form einer Schocktherapie.

Anzeige

Die Reaktionen schwankten bei meinen Führungen zwischen ehrlichem Unverständnis für die Handlungen der Täter—was mich im übrigens damals wie heute auch selbst beschäftigt und worauf es wohl keine einfachen Antworten gibt—bis zum Wunsch, endlich von hier zu verschwinden und sich am besten nie wieder mit der Sache zu beschäftigen. Bei den Führungen, die ich während meiner Zivi-Zeit gehalten habe, wollte ich immer ein möglichst umfangreiches Bild vermitteln und so viele historische Fakten und Anekdoten wie möglich in die 1,5- bis maximal 2-stündigen Rundgänge packen.

Heute weiß ich, dass weder die Zeit lang genug, noch der Ort der richtige ist, um ein umfassendes Bild über ein unglaublich komplexes und vielschichtiges Thema wie dieses zu vermitteln. Hinzu kam, dass wir vor allem in den Monaten, in denen besonders viele Schulklassen die Gedenkstätte besuchten—vorwiegend Mai und Juni—, einen straffen Zeitplan mit bis zu drei Führungen hintereinander hatten.

„Im Nachhinein sehe ich die übersteigerte Identifikation mit unserem Job als eine Art Abwehrmechanismus, der als Indiz für die Überforderung gewertet werden kann."

Ich und viele andere wussten unter solchen Bedingungen spätestens bei der dritten Führung nicht mehr, was sie schon gesagt hatten und was nicht—was an langen, anstrengenden Tagen mitunter zu Verwirrungen führte. Zumindest ich bemerkte nach einer Zeit, dass ich während der Führungen den Blick für das Wesentliche verlor und mich in Details verzettelte. Das lag sicher auch daran, dass ich unglaublich viel zum Thema las und mich über Monate hinweg jede freie Minute damit beschäftige—zum Leidwesen meines Freundeskreises, den ich mit Anekdoten und Details über das ehemalige Konzentrationslager überhäufte. Im Nachhinein sehe ich die übersteigerte Identifikation mit unserem Job als eine Art Abwehrmechanismus—und als Indiz für meine Überforderung.

Anzeige

Was mich auch heute noch beschäftigt, sind die teils absurden Tätigkeiten, die wir an der Gedenkstätte machen mussten. Etwa im Blaumann eine Kunstinstallation reinigen, die aus Steinen bestand, die aus dem Steinbruch stammten. Vorbeikommende Besucher fragten verwirrt, ob wir Künstler seien und es sich hier um eine Art Performance handle.

Noch absurder und komplett pietätlos war eine Tätigkeit, die ich gemeinsam mit zwei anderen Zivis ebenfalls im Rahmen der Instandhaltung erledigen musste: Unsere Aufgabe war es, hinter den ehemaligen Häfltingsbaracken einen Graben für neu zu verlegende Blitzableiter auszuheben. Wir Zivis wussten, dass sich an diesen Stellen zur Zeit des KZ Blumenbeete befanden, die mit den Überresten aus den Krematorien—also den Öfen, in denen tote Häftlinge verbrannt wurden—gedüngt wurden.

Obwohl wir ganz klar unsere Kritik äußerten, mussten wir uns an die Arbeit machen und unsere Bedenken wurden einfach abgewehrt. Nur wenige Zentimeter später stießen wir schon auf Asche und Knochenstücke. Wenn ich jetzt darüber schreibe, wird mir immer noch schlecht und ich kann es nach wie vor nicht fassen—weder, dass wir diese Aufgabe tatsächlich bekommen hatten, noch, dass wir überhaupt mit dem Graben anfingen. Vor allem ist es mir aus heutiger Sicht unverständlich, dass wir uns einzelne Stücke genau ansahen, auf der Fensterbank der Baracke auslegten und sogar Handy-Fotos davon machten. Wir kamen dadurch mit dem Graben so langsam voran, dass wir irgendwann von einem fix angestellten Mitarbeiter abgelöst wurden. Dieser grub ohne für uns erkennbare Bedenken den Rest auf. Was mit den mehr oder minder unabsichtlich exhumierten Knochenstücken passiert ist, haben wir bis heute nicht erfahren. Einer meiner Kollegen hat sogar explizit bei der Gedenkstätten-Leitung danach gefragt, wurde aber ignoriert.

Anzeige

Dazu passt auch eine Geschichte, die ich am Rande mitbekam: 2013 wurden im Friedhofsbereich der Gedenkstätte von Studenten mehrere Urnen beigesetzt. Wo genau, ist für Besucher aber nicht ersichtlich, da nach wie vor eine entsprechende Gedenktafel fehlt. Ein unsauberer Umgang mit den Toten zeichnet sich also nach wie vor ab.

„Dass es nicht ideal ist, junge, unerfahrene, ausschließlich männliche Menschen mit Führungen in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen zu betrauen, mussten irgendwann auch die Verantwortlichen im Innenministerium zur Kenntnis nehmen."

Rückblickend war mein Zivildienst eine Zeit, die sinnstiftend auf mich wirkte. Ich hatte nach meinem bislang weitgehend planlosen Dahinlebens endlich eine für mich persönlich unheimlich wichtige Tätigkeit gefunden. Um so mehr schmerzt es mich, wenn ich mir jetzt im Nachhinein erst langsam bewusst werde, dass wir Zivildiener als billige Arbeitskraft für eine enorm verantwortungsvolle Aufgabe missbraucht worden sind. Eine Aufgabe, die eigentlich von reiferen, besser ausgebildeten und didaktisch speziell darauf geschulten Personen erledigt hätte werden sollen.

Das mussten irgendwann auch die Verantwortlichen im Innenministerium zur Kenntnis nehmen: Nach äußerem Druck und langjährigen Forderungen von Experten wurde 2007 wurde mit der Konzipierung einer speziellen Ausbildung für Gedenkstättenvermittler und -vermittlerinnen begonnen und ein pädagogisches Konzept erarbeitet. Anstatt einer frontal ausgerichteten Schocktherapie sollten Jugendliche dazu angeregt werden, selbstständig über das Thema nachzudenken und von selbst Fragen zu stellen. 2009 wurde eine erste neu konzeptionierte Guide-Ausbildung gestartet. Aktuell werden jährlich rund 3.300 Gruppen beziehungsweise 70.000 Besucher von etwa 70 ausgebildeten Guides durch die Gedenkstätte geführt. Zivildiener werden mittlerweile nicht mehr für Führungen, sondern nur noch für Museums- oder Instandhaltungsdienste eingesetzt. Was auffällig ist: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen hat auch ganz aktuell ein vergleichsweise schlechtes Rating bei der Zivildienstserviceagentur.

Mir liegt nach wie vor am Herzen, dass die Gedenkstätte von möglichst vielen Menschen wahrgenommen und besucht wird—sowie in weiterer Folge zum nachdenken anregt. Der Ort sollte als Chance begriffen werden, aus der Geschichte zu lernen und sie nicht wie so oft zu wiederholen, sondern es besser und menschlicher anzugehen. Um dieses Vorhaben umzusetzen, investieren motivierte Männer und Frauen aller Altersgruppen sehr viel Herzblut. Trotz aller Kritikpunkte an der bisherigen und aktuellen Situation vor Ort ist das denke ich wichtig zu erwähnen.


Header-Foto: Robert Hunter | Flickr | CC BY 2.0