Zucker ist das Crack der Neuzeit
Foto: Dominik Pichler

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literatur

Zucker ist das Crack der Neuzeit

Michi Buchinger über heuchlerische Agaven-Hipster und furchtlose Food-Anarchisten, die wollen, dass dein einziges Stück Torte im Monat nach Brot schmeckt.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch Der Letzte macht den Mund zu von Michael Buchinger (Ullstein; 9,99€).


Gesunde Ernährung verwirrt mich. Natürlich weiß ich, dass es wichtig ist, auf seinen Körper und die Lebensmittel, die man ihm zuführt, zu achten. Aber sogenannte Superfoods und all ihre Fürsprecher sind mir ein Dorn im Auge. Es scheint mir, als würde es alle paar Monate einen neuen Foodtrend geben, der uns ein längeres, gesünderes Leben garantiert.

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Nehmen wir zum Beispiel Agavendicksaft. Vor mehreren Jahren erlebte dieses alternative Süßungsmittel seine absolute Blütezeit: Jeder von Gwyneth Paltrow bis hin zu meiner Großmutter fing an, Speisen und Getränke damit zu süßen. Es ist, nebenbei bemerkt, spannend, wie sehr Dinge wie Homosexualität und Ausländer Rentner verwirren können, sie aber ohne einen Moment der Überlegung auf exotischen Mambo-Jambo wie Agavendicksaft einsteigen, weil er im Frühstücksfernsehen empfohlen wurde. Aber nicht mit mir!


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Jeder kann sich ernähren, wie er möchte (ganz nach meinem Lebensmotto "Cool für dich, nichts für mich!"), aber was mir wirklich auf die Nerven geht, sind Menschen, die andere verurteilen. Nicht selten passierte es, dass Bekannte mich darauf hinwiesen, wie uncool es doch von mir sei, meine Torten nach wie vor mit Industriezucker zu süßen, wo uns doch mit Agavendicksaft so eine tolle Alternative geboten werde. Dabei sahen sie mich wütend an, als würden sie jeden Moment eine Petition mit dem Titel "Wir fordern, dass Michi anfängt, Agavendicksaft zu verwenden!" aus ihrem Jutebeutel hervorziehen.

Allein das Wort stößt mich schon ab. "Agavendicksaft", wie ekelhaft klingt das denn? Und was ist überhaupt eine Agave und warum sollte ich mir für teures Geld ihren abartig dickflüssigen Saft kaufen, der um einiges schlechter süßt als Zucker und noch dazu die Konsistenz meines gesamten Backprojekts ändert, so dass ich meinen Schokokuchen am Ende nicht mehr von einer schleimigen Schlammkugel unterscheiden kann? Außerdem legte eine Studie kurz nach dem riesigen Hype nahe, dass Agavendicksaft nicht nur nicht so gesund ist, wie alle (außer mir) dachten, sondern sogar noch giftiger als herkömmlicher Zucker!

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Ich liebe es, dass es in der Welt der gesunden Ernährung immer nur zwei Extreme gibt: Entweder ist ein Lebensmittel "Eine gesunde Alternative!" oder "Absolut krebserregend und giftiger als alles, was wir je zuvor gesehen haben!".

Auf dem Höhepunkt der Agaven-Hysterie hätte ich also durchaus die Chance nutzen können, um mich wie ein teuflischer Bösewicht langsam in meinem Drehstuhl all den Menschen, die mich je von Agavendicksaft überzeugen wollten, zuzuwenden und schadenfroh zu sagen: "Nun, nun, nun. Sieh mal einer an, wer da zurückgekrochen kommt!" Aber das ist natürlich nicht mein Stil.

Ich ernähre mich durchaus bewusst, aber meine Einstellung zu ungesunden Lebensmitteln ist relativ entspannt. Weil ich weiß, dass sie in der Ernährungspyramide vielleicht nicht ganz unten steht, esse ich zum Beispiel nur einmal im Monat Torte. Umso mehr regt es mich also auf, wenn Menschen versuchen, mir dann eine "gesunde" Torte unterzujubeln, für die sie nur ein Drittel der empfohlenen Zuckermenge verwendet haben, weil sie furchtlose Food-Anarchisten sind, die unbedingt wollen, dass mein einziges Stück Torte im Monat wie altes Brot schmeckt. Nicht mit mir!

Meine größte Verachtung gilt übrigens den heuchlerischen Food-Hipstern, die man vermehrt in Großstädten antrifft. Diese besondere Gattung Mensch fühlt sich nicht selten bemüßigt, mit mir ein "ernsthaftes Gespräch" zu führen, weil ich ihnen allen Ernstes einen Tomatensalat angeboten habe, bei dem ich die grünen Stücke – die ihrer Meinung nach TÖDLICH sind – nicht entfernt habe. Das würde mich gar nicht so sehr aufregen, wenn diese Leute solche Aussagen nicht treffen würden, kurz nachdem sie sich ihre zwanzigste Zigarette des Tages gegönnt haben. Vielleicht erst mit dem Rauchen aufhören, bevor du über meinen Tomatensalat urteilst, Leon!?

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Kürzlich war ich auf einer Geburtstagsparty bei neuen, sehr ernährungsbewussten Freunden eingeladen, die ich über meine Kommilitonin Isabelle kennengelernt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob sie die "Ist Michael ein cooler Typ oder ein Verrückter?"-Entscheidung bereits gefällt hatten, und wollte sie daher um jeden Preis von mir überzeugen.

Drei, vier Freunde, so wurde mir schließlich gesagt, verzichteten auf Zucker – "das Crack der Neuzeit", wie Isabelle es am Telefon beiläufig betitelte.

So beschloss ich, etwas Selbstgebackenes mitzubringen, was sich leider als schwieriger herausstellen sollte als gedacht. Denn die Hälfte der Anwesenden, so wurde mir vorweg von Isabelle verraten, ernährte sich vegan. Wieder andere Gäste lebten glutenfrei. Drei, vier Freunde, so wurde mir schließlich gesagt, verzichteten auf Zucker – "das Crack der Neuzeit", wie Isabelle es am Telefon beiläufig betitelte. Mein Kopf fing zu rauchen an, als ich überlegte, woraus mein Kuchen denn dann noch bestehen konnte. Sollte ich vielleicht doch lieber einfach Fallobst auf den Tisch knallen, ein paar Kerzen reinstecken und allen einen schönen Abend wünschen? Nein. Ich würde einen Weg finden, all meine neuen Freunde auf einen Schlag mit einer bombastischen Süßspeise glücklich zu machen – und wenn es das Letzte war, was ich tat.

"Halloooo! Ich habe Brownies mitgebracht!", verkündete ich also ein bisschen zu laut, als ich die Party Location betrat und senkte dann meinen Blick. "Vegan, glutenfrei und rein natürlich gesüßt!", setzte ich nach einer dramatischen Pause halb flüsternd oben drauf, so als wäre es ein Geheimnis. Schon hatten sich die Leute im Halbkreis vor mir versammelt, um von meinem Mitbringsel zu kosten. Entweder das, oder sie warteten darauf, dass ich eine Stepptanznummer hinlegte.

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Isabelle war besonders angetan von meiner Kreation und fragte, wo ich denn dieses Rezept herhätte. Da wenige Monate zuvor noch Schokobrownies mit Speckwürfeln mein Gastgeschenk auf einer Feier waren (ich hatte sie gebeten, das in diesem Freundeskreis nicht mal mit vorgehaltener Waffe zu erwähnen), ahnte sie wohl, dass ich es mir nicht selbst ausgedacht haben konnte.

Michi Buchingers neues epochales Buch | Cover: ullstein

"Hat mir Gwyneth empfohlen!", antwortete ich lächelnd, so als wäre ich besonders stolz auf diese Tatsache. "Gwyneth?", fragte die Gastgeberin Renate, die hellhörig geworden war, und legte ihre Stirn in Falten. Meine Fassade bröckelte allmählich, und mir dämmerte, wie dumm diese Aussage geklungen haben musste. Wenn ich nonchalant von einer "Empfehlung von Gwyneth" spreche, klingt das ein bisschen so, als würde ich von meiner schrulligen alten Nachbarin erzählen, die in regelmäßigen Abständen Rezepte für glutenfreie Backwaren unter meiner Tür durchschiebt. Natürlich ist die Oscar-Preisträgerin Gwyneth Paltrow gemeint, die nicht nur mir, sondern 700.000 anderen Lesern ihres Lifestyle-Newsletters G O O P dieses Brownie-Rezept aus einem ihrer Kochbücher empfohlen hat.

Ich konnte direkt fühlen, wie die Umstehenden heimlich ihre "Michael – cool oder verrückt?"-Liste zückten und einen Strich bei "verrückt" machten. Welcher normale Mensch liest schon den Lifestyle-Newsletter einer elitären Oscar-Preisträgerin? Ein Mensch, der will, dass Bekannte mit ausgefallenen Ernährungsgewohnheiten ihn mögen natürlich!

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Doch eines muss man Gwyneth lassen: Sie weiß, wovon sie spricht. Meine Brownies schienen rundum gut anzukommen. Die Gäste schmatzten, sagten Dinge wie "Hmm" und "Lecker", und ich konnte förmlich spüren, dass ich auf dem besten Weg war, meine neuen Freunde endgültig von mir zu überzeugen.

Isabelle wusste, wie bemüht ich war, einen guten Eindruck zu hinterlassen, und holte zu einer Frage aus, bei der sie wusste, dass ich mit einer guten Antwort dienen konnte. "Michael, so gute Brownies!", sagte sie. "Welche Zutaten hast du verwendet?"

Isabelle sei Dank! Angeregt zählte ich Dinge auf, die ich vor GOOP gar nicht gekannt hatte: "Ahornsirup, glutenfreies Mehl, Datteln, feinstes Kakaopulver und – da bin ich vom Rezept abgewichen – HONIG!"

Alle Anwesenden rissen ihre Augen weit auf. Ohne Zweifel, weil sie nicht fassen konnten, wie genial ich war. "Ihr habt schon richtig gehört: HONIG!", wiederholte ich viel zu laut, als hätte ich mit meiner Kreativität den Vogel abgeschossen. "Ich habe den Teig gekostet und befunden, dass er für Brownies noch immer nicht süß genug war. Also habe ich improvisiert und als natürliches Süßungsmittel noch ein bisschen Honig dazugegeben. Lecker, oder? Nehmt euch ruhig noch einen!" Fassungslos starrten mich alle an. Ich strich mir über den Mundwinkel, um zu checken, ob eventuell ein krosser Speckstreifen daraus hervorhing. Endlich meldete sich Renate zu Wort: "Michael, es ist wirklich halb so wild", keuchte sie, "aber Honig ist nicht vegan. Das ist ein tierisches Produkt."

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Ja, ich hatte gerade eine Gruppe Veganer dazu gezwungen, ein tierisches Produkt zu essen und fühlte mich sehr schlimm deswegen.

Oh. Ja, stimmt irgendwie, Honig kommt ja von Bienen. Eine Tatsache, die ich in meiner Mission, einen guten Eindruck zu hinterlassen, völlig verdrängt hatte. Für einen kurzen Moment zog ich in Erwägung, noch schnell die Kurve zu kratzen. "Haha, erwischt!", hätte ich schreien können, während ich mir auf den Oberschenkel klatschte. "Natürlich habe ich keinen Honig in den Teig gegeben. Ihr hättet eure Gesichter sehen sollen."

Stattdessen beschloss ich, zu meinem Fehler zu stehen. Ja, ich hatte gerade eine Gruppe Veganer dazu gezwungen, ein tierisches Produkt zu essen und fühlte mich sehr schlimm deswegen. Ich hatte nicht nur mich selbst und meine Freunde enttäuscht, sondern zudem Gwyneth Paltrow verraten. Der Halbkreis, der sich um mich gebildet hatte, löste sich auf. Renate legte mir ihre Hand auf die Schulter. "Michael", besänftigte sie mich, "ich weiß, du hast es gut gemeint."

Ich hatte einfach nicht weit genug gedacht. Nach der Michi-Logik (der wirrsten aller Logiken) ist Honig vegan, da die Bienen nicht sterben und außerdem ja zu der Sorte von Tieren gehören, die wir ohnehin alle hassen. Weil diese Aussage jedoch von mir kommt – einem Vegetarier, der gerne mal Fleisch isst, solange er die Person kennt, die das Tier getötet hat –, würde ich ihr nicht zu viel Gültigkeit zubilligen.

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Wie ihr an dieser Anekdote vielleicht erkannt habt, gilt mein Groll nicht Menschen mit Ernährungsunverträglichkeiten, sondern Leuten, die scheinbar unermessliche Freude daran haben, ein kleines bisschen schwierig zu sein. Vielleicht versuchen sie, ihrer Essstörung dieses gewisse Etwas zu geben, indem sie sich als "Freegan" bezeichnen. Oder aber, sie sind in einer großen Familie als eines von sechs Kindern aufgewachsen und wollen sich einzigartig wie eine Schneeflocke fühlen, indem sie den Starbucks-Barista bitten, ihren Venti Chai Latte mit lauwarmer Mandelmilch zuzubereiten und mit neuseeländischem Manuka-Honig zu süßen. Am meisten aber ärgert es mich, wenn meine Mitmenschen mir den Eindruck vermitteln, ich würde Rattengift in meine Backwaren mischen.

Einige Monate nach meinem Brownie-Desaster fand ich mich in einem Club wieder. Dort traf ich auf einen der damaligen Partygäste, der auf meine Brownies derart angeekelt reagiert hatte, als hätte ich versucht, ihm Plazenta unterzujubeln. Als sich unsere Blicke trafen, veränderte sich seine Miene blitzartig. Er musterte mich mit der Sorte Blick, die man normalerweise an den Tag legt, wenn man sich an eine besonders üble Darmgrippe erinnert.

"Michael, der Brownie-Mann!", sagte er schließlich heiter über die laute Musik des Clubs hinweg. Obwohl ich nicht mehr auf Renates weitere Partys eingeladen worden war, freute es mich zu hören, dass ich offenbar einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. "Ich habe Acid dabei, wenn du magst?", sagte er aus heiterem Himmel, als hätte er mir gerade eine Tasse Tee angeboten.

Hier haben wir, in aller Kürze zusammengefasst, genau das, was mich an solchen Menschen ärgert und was ich nie verstehen werde: Wie kann man andere dafür verurteilen, dass sie keinen "gesunden Lifestyle" führen, und nebenbei chemische Drogen nehmen? Wie kann man sich dermaßen über ein klein bisschen Honig in Brownies aufregen und es zugleich für vollkommen OK halten, einem nahezu Fremden nonchalant einen halluzinogenen Trip anzubieten?

Höflich lehnte ich sein Drogenangebot ab und tat so, als würde mich jemand vom anderen Ende des Clubs rufen. Ich habe es bis heute nicht kapiert: Zucker mag das Crack der Neuzeit sein, aber Acid bleibt immer noch Acid! Was ist los mit euch?

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