Eine Illustration zum Thema Therapie
Illustration: Ella Strickland de Souza

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Gesundheit

Wann ist es sinnvoll, deine Psychotherapie zu beenden?

Am Ende meiner Behandlung wollte ich ein fähiger und optimistischer Mensch sein. Stattdessen überkam mich ein Gefühl der Enttäuschung.
Emma Garland
London, GB

Zwei Jahre. Diesen Zeitraum setzte ich mir als Ziel, als ich mit meiner Psychotherapie anfing. Eine willkürliche Zahl, die nur einen Zweck hatte: Die Therapie sollte kein beständiger Teil meines Lebens werden, sondern ein Prozess, der irgendwann zu Ende ist. Niemand ist schließlich ewig in Therapie. Zwei Jahre kamen mir wie ein guter Zeitrahmen vor, um die ganze Last loszuwerden, die ich bis dahin angesammelt hatte, ohne mir gleichzeitig neue Sorgen aufzuladen. Als die Zwei-Jahres-Grenze schließlich näher rückte, erklärte ich meinem Therapeuten, dass ich bereit für eine Pause sei. Damit begann der sechswöchige Ausstieg.

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In den folgenden vier Wochen war ich sehr zufrieden mit mir. Ich hatte es geschafft und meine Therapie abgeschlossen. Ich staunte, weil ich es jetzt endlich schaffte, mir Grenzen zu setzen. Und ich verplante bereits das viele Geld, das ich jetzt nicht mehr dafür ausgab, über meine Jugendängste reden zu können. Dann folgte Woche fünf.

Eigentlich fühlte ich mich ganz OK, als ich den kleinen, unscheinbaren Behandlungsraum betrat – so wie ich es fast jeden Dienstag in den vergangenen 24 Monaten getan hatte. Dann setzte ich mich, brach in Tränen aus, heulte 50 Minuten lang Rotz und Wasser. Jede Frage meines Therapeuten verschlimmerte die Situation nur noch weiter, weil ich keine Antworten fand. Jeder Satz, den ich formulieren wollte, zerbrach in hunderte Gedanken, die selbst noch mal in hunderte Gedanken zersplitterten. Jedes Wort, das aus meinem Mund kommen sollte, blieb im Hals stecken.

Ich neige dazu, alles in Geschichten mit bedeutungsschwangeren Bildern zu verwandeln. Deswegen war ich in meinem Kopf am Ende eines langen Wegs angekommen. Ich wollte herausfinden, wie gut ich mit meinem Leben zurechtkommen würde, ohne regelmäßig über mich selbst nachzudenken und zu reden. Würde sich das natürlich anfühlen? Oder würde ich in alte Muster zurückfallen und alle meine Sorgen und Ängste wieder so lange ignorieren, bis ich im Bus eine Panikattacke bekomme und beim Aussteigen direkt in den Gegenverkehr laufe? Ich habe mir das Ende meiner Therapie immer so vorgestellt, als würde ich einem malerischen Sonnenuntergang entgegenlaufen. Meine Probleme müssten nicht mal alle gelöst sein. Ich wollte nur ein Kapitel meines Lebens mit dem Gefühl abschließen, etwas dazugelernt zu haben und optimistisch zu sein. Tatsächlich fühlte es sich an, als würde ich aufgeben.

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Deshalb befinde ich mich immer noch in Therapie.


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In Deutschland wurde bei rund jedem viertem jungen Menschen zwischen 18 und 25 eine psychische Störung diagnostiziert – im Vergleich zu 2005 ein Anstieg von 38 Prozent. Zum Glück steigt gleichzeitig auch die Nachfrage nach psychotherapeutischen Behandlungen. Das Stigma, das solchen Erkrankungen anhaftet, verschwindet immer mehr. Trotzdem ist es noch ein weiter Weg. In Deutschland fehlen immer noch viele Praxen, um den Bedarf zu decken – vor allem außerhalb der Großstädte. Die Folge: Viele psychisch kranke Menschen haben es unglaublich schwer, einen Therapieplatz zu finden.

Wenn man Therapeuten nur mit einem einfachen "Ich will mich bitte weniger schrecklich fühlen" konfrontiert, woher will man dann wissen, wann und ob man etwas erreicht hat?

Es gibt die unterschiedlichsten Gründe für eine Therapie. Manchmal sind sie klar definiert: Trauer, Stress bei der Arbeit, Essstörungen, sexuelle Probleme oder bestimmte Traumata. Manchmal entscheiden sich Betroffene aber auch für eine Therapie, wenn sie allgemein mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkommen und mehr Hilfe brauchen, als Freunde und Familie ihnen bieten können. Genauso ist der Heilungs- und Veränderungsprozess immer unterschiedlich: Während manche schon nach zwei Monaten Verbesserungen merken, fühlen sich anderen nach mehreren Jahren sogar noch schlechter. Je mehr man sich im Klaren darüber ist, warum man mit der Therapie anfängt, desto genauer ausgearbeitet sind auch die Ziele. Das bedeutet aber nicht, dass diese Ziele einfacher zu erreichen sind. Wenn man Therapeuten nur mit einem einfachen "Ich will mich bitte weniger schrecklich fühlen" konfrontiert, woher will man dann wissen, wann und ob man etwas erreicht hat?

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Wie viele andere junge Erwachsene steckte ich so in einem Teufelskreis der Bewältigungsmechanismen fest: Ich ritzte mich, litt an Anorexie, nahm Drogen, hatte übermäßig viel Sex und so weiter. Und als ich kein anderes Ventil mehr hatte, fing ich mit meiner Therapie an.

Genau das trifft auf mich zu. Eine offizielle Diagnose gibt es bei mir nicht. Einmal wollte ich eine medizinische Fachmeinung einholen, aber meine Symptome (Depressionen, Wahnvorstellungen, Suizidgedanken und Selbstverletzungen) schienen nicht besorgniserregend genug zu sein. Und Antidepressiva vertrage ich nicht. Wie viele andere junge Erwachsene steckte ich so in einem Teufelskreis der Bewältigungsmechanismen fest: Ich ritzte mich, litt an Anorexie, nahm Drogen, hatte übermäßig viel Sex und so weiter. Wenn ich von einer Sache die Schnauze voll hatte, ging ich einfach zur nächsten über. Und als ich kein anderes Ventil mehr hatte, fing ich mit meiner Therapie an.

An sich ist der Ablauf einer Therapie verdammt komisch. Du betrittst einen Raum, der bewusst so unscheinbar wie möglich gehalten ist. Dir gegenüber sitzt ein komplett fremder Mensch, dem du dann unglaublich intime Fragen stellst: Warum lügt mich jeder ständig an? Ist es normal, dass ich meine Traurigkeit auf weggeworfene Kleidungsstücke projiziere? Haut nicht jeder manchmal den Kopf so lange gegen die Schlafzimmerwand, bis man bewusstlos wird und sich so für kurze Zeit weniger beschissen fühlt?

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Mit der Zeit sprichst du mit niemandem mehr so viel wie mit den Therapeuten. Sie wissen wahrscheinlich mehr über dich als deine Beziehungspartner, deine besten Freunde und deine Eltern. Du wirst versuchen, das geordnete und erfüllende Leben der Therapeuten anhand kleiner Hinweise – zum Beispiel ihre Schuhe oder die kulturellen Anspielungen während der Gespräche – zu rekonstruieren. Du wirst sie zum Lachen bringen wollen. Und sie werden dich genau darauf ansprechen, damit du dein Leben nicht weiter amüsanter erscheinen lässt, als es eigentlich ist. Wenn du dann endlich einen Witz gerissen hast, über den sie auch lachen, wird sich das wie ein großer Erfolg anfühlen.

Wenn alles klappt, reißt die Therapie dich zuerst ein und baut dich danach komplett neu auf. Vielleicht erwartest du anfangs, dass dir ein engelsgleicher Mensch geduldig zuhört, dich tröstet und dein Leben wieder auf die Reihe bringt. Dann lernst du jedoch als allererstes, dass genau das nicht der Fall ist. Eine Therapie richtet sich immer nach den Patienten, wie viel sie mit einbringen und wie viel sie von Seiten der Therapeuten annehmen wollen. Die Therapeuten können zuhören und Anmerkungen machen. Bestimmen können sie aber nicht. Das ist langfristig gesehen sinnvoll, kann aber auch verwirren. Wenn dein Therapeut oder deine Therapeutin nicht zu dir passt oder wenn die Behandlung selbst keine Wirkung zeigt, schreibst du dir die ausbleibenden Fortschritte schnell selbst zu. Rückfälle empfindest du dann als noch größere Enttäuschungen. Und auch für das Ende der Therapie bist in deinem Kopf dann du verantwortlich.

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Grundlegend gesprochen geht es bei einer Therapie darum, vor einem Menschen, der dich sehr gut kennt, alles rauslassen zu können.

Wenn du wie ich zu extremen Stimmungsschwankungen tendierst, dann ist es oft schwierig festzustellen, was genau mit dir los ist. Vielleicht ist eine positive Phase für dich dann ein Zeichen von Fortschritt – und nicht nur ein Teil des normalen Hin und Hers. Dann hast du das Gefühl, dass jetzt alles besser wird, nur um durch einen schlechten Tag bei der Arbeit direkt wieder sechs Monate zurückgeworfen zu werden. Hochs und Tiefs wird es immer geben, egal wie viel professionelle Hilfe du bekommst. Aber wie weiß man da, ob man die Therapie immer noch braucht, oder ob man nur zu viel Angst hat, das Ganze zu beenden?

Ich bin bei solchen Fragen natürlich keine große Hilfe. Ich habe ja erst vor Kurzem damit aufgehört, mit meiner Therapie aufzuhören. Grundlegend gesprochen geht es bei einer Therapie darum, vor einem Menschen, der dich sehr gut kennt, alles rauslassen zu können. Du fühlst dich besser, wenn du jede Woche dein Herz ausschütten kannst? Dann mach damit weiter. Du bist total angespannt, wenn dein Therapeut oder deine Therapeutin im Urlaub ist? Dann hast du es wahrscheinlich übertrieben. Die Therapie gibt dir nichts? Dann denke über eine Pause nach, um das Ganze zu überdenken. Dieser grobe theoretische Rahmen lässt sich natürlich einfach so festlegen. Wenn du dich wirklich mit der Problematik auseinandersetzen musst, ist es nie so simpel.

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Letztendlich war mein Grund, die Therapie überhaupt zu beenden, meine komische Besessenheit von den zwei Jahren (ob das etwas damit zu tun hat, dass alle meine Beziehungen nach zwei Jahren vorbei waren?). Rückblickend erlebte ich zu diesem Zeitpunkt ein Hoch und redete mir aufgrund einiger guter Projekte auf der Arbeit und neugefundener Liebe ein, dass es für mich nicht besser werden könnte. Wenn ich nicht mal unter solchen Umständen glücklich sein kann, dann bin ich ein hoffnungsloser Fall. Und dann kam er plötzlich, der Gedanke, der mich wieder unsicher werden ließ: Ein angemessenes Gehalt und eine gesunde Beziehung sind Dinge, die ich vom Leben auch so erwarten kann. Hatte ich mein Selbstwertgefühl etwa zu niedrig angesetzt?

Eine wichtige Sache hat mir die Therapie gezeigt: Man kann sich auch ganz selbstverständlich mit Leid auseinandersetzen.

Meine Entscheidung, die Therapie fortzusetzen, musste natürlich analysiert werden – so wie alles analysiert werden muss. Auf die Frage, wie ich mich wegen meines Sinneswandels fühle, antwortete ich: "Enttäuscht." Wie immer hatte eines meiner gesteckten Ziele absolut keinen Wert und verursachte bei mir nur unnötiges Leid. Dieses Leid spielte ich aus Angst davor, zurechtgewiesen zu werden, natürlich herunter. Die idealisierte Version von mir wollte die Therapie beenden, mein tatsächliches Ich nicht. Diese beiden Versionen vor einem anderen Menschen unter einen Hut bringen zu müssen, ließ in mir Übelkeit aufsteigen. Aber auch hier gilt: Was dir unglaublich schwer fällt, ist für andere vielleicht nur eine Kleinigkeit.

Eine wichtige Sache hat mir die Therapie aber gezeigt: Man kann sich auch ganz selbstverständlich mit Leid auseinandersetzen. Ich bete die schlimmsten Dinge, die mir in meinem Leben passiert sind, herunter. Und mir gegenüber sitzt ein Profi und ist so gefasst, wie es in einer persönlichen Beziehung niemals möglich wäre. Ich habe mich sechs Wochen lang bis zur absoluten Erschöpfung mit einer Entscheidung beschäftigt, die ich eigentlich schon längst getroffen hatte. Und mein Therapeut sagte einfach nur: "Alles klar, bis nächste Woche."

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