Ein Mann blickt auf die Facebook-Seite seines verstorbenen Freundes
Illustration: Laura Binder

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Digitales Gedenken

Warum Stefans toter bester Freund auf Facebook weiterleben soll

Stefan stieg ins Auto, Mark aufs Motorrad. Wenig später war Mark tot. Um zu trauern, besucht sein bester Freund immer wieder seine Facebook-Seite.

Stefan sitzt in seinem dunklen Schlafzimmer vor dem Laptop. Er füllt ein Schnapsglas, stößt damit gegen den Bildschirm und sagt: "Auf dich, mein Freund." Dann kippt er den Schnaps herunter. Seine roten Augen glänzen im blauen Licht des Computers. Der Mann, der Stefan von seinem Bildschirm entgegen lacht, ist sein bester Freund Mark. Er ist seit genau vier Jahren tot.

Stefan lehnt sich in seinem Gaming-Stuhl zurück und reibt sich die Augen. Die einzige Lampe im Raum ist aus, stattdessen brennt neben seinem Laptop eine Kerze. Tagsüber trägt Stefan, 28, Unternehmensberater, Hemd und Anzughose. Jetzt liegen sie zerkrumpelt auf dem Fußboden. Er hat sie, wie immer, gegen Hoodie und Jogginghose eingetauscht. Stefan heißt eigentlich nicht Stefan. Um Marks Familie zu schützen, trägt er genau wie alle anderen Personen in dieser Geschichte einen anderen Namen.

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Stefan ist ein ruhiger Typ, introvertiert und genauso rational, wie seine Hamburger Zweizimmerwohnung eingerichtet ist. Deko gibt es nicht, stattdessen stapeln sich Kartons vom Lieferservice neben leeren Bierflaschen. An der Wand lehnt eine leicht verstaubte rote E-Gitarre, auf der Stefan sich selbst das Spielen beigebracht hat. Nicht um Mädchen zu beeindrucken, sondern weil Jimi Hendrix der Held seiner Kindheit war.

"Trink einen mit uns und du bist drin"

Stefan und Mark haben sich im Proberaum des Jugendzentrums ihres Dorfes kennengelernt, aber Stefan hatte ihn schon in der Schule beobachtet. "Mark war der coolste Typ, den ich je gesehen hatte. Und spielte Schlagzeug wie ein Gott", sagt Stefan. Mark hatte eine Freundin, ein Motorrad und eine Band. Stefan besaß keines dieser Dinge. Ein Mathe-Nerd mit einer E-Gitarre, sei er gewesen, schüchtern und introvertiert. Als Stefan die ersten Takte spielte, sei Mark aufgestanden und gegangen. Irritiert habe er für die beiden anderen aus der Band, Tim und Carsten, weitergespielt. Dann kam Mark wieder rein, in der Hand vier Schnapsgläser: "Trink einen mit uns und du bist drin."


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Stefan öffnet Facebook und scrollt durch die Timeline seines toten Freundes. "In Gedenken an Mark F." steht ganz oben, daneben ein Bild eines 24-Jährigen mit dunklem Haar und strahlenden Augen. Auf dem Titelbild sieht man ein glänzendes schwarz-gelbes Motorrad auf einem Feldweg stehen. Mit dem Teil war Mark seit seinem 18. Geburtstag verwachsen, schraubte mit seinem Dad daran herum und ließ außer Stefan oder seiner Freundin niemanden mitfahren. Stefan betrachtet das Foto lange, dann sagt er: "Ich wünschte, ich könnte dieses Bild ändern." Das Motorrad bereitet ihm heute noch Gänsehaut, denn es hat alles verändert.

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Zu Tim, dem Sänger der Band, und Carsten, dem Bassisten, wurde Stefans Verbindung nie so eng wie zu Mark. Als Mark von seiner Freundin betrogen wurde, hat Stefan ihn spontan ins Auto gepackt und sie sind nach Amsterdam gefahren. "Im Marihuana-Rausch kann man alles leichter verarbeiten", sagt er. Als Stefan von seiner Uni exmatrikuliert wurde, weil er mehrmals durch Prüfungen rasselte, besorgte Mark ihm über Kontakte einen Ausbildungsplatz und borgte ihm Geld für einen Umzug. "Wir waren einfach immer füreinander da und haben uns gegenseitig geholfen, wenn einer am Boden lag", sagt Stefan. Nach dem Abi hatten sich die Bandmitglieder auf unterschiedliche Städte verteilt. Trotzdem haben sie es geschafft, jedes Wochenende zu proben und Auftritte zu spielen. "Wir haben oft in kleinen Clubs ein bisschen Punkrock aufleben lassen", erzählt Stefan, "davor haben wir uns ganze Wochenenden im Proberaum eingeschlossen, gespielt, geraucht, getrunken. Und dann ist jeder wieder in seine Stadt zurück und hat studiert."

Doch dann kam dieser Tag im Frühling.

Die Band hatte abends eine letzte Probe vor einem Gig und alle wollten danach mit dem Auto des Sängers in die nächste Stadt fahren – saufen. "Mark fand, wir sollten lieber heimfahren und uns ausschlafen. Wir waren den Abend davor schon so blau gewesen und hatten uns bei der Probe mehrfach verspielt", erinnert sich Stefan. "Die Stimmung war eh ein bisschen im Arsch." Sie haben sich verabschiedet. Es regnete, deshalb fuhr Stefan im Auto von Tim mit. Mark stieg auf sein Motorrad.

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Der Moment, in dem die Welt für Stefan stillstand

Stefan erinnert sich noch genau an den Anruf in dieser Nacht. Er wollte erst nicht rangehen, weil er die Nummer nicht kannte. Dann habe er doch abgehoben. "Ich habe nur eine Frau weinen und schwer atmen hören, ich dachte es wäre ein Klingelstreich." Dann erkannte er die Stimme von Marks Mutter. Mark habe einen schlimmen Unfall gehabt, er sei von der nassen Fahrbahn abgekommen, sagte sie. Er starb noch am Unfallort. In dem Moment habe für Stefan die Welt stillgestanden. Er fühlte sich wie gelähmt. Marks Mutter bat ihn, dem Rest der Band und engen Freunden Bescheid zu sagen. Er beruhigte die Mutter, dann rief er nach und nach Marks Freunde an. Mit jedem Telefonat realisierte er mehr, was passiert war. "Als ich beim letzten Freund auflegte, schmiss ich das Telefon an die Wand und schrie so laut ich konnte", sagt Stefan, "Das war mein erster und bisher einziger emotionaler Ausbruch."

Danach ging alles ziemlich schnell. Stefan verbrachte viel Zeit mit Marks Freundin und seiner Mutter, sie redeten, organisierten die Beerdigung. Beim Begräbnis waren so viele Leute anwesend, dass die Dorfpolizei den Verkehr regeln musste. Danach haben sie alle noch lange zusammen gesessen und bis in die Nacht über Mark geredet. "Ich kam erst früh morgens nach Hause und mir wurde klar: Das war es jetzt", sagt Stefan.

Weil er nicht schlafen konnte, setzte er sich an den PC. Da fiel ihm Marks Facebookprofil wieder ein. Die meisten schrieben einfach "Rest in Peace" auf seine Pinnwand, einige posteten Fotos. Aber Stefan entdeckte auch etwas, dass ihn sehr wütend machte. Marks Ex-Freundin, die ihn damals betrogen und kaputt gemacht hatte, schrieb öffentlich einen langen Text, wie sehr sie bereue, ihn verloren zu haben. "Das fand ich so heuchlerisch", sagt Stefan. Er habe sie aufgefordert, den Beitrag zu löschen. Sie weigerte sich.

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Facebook bietet jedem an, seinen digitalen Nachlass noch zu Lebzeiten zu regeln. Man kann einen Nachlasskontakt benennen, der das eigene Profil nach dem Tod verwaltet. Entweder lässt man seinen Account löschen oder er wird in eine Gedenkseite gewandelt, das heißt: Niemand bekommt Benachrichtigungen, aber man kann die Seite einsehen oder auf die Pinnwand schreiben. Konten die automatisch in den Gedenkzustand gesetzt werden, weil beispielsweise eine Sterbeurkunde eingereicht wurde, können nicht mehr geändert werden.

"Ich wollte eigentlich nicht, dass Mark digital weiterlebt. Ich wollte nicht, dass Leute auf seine Pinnwand schreiben können, die gar nichts mit ihm zu tun hatten", sagt Stefan. Aber er klickte trotzdem alle paar Wochen auf das Profil.

Zwei Monate später bekam Stefan von Facebook eine Benachrichtigung: Es war Marks Geburtstag. Es traf ihn wie ein Schlag, er weinte stundenlang. "Niemand von uns wusste, was mit seinem Profil passiert. Wir kannten ja sein Passwort nicht." Er kontaktierte Marks Eltern, sie probierten diverse Passwörter durch, durchsuchten Marks Computer, aber sie fanden nichts. Dann stellten sie bei Facebook einen Antrag und schickten eine Kopie von Marks Sterbeurkunde ein. Kurz darauf wurde Marks Profil in eine Gedenkseite umgewandelt.

"Wie ein digitales Grab, dass ich immer besuchen kann"

Irgendwann fing Stefan an, mit der Seite zu reden. Er erzählte Marks Profil, dass sich die Band aufgelöst hatte, dass er seine Ausbildung ätzend findet und dass er ihn jeden Tag vermisst. "Leute an Gräbern reden auch mit den Verstorbenen", sagt Stefan. Er wohnt 300 Kilometer vom Grab entfernt. "Marks Gedenkseite ist wie ein digitales Grab, das ich immer besuchen kann, – egal wo ich bin."

Viele sehen das nicht so wie Stefan. Marks damalige Freundin entfernte alle gemeinsamen Fotos, beendete die digitale Freundschaft mit ihm, und löschte auch sonst alles, was an die Beziehung erinnern könnte.

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Aber Stefan und die Band nutzen die Seite nach Marks Tod als Ort des Gedenkens: Zu Marks Geburts- und Todestag oder an Meilensteinen der Bandgeschichte, trafen sich die Jungs und riefen Marks Facebookseite auf. Sie tranken, scrollten durch Beiträge und Erinnerungen, hörten sich alte Songs an, guckten Videoaufnahmen ihrer Auftritte. "Es wurde eine Art Tradition, Mark so bei den wichtigen Dingen dabeizuhaben. Auch auf dem Handy. Wir hatten nicht immer alle Zeit, in das Dorf zu fahren, in dem er beerdigt ist", sagt Stefan.

Heute, vier Jahre später, sind diese Treffen seltener geworden. Tim und Carsten haben eine neue Band, Marks damalige Freundin hat einen neuen Freund, seine Eltern sind weggezogen.

Stefan hat keinen neuen besten Freund und seit Marks Tod greift er auch kaum noch zur Gitarre. Manchmal sitzt er vorm Computer und spielt Marks Facebook-Bild etwas vor. "Meine Eltern haben Angst, dass meine Trauerbewältigung falsch ist. Aber ich sitze nicht jeden Tag vorm Bildschirm. Nur, wenn ich an Mark denken muss." Ein öffentliches Profil, das sei etwas anderes, als nur alte Fotos aufzurufen. Diese Seite hat Mark gestaltet, und all seine Freunde mit ihm. Dort bündeln sich alle Erinnerungen, Verlinkungen, Events, Fotos, Beiträge, Selfies. Sein Chronik ist ein ganzes Leben. Und seine Chats? "Seine Chats hätte ich gern gelesen, aber die gibt Facebook nicht frei. Vielleicht ist das besser so."

Für Stefan lebt das Profil weiter, auch wenn er weiß, dass Mark es nicht mehr tut. "Klar, mein Leben muss auch ohne ihn weitergehen. Ich möchte wieder einen besten Freund finden, dem ich so blind vertrauen kann wie Mark. Vielleicht heirate ich, bekomme Kinder oder spiele irgendwann wieder in einer Band. Ich werde schließlich älter." Stefan ist jetzt 28. Nur Mark wird im Internet immer 24 bleiben.

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