Obdachloser Mann küsst schwarzen Hund
Der zu diesem Zeitpunkt obdachlose Simon küsst den Hund Pogo, während Kumpel Matteo fotografiert

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Fotos

Diese Obdachlosen zeigen ihr Leben auf den Straßen Berlins

Wir haben Kaspars, Lukasz und Matteo Einwegkameras gegeben – sie brachten Fotos zwischen Straßenbrücken, Notunterkünften, Einsamkeit und rauschenden Partys zurück.

Erst deckte ein tagelanger Schneeregen die Stadt ein, dann froren bei minus 13 Grad Celsius nachts die Kanäle der Spree zu: Der Berliner Winter war garstig Anfang des Jahres – besonders für jene, die auf der Straße leben. Im Dezember und Januar haben sich drei Obdachlose bereit erklärt, ihr Leben unter diesen Umständen zu dokumentieren. Kaspars aus Lettland, Lukasz und Matteo aus Polen bekamen jeder eine Einwegkamera in die Hand gedrückt.

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Die drei ließen sich Zeit, erst Tage, dann Wochen. Mit Hilfe der Berliner Stadtmission und unserer Übersetzerin Julia trafen und sprachen wir sie in der Zwischenzeit mehrmals, kamen aber immer wieder mit leeren Händen zurück. Am Ende dauerte es einen ganzen Monat, bis sie die 27 Bilder eines Einwegkamerafilms verschossen hatten. Als wir die Filme entwickelten, sahen wir, warum: Kaspars, Lukasz und Matteo haben die Kameras wie Stift und Tagebuch benutzt. Sie zeigen: Das Leben unter Null und ohne Dach mag entbehrungsreich sein, aber es friert nicht ein.

Kaspars, 32, Lettland

Der Obdachlose Kaspar hat die Notunterkunft der Berliner Stadtmission fotografiert

Wir erreichen Kaspars als einzigen der drei auf dem Handy, er hat Berlin verlassen – und damit auch das Leben auf der Straße. Mitte Februar ist der Lette mit dem Reisebus bis nach Großbritannien gefahren, die Kamera, die Kaspars seit Januar mit sich herumgetragen hat, übergibt er erst bei der Abfahrt an einen Mitarbeiter der Stadtmission. Jetzt lebt er in der mittelenglischen Stadt Leicester, dem Wuppertal Englands. Er hat dort einen Job gefunden, schwarz zwar, aber er kann sich eine Wohnung leisten. Ihm geht es wie so vielen Menschen: Er ist erkältet. Unterbrochen von seinem Husten erzählt er von Berlin.

VICE: In welchen Momenten hast du fotografiert?
Kaspars: Es passierte einfach automatisch, manche Dinge sprachen zu mir. Klingt vielleicht ein bisschen verrückt, aber ich habe mir das nicht ausgesucht.

Schienen von der Straße aus fotografiert

Was waren das für Momente, die zu dir gesprochen haben?
Manchmal bin ich komplett emotionslos umhergelaufen und dann plötzlich kamen Gefühle über mich. Das Fotografieren und das Laufen haben mir einen Sinn auf der Straße gegeben, und mir mit meiner Depression geholfen. Ich bin einfach weiter und weiter gelaufen.

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Was bedeutet dir die Straße?
Freiheit. Wir sind jeden Tag auf der Straße, dort erleben wir Dinge, dort geschieht alles.

Kaspars Freund, ein obdachloser Punk, ebenfalls aus Lettland

Wer ist die Person auf dem Fahrrad, die du fotografiert hast?
Er stammt auch aus Lettland – ein Punk, der macht, was er will. Er war der einzige, den ich fotografieren durfte und der kein dafür Geld verlangt hat. Wir haben uns in Berlin kennengelernt und sind komplett verschieden. Nur das Leben auf der Straße hat uns zusammengeschweißt.

Wie bist du obdachlos geworden?
In Lettland habe ich kaum Geld verdient, dann rief mich der Bekannte einer Cousine aus den Niederlanden an. Er hatte einen Job für mich, also fuhr ich los, aber dort angekommen, meinte er plötzlich, dass er mit seiner Situation, seinem Gehalt und seinen Mitmenschen komplett unzufrieden wäre. Er wollte nach Berlin und fragte, ob ich mitkäme.

Obst liegt verschüttet auf den Straßen Berlins

Also bist du mit?
Ich habe lange überlegt, dann dachte ich mir, dass wir wohl leicht einen Job bekommen würden. Aber in Berlin gab es nichts für uns. Ich hatte einen Riesenfehler gemacht und war einfach verloren in der Stadt. Er ist irgendwann zurück nach Lettland gegangen – ohne mich.

Wie hast du den Winter in Berlin überstanden?
Ich bin den ganzen Tag U-Bahn gefahren und habe oft in der Stadtmission geschlafen. Ich war allerdings nur ungern dort. Wenn du nicht höflich bist, fliegst du raus. Dennoch haben sich viele immer gestritten. Ich wollte lieber alleine sein.

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Straßenszene
In den Notunterkünften können Obdachlose im Winter im Warmen schlafen
Tote Taube, raues Pflaster
Die Straße aus der Sicht des Obdachlosen Kaspar

Lukasz, 36, Polen

Ein Baum spiegelt sich im flachen Wasser, fotografiert vom Obdachlosen Lukasz aus Polen

Lukasz' Schwester lebt seit 17 Jahren in Deutschland, der Bruder zog vor einem Jahr aus Polen zu ihr. Heute haben sie keinen Kontakt mehr. Dabei hatte alles so gut angefangen: Lukasz sagt, er hatte schnell einen Job in Berlin gefunden, machte über 600 Euro pro Woche. Dann habe ihn ein Mann angezeigt, weil er ihn mit einem Messer angegriffen haben soll. Lukasz streitet die Tat ab, aber ein Gericht verurteilte ihn zu sechs Monaten Haft.

Drei Männer schlafen sich an einem Tisch ihren Rausch aus

Der Pole landete in der JVA Moabit, oder wie er sagt: "in der Scheiße". Dabei wollte Lukasz in Deutschland ein ruhiges Leben führen. Er behauptet, sich in seiner Heimat schon als Jugendlicher mit der Mafia eingelassen zu haben.

Im Gefängnis putzte er die Zellen, wieder draußen hat er bis heute keinen Job gefunden, obwohl er jeweils eine Ausbildung als Hausmeister und Gabelstaplerfahrer hat. Seit vier Monaten lebt er nun auf der Straße, weil seine Schwester auch nicht an seine Unschuld glaubt, redet er nicht mehr mit ihr. Als wir ihn in einer Unterkunft in Berlin-Friedrichshain treffen, wirkt er, als sei er der Kopf seiner polnischen Obdachlosen-Freundesgruppe. Abends geht er manchmal feiern, in Bars und in linken Hausprojekten.

Als wir ihm die Kamera geben, sagt Lukasz, er wolle uns seine Lieblingsplätze der Stadt zeigen. Über sich selbst sagt er: "Bevor ich obdachlos wurde, wollte ich immer so viel wie möglich so schnell wie möglich bekommen, aber jetzt verstehe ich, dass man die Suppe des Lebens langsam auslöffeln muss."

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Obdachlose warten in der Notunterkunft auf einen Schlafplatz

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Fanta und Wodka stehen auf einer Straße in Berlin
Die Spree aus der Sicht des Obdachlosen Lukasz

Matteo, 27, Polen

In der Straße hinter dem Bahnhof Zoo befindet sich die Berliner Stadtmission

Matteo lebt unter einer Brücke am Bahnhof Zoo, gleich um die Ecke der Berliner Stadtmission. Bis vor Kurzem verbrachte auch Matteos guter Freund, der 34-jährige Simon, die meisten Tage dort. Gemeinsam passten sie auf Pogo, ihren Hund, auf, als wir sie im Dezember vergangenen Jahres erstmals trafen.

Simon, ein Freund von Matteo, küsst Pogo, den Hund der beiden

Simon arbeitet mittlerweile auf einer Baustelle für ein großes Hotel. Er hat einen Zweijahresvertrag und lebt in einem Arbeiterarpatment. Dorthin durfte er weder Mateo noch Pogo mitnehmen. Auf Mateos Fotos ist Simon allerdings noch zu sehen, ebenso wie einige andere Bekannte aus der Zoo-Gegend. Die Kamera sei für ihn wie ein Tagebuch gewesen, sagt er uns, er wolle unbedingt die entwickelten Fotos sehen.

Ein junger Obdachloser zeigt seine Habseligkeiten zwischen Zelt und Einkaufswagen
Obdachloser unter einer Brücke
Ein Freund von Mateo posiert stolz hinter einer Quadriga mit vier Berliner Bären aus Bronze

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