Vor knapp zwei Jahren fiel das Urteil in einem der wichtigsten deutschen Gerichtsprozesse: Das Urteil im NSU-Prozess gegen die Nazi-Terroristin Beate Zschäpe und ihre Mittäter. Im Juli 2018 war es mündlich verkündet worden.
Seitdem sitzt Beate Zschäpe im Knast, derzeit in Chemnitz. Aber warum eigentlich genau? Bis zum April 2020 hatte noch niemand die schriftliche Begründung zum Urteil gelesen. Das Oberlandesgericht München wollte sie nicht publizieren oder an juristische Datenbanken wie Juris oder Openjur weitergeben. Journalistinnnen und Journalisten sollten ab April eine Erklärung unterschreiben, bevor sie das Dokument lesen durften. Auch die Nebenklage hat offenbar erst mit Verzögerung darauf Zugriff bekommen.
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Jetzt ist es raus.
Es half nichts. Der Watchblog “NSU-Watch” hat das Urteil gerade – gemeinsam mit dem Portal FragDenStaat.de – geleakt. Die beiden Gruppen wollen eine breite öffentliche Diskussion anstoßen. Jeder kann jetzt erfahren, wie die Richter am Münchner Oberlandesgericht zu ihrem Urteil kamen. Auch du und zwar hier.
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Allerdings umfasst die schriftliche Urteilsbegründung 3025 Seiten, also gut sechs Aktenordner in Juristendeutsch. Wir haben zwei Experten gefragt, wie man sich das NSU-Urteil anschauen sollte. Caro Keller ist Kommunikationswissenschaftlerin und Redakteurin bei NSU-Watch. Mehmet Daimagüler ist Rechtsanwalt und hat als Vertreter der Opferseite am NSU-Prozess teilgenommen.
Wo fängt man an?
Caro Keller empfiehlt, das Dokument nach Stichworten zu durchkämmen. Du könntest nach Städten suchen: Chemnitz, Jena, Berlin. Nach den Täterinnen und Tätern. “Man kann anfangen, wo es einen interessiert, das Dokument ist durchsuchbar”, sagt Caro Keller. Einige Namen sind allerdings aus presserechtlichen Gründen geschwärzt.
Mehmet Daimagüler hat das Urteil selbst erst zur Hälfte durchgearbeitet, “vor allem die für meine Mandantschaft besonders relevanten Teile.” Er empfiehlt, beim Lesen einige Fragen im Kopf zu haben:
“Die drei großen, gesellschaftlichen Themenkomplexe, die man sich vor dem Prozess gestellt hat: Welche Rolle spielt institutioneller Rassismus bei den Ermittlungen? Welche Rolle spielten Geheimdienste bis zur Selbstenttarnung – und danach? Wie groß war der und ist der NSU wirklich?”
Ohnehin stecke in dem Urteil viel weniger Inhalt als man erwarten könne, sagt Keller. Obwohl der Prozess so viel neues Wissen ans Licht gebracht habe, fehle das im Urteil.
Viele haben das Urteil bereits kritisiert
Journalistinnen und Anwälte hatten das Urteil schon in die Finger bekommen und hart kritisiert. Die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız sagte dem Hessischen Rundfunk, ein Opfer sei zum “stereotypen Statisten herabgewürdigt” worden. Sie war als Nebenklägerin im NSU-Prozess aufgetreten, und wurde seither aus Reihen der Polizei massiv bedroht.
“Einige Nebenklagevertreterinnen sagen, das es kalt und ahistorisch ist. Jetzt können sich alle ihr eigenes Urteil bilden”, sagt auch Caro Keller. “Es gibt ein großes öffentliches Interesse, trotzdem wurde das Urteil noch nicht zur Verfügung gestellt. Jeder von uns sollte rechtem Terror und rechter Gewalt entgegentreten. Und dazu braucht man Wissen – wir stellen das mit diesem Urteil zur Verfügung.”
Wie wird die Geschichte erzählt?
“Über Rassismus, die rassistischen Ermittlungen der Polizei und die Verantwortung des Verfassungsschutzes wird man in diesem Urteil leider nichts finden” sagt Caro Keller. “Was wir in München erlebt und gesehen haben, die Worte der Angehörigen, die für uns so wichtig waren, waren für den Senat offenbar überhaupt nicht wichtig.”
Auch ohne juristische Vorkenntnisse merkt man schnell, dass viele Formulierungen sich wiederholen. Bei vielen Opfern ist von “südländischer Abstammung” die Rede. “Das ist eine rassistische Zuschreibung, die in dem Urteil noch wiederholt wird”, sagt Keller. “Es wirkt, als wäre ganz viel Copy-Paste gemacht worden.”
Auch Mehmet Daimagüler sagt, die Version der Richter dürfe nicht allein stehen bleiben. “Es geht ja um Narrative. Das Staats-Narrativ ist ein Stück aus drei Akten: Erster Akt: Pleiten, Pech und Ermittlungspannen. Zweiter Akt: Wir haben alles aufgeklärt. Dritter Akt: Es kann nie wieder vorkommen. Dem muss man das Narrativ der Überlebenden entgegenhalten, denn jeder Akt ist falsch und endet in einem Schmierentheater.”
Keller sagt: “Es heißt immer, 3000 Seiten, das klingt sehr pompös. Am Ende bleibt davon nicht so viel übrig, vor allem nicht so viel Substanz wie das Thema eigentlich gebraucht hätte. Das Urteil allein reicht nicht.”
Ein komplettes Bild bekommt man nicht
Statt das gesamte Urteil zu lesen, bietet es sich also an, auch andere Stimmen zu hören.
Wer die Leerstellen füllen will, kann zum Beispiel auf Texte und Podcasts zurückgreifen. Caro Keller empfiehlt zwei Dokumentationen:”Der NSU-Komplex” und “Der Kuaför aus der Keupstraße”, in der Betroffene zu Wort kommen.
Die Stimmen der Nebenklage-Anwälte, also Vertreterinnen der Opfer, kommen im veröffentlichten Urteil nicht vor. Im Buch “Kein Schlusswort” haben sie ihre Plädoyers gesammelt herausgegeben. Auch Daimagüler hat sein Plädoyer veröffentlicht, unter dem Titel: “Empörung reicht nicht! Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran.”
Sollte man das Urteil überhaupt lesen?
Ja, sagt Mehmet Daimagüler. “Je mehr Leute das lesen, umso besser.”