Leben neben einem Schweizer AKW

VICE hat anlässlich der Abstimmung zur Energiestrategie 2050 vom 21. Mai 2017 mit der 22-jährigen Sarah Messerli gesprochen, die in der Nähe eines Schweizer Atomkraftwerks aufgewachsen ist und bis heute daneben wohnt. Sie hat uns erzählt, wie es sich anfühlt, ständig auf das Thema Atomkraft angesprochen zu werden und ob sie an einer Anti-AKW-Demonstration teilnehmen würde:

Den Anblick des weiss-rot gestreiften Schornsteins des Atomkraftwerks Mühleberg kenne ich, seit ich denken kann. Ich sehe ihn vom Zimmer meines Elternhauses in Frieswil im Kanton Bern, wo ich momentan noch wohne. Dem AKW fehlt der sanduhrförmige Kühlturm, den man sonst von Atomkraftwerken kennt, weil dort mit Flusswasser gekühlt wird. Das hat einen Einfluss auf die Wassertemperatur der Aare. Es heisst, dass sie dadurch immer um etwa vier Grad wärmer ist. Am nächsten kommt man dem AKW dann auch, wenn man in der Aare schwimmt. Es gibt eine Flussstelle, die ziemlich nahe dran ist, aber ich weiss nicht, ob deren Popularität wirklich daran festzumachen ist, dass die Wassertemperatur dort so hoch ist.

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Als Kind wusste ich über das Atomkraftwerk eigentlich nur, dass da der Strom herkommt und mein Grossvater dort gearbeitet hat. Ich erinnere mich, dass ich meine Eltern einmal gefragt habe, warum es von bewaffneten Securitys mit Hunden bewacht wird. Sie sagten, es sei ein gefährlicher Ort, wegen der Radioaktivität. Das verstand ich damals nicht, fragte aber nicht nach.

In der Unterstufe war es üblich, dass jede Klasse das AKW besichtigen ging. Es hat mich damals nicht besonders interessiert, sie haben uns Filme gezeigt und uns technische Sachen erklärt. Viel geblieben ist mir davon leider nicht. Heute würde mich eine solche Führung sehr interessieren. Ich habe erst im Gymnasium mit 15 oder 16 in Bern verstanden, dass AKWs ein sehr emotionales Thema sind. Es gab viele heftige Diskussionen. Um diese Zeit war auch der Atomunfall in Fukushima. Da gab es eine Demo vor dem AKW.

In ständiger Angst vor einem Atomunfall lebt sicher niemand, der bei Mühleberg in der Nähe wohnt. Viele Leute haben auch einen Garten, wo sie Gemüse anpflanzen. Mein Onkel hatte direkt neben dem AKW ein Kartoffelfeld. Wir witzeln manchmal, dass wir als erstes dran glauben müssten, wenn das AKW hochgehen würde. In der Umgebung ist keine starke Ablehnung gegen Atomkraft zu spüren. Mehr so die Einstellung, dass man es eben braucht und nichts daran ändern kann. Und viele sind auch froh über die Arbeitsplätze, die es geschaffen hat.

Durch die Erfahrung meiner Eltern habe ich gesehen, dass es nicht so einfach ist, eine Wohnung zu vermieten, wenn ein AKW in Sichtweite ist. Als sie nämlich unsere Zweitwohnung vermieteten, kam ein paar Mal vor, dass Interessenten sich einen Einzug plötzlich nicht mehr vorstellen konnten, als sie merkten, dass das AKW vom Fenster aus zu sehen ist.

Es gibt einen Termin, wann das AKW vom Netz gehen soll. Darüber wird in der Region diskutiert, die Leute fragen sich, wie es weitergeht, woher der Strom in Zukunft kommen soll. Vor Fukushima wurde an einem neuen AKW geplant, nach Fukushima ist dieses Vorhaben dann aber gestorben. Es war damals keine Begeisterung zu spüren, es gab aber auch keine Empörung.

In meiner Zeit am Gymi musste ich mir ab und zu dumme Sprüche anhören. Meine Mitschüler sagten zum Beispiel: “Ich weiss, wieso du immer so strahlst.” Manchmal nervt es auch, wenn ich sage, dass ich in der Nähe von Mühleberg wohne und die Leute dann gleich eine Diskussion über Atomenergie anfangen wollen.

Wenn man neben einem AKW aufwächst, hat man, glaube ich, insofern eine andere Sicht auf die Atomstromdebatte, dass man Atomkraftwerke zuerst als etwas Neutrales wahrnimmt oder einfach nicht als etwas abgrundtief Böses. So war es zumindest bei mir. Heute unterstütze ich Atomkraft zwar nicht, aber ich würde auch nicht dagegen auf die Strasse gehen.

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