Identity

Leuten ist es immer noch wichtig, mit wie vielen Menschen ihr Partner Sex hatte

Ich habe erst Anfang meiner Zwanziger bemerkt, dass die Regeln beim Dating für Männer und Frauen unterschiedlich sind. Damals ging ich mit einem Mann aus, der als Soldat arbeitete und ungefähr zehn Jahre älter war als ich. Von dem Moment an, als er mich in einem überfüllten Club zum Tanzen aufforderte, statt einfach nur seine Leistengegend ohne vorherige Erlaubnis an meinen Hintern zu drücken, war es um mich geschehen.

Kurz nach Beginn unserer Romanze musste er in den Irak. Er war ein Jahr lang weg und in einem Moment der Schwäche habe ich ihn betrogen. Wie ich später herausfand, hatte er auch mit jemand anderem geschlafen. Ich war deshalb allerdings nicht allzu wütend. Wie könnte ich auch? Er hingegen raste vor Wut.

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„Ich weiß, es klingt irgendwie schräg”, meinte er, „aber es ist einfach schlimmer, dass du mich betrogen hast, weil du eine Frau bist.” Unnötig zu erwähnen, dass unsere Beziehung danach nicht mehr allzu lange hielt.

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Sozialpsychologen bezeichnen es als „sexuelle Doppelmoral”, wenn die sexuelle Freizügigkeit von Männern anerkannt wird, die von Frauen hingegen nicht. Existiert eine solche Doppelmoral aber tatsächlich noch? Die Tage, an denen die Jungfräulichkeit einer Frau das wertvollste Geschenk war, dass sie ihrem Mann in der Hochzeitsnacht machen konnte, liegen schließlich längst hinter uns. Hat die Gleichstellung der Geschlechter aber auch unsere Einstellung gegenüber Sex durchdrungen?

Steve Steward-Willimas, Professor für Psychologie an der University of Nottingham in Malaysia, sagt, dass die sexuelle Doppelmoral im Vergleich zu früher stark zurückgegangen ist, doch sie existiert nach wie vor. „Teil des Problems ist, dass wir, wenn wir erst einmal eine Vorstellung davon haben, wie die Welt funktioniert, alles durch die Linse unserer Vorstellungen betrachten. Wenn wir davon ausgehen, dass unsere sexuelle Doppelmoral weit verbreitet ist, werden wir auch immer wieder Beweise für diese These finden.”

Vergangenen Monat erschien eine Studie, die untersucht hat, welchen Einfluss die sexuelle Vergangenheit einer Person auf ihre Attraktivität hat. Dabei stellten Stewart-Williams und seine Kollegen fest, dass die Zahl der bisherigen Sexualpartner des potenziellen Partners für Männer wie für Frauen noch immer eine große Rolle spielt. „Die durchschnittliche Frau und der durchschnittliche Mann in unserer Stichprobe”, schreiben sie, „wünschen sich nicht, dass ihr potenzieller Partner keine sexuelle Vergangenheit hat. Unserer Teilnehmer waren zwar bereit, sich mit einer solchen Person einzulassen, allerdings würden sie einen Partner bevorzugen, der eine sexuelle Vergangenheit hat.”

Die Studie stellte derweil auch fest, dass „beide Geschlechter angaben, sich nur widerwillig mit jemandem einzulassen, der eine hohe Zahl an vergangenen Sexualpartnern hat”—ungeachtet „der verbreiteten Vorstellung, dass sexuelle Freizügigkeit bei Männern toleriert wird, bei Frauen hingegen nicht.”

Foto: Eleazar | Flickr | CC BY 2.0

In gewissen Maße, erklärt Stewart-Willimas, hängt es auch davon ab, was man sich von einer Beziehung erwartet. „In Rahmen unserer Studie haben wir unter anderem auch festgestellt, dass sich Menschen, die entspannter mit Gelegenheitssex umgehen, auch nicht so viele Sorgen darüber machen, ob ein potenzieller Partner in der Vergangenheit viele Sexualpartner gehabt hat. Ihnen ist egal, ob eine Person kein ‚gutes’ Heirats- oder Beziehungsmaterial ist, weil sie auch gar nicht danach suchen.”

Im Rahmen einer Studie aus dem Jahr 2013 wurden College-Studenten in den USA gefragt, was sie unter „vielen” Sexualpartner verstehen. Dabei stellten die Forscher fest, dass eine kleine Minderheit von Teilnehmern nach wie vor der Ansicht war, dass es für Männer in Ordnung wäre „herumzuhuren”, für Frauen allerdings nicht. Hierfür analysierten die Autoren die Antworten aus einer Online-Umfrage von insgesamt 24.131 Studenten an 22 verschiedenen Colleges und Universitäten in den USA. Die Teilnehmer wurden gebeten zu bewerten, inwieweit sie der folgenden Aussage zustimmten beziehungsweise widersprachen: „Wenn Frauen/Männer mit vielen verschiedenen Leuten rummachen oder Sex haben, habe ich ihnen gegenüber weniger Respekt.”

Die allgemeine Haltung gegenüber Gelegenheitssex wurde in den letzten Jahren immer liberaler und Forscher haben herausgefunden, dass Männer und Frauen im Hinblick darauf von den meisten Menschen auch gleichwertig bewertet werden—obwohl zwölf Prozent nach wie vor an der Doppelmoral festhielten. Interessant ist auch, dass 13 Prozent einer umgekehrten Doppelmoral folgten und Männer für ihre sexuelle Freizügigkeit verurteilten und Frauen nicht. Die traditionelle Doppelmoral war unter Männern weiter verbreitet als unter Frauen; die umgekehrte Doppelmoral war hingegen häufiger bei Frauen zu finden.

Diese Form von sexistischem Diskurs scheint Frauen—im Unterschied zu Männern—, dauerhaft für ihre vergangenen sexuellen Entscheidungen haftbar zu machen.

Stewart-Williams, der mit der erwähnten Arbeit ebenfalls vertraut ist, sagt, dass „sich hinter den verschiedenen Doppelmoralen in Wirklichkeit nur eine einzige Doppelmoral verbirgt: ‚Bei mir ist es OK, aber nicht bei dir.’”

Dennoch deutet vieles darauf hin, dass sich eine sexpositivere Kultur in unserer Gesellschaft ausbreitet, erklärt Amanda Gesselman, Sozialpsychologin am Kinsey Institute der University of Indiana. „Das schließt auch den Abbau von sexuellen Doppelstandards mit ein”, sagt sie gegenüber Broadly. Im März veröffentlichte sie eine Studie, die nahelegt, dass Keuschheit im weitesten Sinne verpönt ist. Im Rahmen einer Umfrage mit knapp 5.000 alleinstehenden Erwachsenen stellten sie und ihr Team fest, dass „die Teilnehmer im Allgemeinen eher keine Beziehung mit einer Jungfrau eingehen würden. […] Insbesondere Männer, jüngere Teilnehmer und diejenigen, die selbst sexuell unerfahren waren, drückten seltener den Wunsch aus, eine Beziehung mit einer Jungfrau zu führen.”

Gesellman erklärt: „In früheren Generationen war es gesellschaftlich verpönt, sexuell aktiv zu sein—insbesondere, was vorehelichen Geschlechtsverkehr betrifft. Unsere aktuellen Ergebnisse legen dagegen nahe, dass die Menschen mittlerweile erwarten, dass ihre potenziellen Partner bereits sexuelle Erfahrungen gesammelt haben, bevor sie eine Beziehung mit ihnen eingehen. Eine sexuelle Vergangenheit zu haben, wird als Norm betrachtet.”

Gleichzeitig sollte die Vorgeschichte aber auch nicht zu lang sein. Eine weitere Studie, die im vergangenen Jahr erschien, zeigte, dass Männer und Frauen unterschiedlich reagieren, wenn sie mit der schmutzigen Vergangenheit ihres Partners konfrontiert werden. Daniel Jones, Professor für Psychologie an der University of Texas in El Paso, schreibt: „Es ist möglich, dass sich Frauen aufgrund pragmatischer Angelegenheiten wie Stabilität und Loyalität in einer Partnerschaft mehr Sorgen machen. Männer haben hingegen eher Bedenken hinsichtlich ihres Rufes und ihres gesellschaftlichen Ansehens.”

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Wie er im Rahmen von zwei Studien mit fast 400 Teilnehmern feststellte, sehen Frauen leichter über die weitreichende sexuelle Vergangenheit eines Mannes hinweg, wenn dieser andeutet, dass er die Vergangenheit hinter sich lassen möchte. Männer hatten hingegen größere Probleme damit—zum Teil auch, weil sie Schwierigkeiten mit der Vorstellung hatten, dass Frauen die gleiche sexuelle Freiheit genießen. „Von einem sozialen/kulturellen Standpunkt her könnte die sexuelle Doppelmoral ein weiterer Grund dafür sein, warum sich Männer durch weibliche Sexualität gestört fühlen: Sie bricht mit einer sozialen Norm”, schreibt Jones.

Er schlussfolgert daraus, dass es Frauen deswegen schwerer fallen könnte, mit der Vergangenheit abzuschließen. „Tatsächlich”, schreibt er, „scheint diese Form von sexistischem Diskurs, Frauen—im Unterschied zu Männern—dauerhaft für ihre vergangenen sexuellen Entscheidungen haftbar zu machen.”

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