Dass man erwachsen wird, merkt man an den Dingen, von denen man sich trennt. Wenn neue Phasen im Leben beginnen – das Studium, der erste Job – bleiben Lieblingsbands, Lieblingsfreunde, Lieblingskleidung zurück. Dinge eben, die die vorangegangene Phase geprägt haben. Was wir hörten, was wir dachten, was wir trugen. Mein Begleiter war die Röhrenjeans. Ein textiler Lebensabschnittsgefährte, der alles mitgemacht hat: Pubertät, Abitur, Zivildienst, Studium. Aber jetzt ist Schluss.
Seit gut einem Jahr arbeite ich als Journalist. Seit ich im Berufsleben stehe, gehe ich manchmal fremd. Ich kaufe jetzt Chinos oder diese Anzughosen, die man auch ohne Anzug tragen kann. Ich nehme die Röhrenjeans im Schrank noch wahr, aber entscheide mich immer häufiger gegen sie. Wie eine Band eben, deren Musik ich einst geliebt habe und die mir zunehmend egaler wird. Wenn sie irgendwo in einer Bar läuft, singe ich trotzdem mit, fürs Gefühl, aber das Gefühl ist nur Nostalgie.
Videos by VICE
Die erste Röhrenjeans meines Lebens sah ich auf MTV in einem Musikvideo der Libertines. Ein dürrer Typ läuft durch London. Er raucht, er säuft, er ist unfassbar cool. Es ist Pete Doherty. Oh mein Gott, sowas hatte ich noch nie gesehen. Den Typen nicht, aber vor allem nicht diese knallengen Hosen. Kurz darauf, ich war 15, zwängte ich mich selbst in meine erste Röhrenjeans. Bald bin ich 29. Gut die Hälfte meines Lebens trug ich ausschließlich Röhre. Die Hälfte meines Lebens. Ein guter Zeitpunkt, um Bilanz zu ziehen, dieser Hose einmal Danke zu sagen, aber eben auch Lebewohl.
Auch auf VICE: So habe ich mich an die Spitze der Paris Fashion Week gemogelt
Die “Coolen” in meiner Provinzschule waren Surfer. Die trugen Haifischzahnkette. Oder sie waren einfach älter, fuhren schon Auto und hatten einen Bart. Beide, die Surfer und die Autofahrer, waren mir fremd. Ich war ein dünner, bartloser, unscheinbarer Schluffi mitten in der Pubertät und – völlig frustriert, weil Katinka aus der Parallelklasse offenbar nicht einmal wusste, dass ich existiere. Ich sah an mir herunter, sah die verschlissenen Cord-Hosen, die mir zu lang waren. Immer trat ich hinten den Saum kaputt.
Und dann sah ich auf MTV einen Mann, der seine Drahtigkeit feierte, indem er sie durch den Schnitt seiner Hosen betonte. Und da waren noch mehr: Alex Turner von den Arctic Monkeys, Julian Casablancas von den Strokes, Björn Dixgard von Mando Diao. Allesamt Frontmänner sehr weißer Indie-Bands, zum Teil extrem bro-mäßig drauf. Aber damals fand ich sie großartig: so gelangweilt, so cool, so unfassbar enghosig. Ich wollte sein wie sie. Und dafür brauchte ich so eine Hose.
Schwierig, wenn man aus Bad Schwartau in Schleswig-Holstein kommt und extra “in die Stadt” fahren muss, um Klamotten zu kaufen. Meine erste Röhrenjeans fand ich in der Frauenabteilung von Zara. Sie war weiß. Pete Doherty hatte auch eine Röhrenjeans in weiß.
Der erste Tag mit neuer Hose in der Schule sollte meinen kometenhaften Aufstieg auf den Olymp der Obercoolen und direkt ins Herz von Katinka markieren, doch er endete, bevor er begonnen hatte, mit Gebrüll. “SCHWUUUUCHTEL”, riefen sie vom Autoparkplatz herüber. Ich war aufgefallen, das war gut. Von da an war ich also nicht mehr unscheinbar. Aber ich war jetzt “die Schwuchtel”. Ich glaube, das war maximal ein Drittel homophob gemeint, hauptsächlich bedeutete es: unmännlich. In den Augen der Päddys und Jan-Hendriks mit ihren VW Golfs war das noch unverzeihlicher, als auf Männer zu stehen. Dafür hatte ich den den sozialen Tod verdient.
Ob mir das denn nicht “alles abklemmt da unten”, fragten sie. Als würden sie Penisse umhertragen so dick wie Babyarme
Komischerweise gefiel mir das. Es machte Spaß, Menschen zu provozieren, die ich für Idioten hielt. Wie sie glotzten auf mich und meine weiße Hose, diese dämlichen Dorftrottel mit ihren Böhse Onkelz-Shirts, die nicht verstehen wollten, dass ich die gleiche Hose trug wie Pete Doherty, dem großartigsten Mann der Welt. Kannten die bestimmt gar nicht.
Sie bebten richtig, wenn sie mich sahen. Ob es mir denn nicht “alles abklemmt da unten”, fragten sie zum Beispiel. Als würden sie Penisse umhertragen so dick wie Babyarme.
Nur Katinka interessierte sich weiterhin nicht für mich. Dafür lernte ich die Typen aus den oberen Jahrgängen kennen, die wirklich cool waren. Weil sie die gleiche Musik mochten wie ich, weil sie die gleichen Hosen trugen, die gleichen Sprüche abbekamen und darüber lachten. Wir gingen auf Konzerte – Maximo Park, Kaiserchiefs, Bloc Party. Einmal fuhren wir mit der Fähre nach Schweden auf ein Festival. Und danach nach Göteborg, um eine April 77 zu kaufen, die mit Abstand engste Röhrenjeans auf dem Markt. A-pril-Se-ven-ty-Se-ven. Jede einzelne Silbe eine ganze Unabhängigkeitserklärung.
Wir entdeckten, dass es schon früher Männer mit Röhrenjeans gegeben hatte: Freddy Mercury von Queen, David Bowie. Wir wollten auch androgyn sein, wie unsere Helden. Bald trugen wir auch Halstücher und Schmuck. Wir schnitten uns gegenseitig die Haare und färbten sie. Mir knallrot. Wir spielten mit Geschlechterrollen, Jahre bevor wir das Wort Gender zum ersten Mal hören sollten.
Kurz bevor die anderen aus meiner Röhrenjeansgang Abitur machten, bevor sie zum Studium wegzogen, erfanden wir noch die Zwei-Finger-Regel. Wie andere Whiskey portionieren, prüften wir unsere Hosen. Wenn zwei Finger zwischen Haut und Stoff passten, war sie nicht eng genug.
Irgendwann gab es Röhrenjeans bei H&M. Die hatten das kleine schwedische Label Cheap Monday aufgekauft. Das bedeutet auch, dass ich kein Avantgardist mehr war. Ich war jetzt Mainstream. Die Röhrenjeans hatte mich zum Early Adopter gemacht, jetzt taugte sie nicht mal mehr als Distinktionsmerkmal. Das Provokante – vorbei. Wahrscheinlich liegt es daran, dass der Mainstream immer irgendwann die Avantgarde einholt, die ihn erst ermöglicht hat. Ich mag einer der Ersten gewesen sein, der in Bad Schwartau eine enge Hose trug. Die Welt um mich herum war da schon weiter.
Und doch: Besuchte ich meine alten Freunde in den neuen Städten, in Hamburg, in Berlin, gingen wir mit Röhrenjeans in die Indie-Disco. Später, wenn sie mich besuchten und wir, nun als Studenten, in Technoclubs gingen, trugen wir sie noch. Auch, als ich bemerkte, wie öde Technoclubs sind, wenn man die Pillen weglässt. Und ich trug sie sogar weiter, als ich feststellte, wie schön ein Abend sein kann, bei dem ich um 10 Uhr abends mit meiner Freundin auf dem Sofa einpenne.
Röhrenfernseher gibt es ja auch nicht mehr. Und Leuchtstoffröhren hat man durch energiefreundliche LEDs ersetzt. Schlimm ist das nicht
Im Juni 2016 richteten Designer und Kulturwissenschaftlerinnen in Berlin eine Konferenz aus: “Die dünne Dekade: Nachruf auf die Skinny Jeans.” Ende Dezember 2018 schloss der Online-Shop von Cheap Monday. H&M hat sich dafür entschieden, die Marke sterben zu lassen.
Röhrenfernseher gibt es ja auch nicht mehr. Dafür 50-Zoll-Flachbildschirme. Und Leuchtstoffröhren hat man durch energiefreundliche LEDs ersetzt. Dem Alten trauert nur der hinterher, der sich solange daran klammert, bis es sich an ihn klammert. Bis sich nur noch die nostalgiegepolsterte Vergangenheit so gut anfühlt wie damals die knallenge April-77-Hose aus Göteborg.
Neulich habe ich es ernsthaft als “Befreiung” bezeichnet, mittlerweile in einem Alter zu sein, in dem ich nie wieder in einen Club gehen muss. Mein 15-jähriges Ich, dem Röhrenjeans dabei halfen, sich selbst zu finden – soll es mich doch für meine neue Spießigkeit ohrfeigen. Ich würde mich nicht mal wehren.
Aber seit ich Chinos trage, ist da wieder dieses Gefühl, in der richtigen Zeit angekommen zu sein. Es ist die Hose meiner Jetzt-Zeit, die mir das Gefühl gibt, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wenn Hosen, wenn Mode sowas kann, dann habe ich nicht einmal Angst davor, in zwanzig Jahren in das Stadium der Beulenhose einzutreten und darin sonntags ganz gemütlich die Enten am See zu füttern. Ich werde mich dann über die Jugendlichen von heute aufregen, die Scheißmusik aus der Dose hören und wahrscheinlich nicht wissen, wer Pete Doherty war. Der Typ mit den schönsten Hosen der Welt.
Folge Niclas auf Twitter und VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.