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Lucrecia Dalt, musikalische Filmstörungen und das Heroines of Sound Festival

Die Verbindung zum Klang ist in der Familiengeschichte der Experimentalmusikerin Lucrecia Dalt tief verankert. Ihr Großvater entfernte früher die Gesangsspuren von Kassetten und nahm dann seinen eigenen Gesang auf, um für Gäste zu spielen, ihre Großmutter brachte sich in einem Geheimversteck unter ihrem Bett selbst das Gitarrespielen bei und ihre Mutter sammelte und hörte in ihrer Kindheit fleißig Platten.

Aus diesen Wurzeln entstand eine Karriere, die Dalt aus ihrer Heimat Pereira in Kolumbien erst nach Spanien und dann nach Berlin brachte, wo sie mittlerweile lebt und arbeitet. Dalt ist nicht nur Musikerin sondern auch Soundkünstlerin und Radioproduzentin. Ihre technischen Fähigkeiten im Umgang mit Klang verleihen ihrer Musik eine eigenständige Tiefe und ihre umfangreiche Kenntnis des Mediums erlaubt Dalt, Soundscapes zu erschaffen, in denen Abstraktion und Zugänglichkeit auf schöne Weise koexistieren.

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Als Dalt 2005 in Kolumbien mit dem Musikmachen anfing, nur mit MIDI-Instrumenten und einem Mikrofon bewaffnet, verwendete sie für ihre Aufnahmen oft ihre Stimme. In den letzten Jahren hat sie sich allerdings davon abgewandt, mittlerweile bevorzugt sie experimentellere Arbeiten und unkonventionelle Produktionstechniken. Ihr Album Ou von 2015 wurde von deutschen Experimentalfilmen inspiriert. Dalt ließ die Filme laufen, während sie Musik machte, und ließ sich durch die Klänge der Filme dabei beeinflussen. Daraus entstand die Methode, mit der Dalt derzeit arbeitet, und bei der sie verschiedenen Werkzeuge im Produktionsprozess freien Lauf lässt, die verschmelzen und aus diesem rohen Format konstruktive Musikstücke formen.

Ein einfaches Leitmotiv in einem Wim Wenders-Film kann dazu führen, dass ich eine ganze Platte neu bewerte.

“Ich mag es, ein System unendlich in andere Systeme zu schicken: Den Bass in ein Pedal, in einen Vocoder, das linke Signal daraus in einen Verstärker, zurück in den Vocoder, das rechte in eine anderes System. Das Endergebnis ist recht unerwartet und das mag ich. Es dauert eine Weile, einen Klang zu erschaffen, aber es ist sehr interessant, wie sehr ich mittlerweile die Kontrolle darüber verliere, was passiert”, erklärt sie gegenüber THUMP. Diese organische Herangehensweise an den Prozess verleiht den Geräten, die sie nutzt, eine gewisse Kontrolle und Macht über die Erzählung. Dalt positioniert sich selbst als eine Kuratorin der Einflüsse, als Verknüpferin vieler kreativer Ströme.

An diesem Wochenende wird Dalt ihre experimentelle Musik auf die Bühne des Heroines of Sound Festivals in Berlin bringen. Das Festival findet vom 8. bis 10. Dezember statt und wird von drei Frauen organisiert, die in verschiedenen Audio-Feldern arbeiten: Der Musiktheaterdirektorin Bettina Wackernagel, DJ und Produzentin Mo Loschelder und Sound-Studies-Lehrerin Sabine Sanio. Das Festival findet zum zweiten Mal statt und wurde letztes Jahr mit der Intention ins Leben gerufen, eine genreübergreifende Mischung weiblicher Pionierinnen der elektronischen Musikszene zu präsentieren. Zum Line-up gehören u.a. auch Natalie Beridze, Miako Klein, Perera Elsewhere und die beiden besonders im Fokus stehenden “Heroines” Beatriz Ferreyra und Christine Grollt.

Für Dalt bedeutet bei diesem Festival zu spielen einen Schritt nach vorne, wenn es darum geht, gewisse Ungleichheiten auszubalancieren, die sie in ihrem Feld beobachtet. Sie glaubt, dass das beste Gegenmittel gegen Vorurteile Taten sind und dass einige Probleme mit Diskriminierung durch die Qualität der Kunst reduziert werden können, auch wenn viele davon systemisch sind. Wir von THUMP haben uns vor dem Festival mit Dalt in Verbindung gesetzt, im Folgenden kannst du unser Interview mit ihr lesen.

THUMP: Wie hat sich dein musikalischer Ausdruck verändert, jetzt wo du deine Stimme kaum noch nutzt?
Lucrecia Dalt: Ich halte das für keine dramatische Veränderung. Vielleicht fühle ich mich dadurch, dass ich mich nicht mehr ums Singen kümmern muss, mehr als Teil der architektonischen Räume, in denen ich auftrete, und deswegen auch der Klangerfahrung, die ich bieten muss. Als ich gesungen habe, habe ich mich zu sehr in meinem eigenen Körper gefühlt, zu gefangen, es war nicht sehr angenehm. Aber ich lerne gerade, meine Stimme auf eine Weise zu nutzen, mit der ich mich wohl fühle. Ich brauchte diesen Raum, diese Pause, um zu verstehen, dass ich meinen Gesang vorher einfach in einen “Standard” gepresst habe.

Kannst du mir vom audiovisuellen Element deines kreativen Prozesses erzählen?
Das begann mit einem japanischen Film von 1962 mit dem Titel Daydream. Der Film lief im Hintergrund, während ich arbeitete. Manchmal drehte ich die Lautstärke für einen Moment auf und ließ diese Störung in meine Arbeit mit einfließen. Diese Technik habe ich oft verwendet. Diese Ansammlungen von Informationen wurden meine kreativen Partner.

Foto von Borja Vilas

Was hat dich dazu gebracht, dich dem Neuem Deutschen Film zuzuwenden und die Methode zu einem integralen Bestandteil von Ou zu machen, nachdem du sie durch Daydream gefunden hattest?
Es ergab Sinn, zu denken, dass ich dies zu einer Methode für die Arbeit an einem ganzen Album machen könnte. Nachdem ich nach Berlin gezogen bin, ergab es auch Sinn, die Quellen strikt auf deutsches Kino zu begrenzen. Ich habe Neuen Deutschen Film gewählt, weil ich das am interessantesten von allen fand. Ich muss jedoch sagen, dass es knifflig ist, einer kreativen Arbeit eine Methode aufzuzwingen. Manchmal funktionierte es und andere Male ergab es überhaupt keinen Sinn. Mich so zu zwingen oder zu beschränken, verlieh mir jedoch eine Aufmerksamkeit für Film und Soundwelten im Film, die ich nie zuvor hatte und die meine Musik kontinuierlich beeinflusst. Ein einfaches Leitmotiv in einem Wim Wenders-Film kann zum Beispiel dazu führen, dass ich eine ganze Platte neu bewerte.

Wie sah ein Tag zu der Zeit aus, als dieses Album entstanden ist und du mit Film gearbeitet hast?
Ich ging viel in die Gedenkbibliothek, um DVDs auszuleihen. Es gibt dort eine wirklich tolle Auswahl an Filmen. Ich habe eine Leinwand und einen Projektor gekauft und so viele ausprobiert wie möglich, um es im Hintergrund zu haben, während ich arbeitete. Wenn mir etwas gefiel, sah ich es mir nachts ganz an, machte Notizen und ließ meine Arbeit durch andere Teile des Films beeinflussen. Die Filme Die Parallelstrasse von Ferdinand Kittel und Welt am Draht von Rainer Werner Fassbinder waren zum Beispiel wichtiger als alles andere, was ich gesehen habe.

Gehen wir zurück zu deiner Arbeit mit anderen Aspekten von Film. Kannst du mir mehr über Una Historica Nunca Contada Desde erzählen? Wovon handelt der Film?
Es ist ein audiovisuelles Stück, das sich zwischen historischer Dokumentation, wissenschaftlicher/politischer Fiktion und psychologischem Porträt bewegt. Er ist von einem sehr merkwürdigen Fall der Telekommunikation abgeleitet, der in den 70ern in Chile während der Präsidentschaft von Salvador Allende stattfand und Cybersyn gennant wird. Der Film dreht sich um Utopien und ihr Scheitern, die Verwendung von Technologie, Geschlecht.

Findest du, dass sich die Art, mit der du dich Sounddesign näherst, groß von der unterscheidet, mit der du Musik machst?
Ja. Wenn du Bilder hast, dann kann eine Note genauso kraftvoll sein wie ein ganzes Arrangement. Die Entscheidungsfindung und Spannungen unterscheiden sich stark. Du bist verantwortlicher dafür zu entscheiden, wie viel Klang es geben soll, wie laut er sein soll, wie nah, ob er die Bilder tragen oder eher als Kontrapunkt dienen soll, um neue Spannungen zu entwickeln. Außerdem wirkt Zeit auf eine sehr andere Weise, wie wenn du Musik machst.

Woran arbeitest du derzeit?
Mein Hauptfokus liegt darauf, ein neues Liveset zu entwickeln und performative Fähigkeiten zu gewinnen. Ich will eine gute wissenschaftliche Dozentin werden. An meiner monatlichen Radiosendung namens Pli, die sich zwischen Dokumentarsendung und Soundeffekten bewegt. Ich sammle außerdem die ersten Ideen für eine neue Platte. Und an einem Soundtrack für ein neues audiovisuelles Projekt mit [der visuellen Künstlerin] Regina de Miguel mit Material, das sie auf Deception Island in der Antarktis gedreht hat.

Was können die Leute von deinem Liveset beim Heroines of Sound erwarten?
Ein Science-Fiction-Klanglabor, das von einer gestörten Professorin betrieben wird.

Heroines of Sound findet vom 8. bis 10. Dezember im HAU2 in Berlin statt. Tickets und weitere Information gibt es hier.

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