Wer im Knast sitzt und gerne ein Tattoo hätte, schraubt seinen Rasierapparat oder seinen CD-Player auseinander, baut den Motor aus, setzt ihn auf einen Kugelschreiber, steckt eine Nähnadel hinein und sticht sich damit unter die Haut. Das ist nicht nur schmerzhaft, sondern auch schrecklich unhygienisch. Auch in Luxemburgs einzigem Gefängnis war es bis vor Kurzem so: “Eigentlich nahmen die Gefangenen alles zum Tätowieren, was sie finden konnten”, sagt Mike Conrath, 45, der dort als Pfleger arbeitet.
Früher nutzten die Gefangenen auch teils gefährliche Farben, sagt er: “Die hatten echt krasse Ideen. Sie schmolzen das Cover ihrer Duschgelflasche ein und ließen den Dampf zu Farbe gerinnen. Oder sie vermischten Zigarettenasche mit Spucke und Wasser.”
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Kein Wunder also, dass durch solche Tätowierungen das Infektionsrisiko für HIV, Hepatitis oder Tuberkulose extrem hoch ist. Mike Conrath und eine Kollegin haben deswegen das weltweit erste Tattoostudio hinter Gittern gegründet. In Schrassig, einem Gefängnis mit insgesamt 600 Insassen. Das Inmates Tattoo Studio. Es gab zwar auch in anderen Ländern ähnliche Projekte, doch die laufen nicht mehr.
Illegale Knast-Tattoos mit Spucke und Asche
Vor vier Jahren schrieb seine ehemalige Kollegin von der Krankenstation ihre Diplomarbeit über Tätowierungen in Haft. Dafür befragte sie die Inhaftierten, ob sie tätowiert seien. Das Ergebnis: Etwa ein Drittel der Gefangenen hatte ein Tattoo. “Und insgesamt etwa 100 Leute hatten sich während ihrer Haft bei uns in Schrassig tätowieren lassen”, sagt Mike Conrath. Mit einem Mal wurde ihnen klar: In ihrem Knast wird häufig illegal tätowiert.
Das ist eigentlich verboten – eben wegen der Ansteckungsgefahr. Folglich dachten die Gefangenen in Schrassig zuerst, der Fragebogen sei eine Falle, um sie auffliegen zu lassen, erinnert sich Mike Conrath. “Es war sehr schwierig, das Vertrauen der Insassen zu gewinnen. Zum Glück kannten wir ein paar, zu denen wir sehr guten Kontakt hatten. Die haben die anderen dann überzeugt.”
Es habe danach nur eine halbe Stunde gedauert, bis seine Kollegin und Conrath die Gefängnisleitung von ihrer Idee des Tattoostudios überzeugten. Allein die Hepatitis-C-Erkrankung eines einzigen Gefangenen koste das Justizministerium rund 50.000 Euro. Und es ist die am meisten übertragene Infektionskrankheit hinter Gittern. Ihr Argument: Schon die erste verhinderte Infektion finanziert das gesamte Projekt.
“Wenn wir Spritzen und Kondome verteilen, müssen wir auch Tätowiernadeln ausgeben”
Conrath selbst hat zwar kein Tattoo, ist aber mittlerweile ein Knast-Tattoo-Experte. “Am Anfang wusste ich gar nicht, wie man tätowiert. Dann habe ich im Internet nach Tätowierern in Luxemburg gesucht. Ein Tätowierer in unserer Nähe war begeistert von der Idee. Er ist mit ins Gefängnis gekommen und hat uns alles beigebracht.”
Durch den Tätowierer hat Mike Conrath eine Registriernummer zugewiesen bekommen, die es ihm erlaubt, in einem Shop in Frankreich Material wie Nadeln, Maschinen, Farben und Vorlagen zum Durchzeichnen zu bestellen.
“Das Ziel ist allerdings nicht, dass jeder ein Gratis-Tattoo bekommt. Wir bilden auch keine Tätowierer aus. Wir bieten nur die Möglichkeit, mit sterilem Material in sauberer Umgebung zu tätowieren.” Im Prinzip funktioniere das Inmates Tattoo Studio genau wie der Spritzentausch für Heroinabhängige. Drogenkonsum und Tätowieren finden so oder so statt – Entkriminalisieren minimiert einfach nur den Schaden. “Wenn wir Spritzen und Kondome verteilen, müssen wir auch Tätowiernadeln ausgeben”, sagt Conrath.
“Wenn sich auch nur einer infiziert, stehe ich dumm da.”
Im Februar 2017 wurden die ersten Inhaftierten von Conrath in Hygiene beim Tätowieren geschult. Welche Krankheiten können beim Tätowieren übertragen werden? Wie hält man den Arbeitsplatz steril? Und welche Creme benutzt man zur Pflege? Conrath sagt, er wisse gar nicht, wie hoch der Standard in Studios außerhalb der Gefängnismauern sei.
“Da Insassen aber häufiger krank sind als der Durchschnitt der Bevölkerung, besteht ein erhöhtes Infektionsrisiko, das wir reduzieren, wo es nur geht.” Dazu gehört auch, dass im Inmates Tattoo Studio die komplette Maschine samt Kabel in Plastik gehüllt wird. Und wenn die Gefangenen fertig sind und geputzt haben, putzt Conrath nochmal hinterher. “Wenn sich auch nur einer infiziert, stehe ich dumm da.”
Durchschnittlich haben laut Conrath zwischen 17 und 19 Prozent der Gefangenen eine Hepatitis – wobei die Anstalt nicht weiß, wie viele der Gefangenen sich in Haft infiziert haben. Auch lasse sich nicht sagen, ob das Projekt die Zahl bis heute senken konnte, weil Gefangene vor ihrer Entlassung nicht erneut getestet werden, sondern nur am Anfang der Inhaftierung. Die Zahlen spielen für Conrath aber nur eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist, Schäden zu minimieren, wo es eben möglich ist.
Oft wollten die Gefangenen die Namen ihrer Kinder oder Frauen unter der Haut tragen
Im April 2017 wurde Inmates Tattoo auf der Krankenstation der JVA eröffnet. Anfangs war die Anfrage bei Conrath so groß, dass das Gefängnis nicht zügig genug Termine genehmigen konnte. Schnell wurde das Projekt auf jene Insassen beschränkt, die im selben Trakt einsitzen, die sich also auch illegal tätowieren könnten, sagt Conrath. Bis Ende 2018 gab es insgesamt 235 Termine, wobei 19 Tätowierer gut 140 Insassen tätowierten.
Oft wollten die Gefangenen die Namen ihrer Kinder oder Frauen unter der Haut tragen. Und wer seine Frau umgebracht hat, will natürlich das Cover-up ihres Namens, sagt Conrath. Dabei sind alle Körperteile erlaubt, bis hin zum Kopf und der berühmten Knastträne im Gesicht. Warum auch nicht? “Das machen die doch so oder so.” Einzig xenophobe Tattoos wie Hakenkreuze verbiete die JVA.
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Die Talente der Knast-Tätowierer seien sehr unterschiedlich: Manche seien fast so gut wie Profis, andere würden passable Knast-Tattoos stechen, sagt Conrath. “Ein paar Kandidaten sind nicht gut, aber die Insassen sind zufrieden.” Manchmal frage sich Mike Conrath schon, ob der vermeintliche Tätowierer das Motiv überhaupt umsetzen könne. “Dann hake ich nach, ob derjenige überhaupt schon mal tätowiert hat.”
Manche Insassen kämen kurz vor der Entlassung, um Geld zu sparen. In der Regel bezahlen die Inhaftierten nämlich mit Tabakpackungen. Oder mit Nudeln. Das sei für einige erschwinglicher als ein Tattoo in Freiheit. Trotzdem mahnt Conrath dann: “Geh’ doch zu einem Profi.”
Warum gibt es Inmates Tattoo eigentlich nicht in anderen Ländern? In Deutschland? Luxemburg habe eben das Geld und die Möglichkeiten, sagt Conrath. Schrassig ist die einzige JVA des kleinen Landes, in Deutschland gibt es viel mehr Gefängnisse mit viel mehr Insassen. Da würde das Budget wohl nicht reichen, glaubt er.
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