Quarantäne

Wie es ist, wenn ein ganzes Dorf unter Quarantäne steht

In Neustadt am Rennsteig wurden 10 der etwa 900 Einwohner positiv auf das Coronavirus getestet. Niemand darf mehr raus und die Postbotin kommt in Ganzkörperanzug.
Der Ortseingang von Neustadt am Rennsteig

9 Uhr am wahrscheinlich langweiligsten Ort Deutschlands, Ende der ersten Total-Quarantäne-Woche. Ein Schleier aus Trübsal, Resignation und Melancholie liegt über dem Dorf, wie man dank dieser Webcam ganz deutlich erkennen kann.

Anne, 31, trinkt einen Bananen-Hafer-Shake. Fabian, 19, Maschinenbaustudent, putzt sich die Zähne. Frau Geyer, 57, hat bereits einen Cappuccino getrunken, ihre Tochter angerufen und studiert jetzt die Tageslosung. Erster Brief des Johannes, Kapitel 3: "Gott ist größer als unser Herz und erkennt alle Dinge".

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An den meisten Orten in Deutschland gibt es derzeit noch ein Fünkchen Freiheit: In Dortmund darf man noch Freunde treffen, in Berlin immerhin zum Buchladen gehen, in Bremen sogar auf eine Demo.

Nicht so in Neustadt am Rennsteig. Das Thüringer Dorf steht für zwei Wochen komplett unter Quarantäne, seit mindestens zehn der etwa 900 Einwohner positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Heute sind es 21.

Es ist nicht so, dass Normal-Neustadt als einer der versteckten Party-Hotspots Thüringens gilt. Das Dorf besteht aus einem Kreisverkehr, drei Hauptstraßen und einer Nebenstraße. Ein Historikerverein empfiehlt das Weltkriegs-Denkmal "in Form einer zylindrischen Rolle". Doch Quarantäne-Neustadt ist wirklich sehr sehr ruhig.


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Alles begann Sonntagnacht, mit einer hollywoodreifen Polizeidurchsage. "Brrrzzzzz…Erstens, sie haben sich unverzüglich in die häusliche Quarantäne zu begeben…brtzl….Siebtens, alle Personen sind verpflichtet, den direkten Kontakt mit anderen Personen zu vermeiden."

Jetzt steht am Ortseingang die Feuerwehr. Nur für lebensnotwendige Einkäufe darf man noch vor die Tür. Die Postbotin trägt im Ganzkörperanzug die Briefe aus, die Feuerwehr die Medikamente. 13 Kinder des Kinderheims dürfen nicht mehr draußen spielen.

Eine Person aus Neustadt ist bereits an dem Virus gestorben.

Neustadt ist, wenn 900 Menschen gleichzeitig "Der Boden ist Lava" spielen. Eine Mischung aus Bird Box, The Handmaid’s Tale und diesem alten Gefängnis in der dritten Staffel von The Walking Dead.

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Klar: Der Lockdown hilft, Leben zu retten, die Kurve abzuflachen. Und eine Person aus Neustadt ist bereits an dem Virus gestorben.

Aber wie zur Hölle lebt man an einem Ort, der komplett abgeriegelt ist? Was können wir von Neustadt am Rennsteig lernen?

Ein Feuerwehrauto am Ortseingang von Neustadt am Rennsteig

Die Feuerwehr am Neustädter Ortseingang | Foto: Anne

VICE hat sich in Neustadt umgehört. Vom sicheren Homeoffice-Sofa aus.

Am Freitag, dem fünften Quarantäne-Tag, morgens nach dem Bad legt sich Fabian wieder ins Bett, um sich ein "bisschen auszuruhen". Fabian greift nach seinem Handy, düdeldüdüü, Simcity-Musik. Level? "29, denk ich", sagt Fabian.

Und dann? "Bisschen rumgelumpert", sagt Fabian. Nie gehört. Ist das Thüringer Mundart? Lumper in der Paläanthropologie gehen davon aus, dass die Unterschiede zwischen den zu klassifizierenden Entitäten nicht so groß und nicht so bedeutsam sind wie die Gemeinsamkeiten. Poetisch, aber in diesem Kontext vermutlich falsch.

Nach dem Lumpern spielt Fabian auf dem Tablet weiter, die Simpsons. Er unterhält sich mit seiner Freundin und macht den Fernseher an, Pro Sieben oder Sat 1.

Es ist nach zehn. Eine Stunde geschafft. Dreiundzwanzig bleiben.

Etwa zur selben Zeit setzt Anne, 31, Einzelhandelskauffrau und zugezogen, Brühe fürs Mittagessen auf: Nudelsuppe mit extra vielen Gehacktes-Klößchen.

"Hallo", begrüßt Anne mich am Telefon. Gesegnet sei die Frucht, denke ich, sage aber lieber auch: "Hallo."

Anne geht normalerweise dreimal die Woche ins Fitnessstudio, jeden Tag laufen und wenn das nicht reicht, macht sie Übungen zu Hause. Nicht besonders quarantäne-kompatibel. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Bizeps.

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Frau Geyer hingegen arbeitet im Bibelheim von Neustadt. Eigentlich würde sie jetzt eine Familienfreizeit der Gemeinde Floh-Seligenthal betreuen. Die Grillhütte vorbereiten oder kochen. Stattdessen musste sie kiloweise Käse einfrieren, das Obst einkochen, die Milchkartons sind haltbar bis Juli. Ein Glück.

Im Neustädter nahkauf gibt es keine Maispoularde und sowieso, sie wäre nicht lebensnotwendig.

Pünktlich um dreiviertel Zwölf gibt es Mittag bei Fabian. Normalerweise bestellt er bei einem Zutaten-Lieferservice und kocht für die ganze Familie, etwa das "Meisterstück" zitronige Maispoularde. Aber Lieferungen sind eingeschränkt, im Neustädter nahkauf gibt es keine Maispoularde und sowieso, sie wäre nicht lebensnotwendig.

Am Anfang der Woche, als die Quarantäne noch neu war, sind Menschen durchs Unterholz im Wald aus Neustadt getürmt. Angeblich nur, sagt Fabian, um im Nachbarort Großbreitenbach im Rewe einzukaufen. Dabei gehört nahkauf zur Rewe-Gruppe und hat das gleiche Sortiment. Fabian sagt: "Man verhungert nicht, man verdurstet nicht, es geht einem eigentlich gut."

Eine junge Frau auf einer Schaukel

Fitness-Fan Anne | Foto: Anne

13 Uhr.

Nach dem Mittagessen machen Anne, ihr Mann und ihr Mitbewohner Gymnastik in der Einfahrt. Es gibt nur ein Seil und und einen Hula-Hoop-Reifen, deswegen geben sie beides herum. Hüftenschwingen, Hüpfen, Hüftenschwingen, Hüpfen. "Dazu ein bisschen im Kreis laufen, ums Auto herum, Hauptsache man ist an der frischen Luft."

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Gegen 14 Uhr würde sich Fabian normalerweise in "Polinomdivision mit Schnickschnack" vertiefen, fortgeschrittene Mathematik. Doch eine Woche Quarantäne hat Maschinenbauer Fabian zum Trickfilm-Connaisseur gemacht. Vaiana ist für Anfänger. Fabian empfiehlt Disney-Kurzfilme. "Wenn man viele guckt, vergeht die Zeit auch", erklärt Fabian. Er empfiehlt das Frozen-Prequel Fever: "Einfach klasse. Anna hat Geburtstag, aber Elsa ist erkältet, dann geht es bergab. Am Ende aber ist es der schönste Geburtstag, den sie je hatte." Außerdem weiß Fabian endlich, wer der Plüsch-Schneemann ist, den er letztes Jahr beim Buttelstedter Vogelschießen gewonnen hat.

Ein junger Typ auf seinem Sofa

Die Sonne scheint, Frau Geyer fegt die Wiese. Viele Nachbarn in den anderen Vorgärten nutzen die Zeit genau wie sie; Zaun einschlagen, Laub sammeln. Ein bisschen frische Luft, aber nicht weiter als bis ans Gartentor. "Man darf ja nicht in den Wald, wo es auch frischen Sauerstoff hätte."

Manchmal ruft sie ihrer Schwiegermutter im anderen Stockwerk zu, ob alles in Ordnung sei. Sie sagt eigentlich immer Ja. Nebenbei wartet Frau Geyer auf "Informationen vom Herrn Macheleit", dem Ortsbürgermeister. Der musste in der Zeit gerade klarstellen: "Wir haben nicht die Pest".

Die Ilka Bessin, das ist die Cindy aus Marzahn, die hat sich ganz schön durchgetanzt.

19 Uhr. Als der Tag fast vorbei ist, hat Anne vier Stunden mit einer Cousine telefoniert, das Essen für die kommende Woche geplant, zu einem Video von Fitness-Guru Jillian Michaels trainiert. Die Fotos vom Training und der Gehacktesklößchen-Suppe auf Instagram gestellt. Auf ihrer To-Do-Liste steht noch, wie jeden Abend, eine Stunde Skype mit der Neun-Mann-Urlaubsgruppe, mit der sie gerade auf Gran Canaria war.

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Frau Geyer schaut Let’s Dance. Die Ilka Bessin, das ist die Cindy aus Marzahn, die hat sich ganz schön durchgetanzt. In den Werbepausen häkelt sie. Weil sie an den Quarantäne-Tagen einfach nicht müde wird, liest sie danach noch: Hungerstoffwechsel von Jasper Caven. "Ich weiß aber noch nicht, ob ich das empfehle, ich bin noch am Anfang"

Fabian zockt mit seinen Freunden auf Twitch. Manchmal überlegt Fabian, dass er, wenn er einen Hund hätte, noch vor die Tür dürfte. Aber dafür ist es zu spät. Man kann keine Hunde mehr kaufen in Neustadt am Rennsteig. Es gibt nur noch den nahkauf.

"OK. Danke, dass ich dich anrufen durfte", sage ich zu Fabian.

"Ich habe zu danken", sagt Fabian und lacht. "Danke, dass ich angerufen werden durfte."

Mittlerweile scheint Neustadt die Ansteckungskette unterbrochen zu haben. Die Zahl der Infizierten stagniert. Kommenden Montag dürfte das Dorf die Krise überstanden haben und wieder zur Normalität zurückkehren, heißt es. Ab Donnerstagmittag 2.4. sind das noch: 84 Stunden.

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