Rapper Hendrik Bolz in schwarzem T-Shirt mit den Händen in den Hosentaschen. Mit Vice hat er über seine Jugend in Stralsund, Nazis, Gangsta-Rap und das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland gesprochen
Foto: Greta Baumann
Popkultur

"Das waren Glücksgefühle, wenn ich jemanden verprügelt hatte"

Der Autor Hendrik Bolz alias Testo von Zugezogen Maskulin über die Brutalität in seiner ostdeutschen Jugendzeit, Mitläufertum und Scham.

Hendrik Bolz, als Rapper bekannt unter dem Künstlernamen Testo und als eine Hälfte des Hip-Hop-Duos Zugezogen Maskulin, wuchs in Stralsund auf zwischen Plattenbauten, Neonazis und Gangsta-Rap

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Diese Zeit hat Bolz, Jahrgang 88, jetzt in seinem Buch Nullerjahre – Eine Jugend in blühenden Landschaften verarbeitet. Es geht um eine ostdeutsche Jugend, zehn Jahre nach der Wende, um Langeweile, Drogen und psychische Probleme. Und um einen Staat, der die Menschen im Stich lässt.

Wir haben mit ihm darüber gesprochen.


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VICE: Du hast das Buch während der Pandemie geschrieben, wie war das für dich?
Hendrik Bolz:
Von außen wurden die Reize immer weiter runtergefahren, also konnte ich mich ganz auf meine Gefühle konzentrieren. Weil Berlin seine Lebendigkeit verlor, bin ich wieder richtig in diese Welt eingetaucht. 

Die Trostlosigkeit im Lockdown hat dich in die Welt zurückgeworfen.
Auch das. Klar, es gab ja nichts, was mich ablenken konnte. Ein bisschen war das wie damals in den Nullerjahren in Stralsund, wo ja auch wenig passiert ist. Außerdem ähnelte sich dieses Krisengefühl damals und heute. Den Leuten geht es nicht gut, sie spüren, dass das keine normale Zeit ist. Sie fragen sich, was da gerade passiert, wo das jetzt alles hingeht. 

In deinem Buch geht es um gemeine Jugendliche, um brutalen Gangsta-Rap und Drogen. Das sind alles Sachen, die ich aus meiner westdeutschen Jugend auch kenne. Wo ist also der Unterschied zwischen der west- und der ostdeutschen Erfahrung der Nullerjahre?
Man kam gerade aus 40 Jahren roter Diktatur. Da kamen Jugendliche eher nicht auf die Idee, zu sagen, dass sie links sein wollen. Nur, dass das Gegenangebot, der Kapitalismus des Westens, der ja als Hoffnungsprojekt verkauft worden war, auch scheiße aussah. Rechte Strukturen konnten daran gut andocken und so ein Momentum entwickeln, dass selbst in meine Generation noch hineingestrahlt hat.

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Was war das Problem mit diesem Hoffnungsprojekt Kapitalismus?
Alles wurde plattgemacht. Arbeitslosigkeit, Geburtenknick, alle zogen weg und auf den Straßen herrschten in den Neunzigern und teilweise in den Nullerjahren noch diese unorganisierten Zustände. Die DDR war weg und die BRD noch nicht richtig da. Die Polizei war heillos überfordert, weswegen weithin das Recht des Stärkeren galt. Und des Gemeineren.

Und diese Stärkeren waren die Neonazis.
In meiner Kindheit in einem Plattenbauviertel der Neunziger waren die großen Jungs, zu denen man fast zwangsläufig aufblickte, Neonazis. Da war es normal, dass die in Bomberjacken und Springerstiefeln rumliefen, auf dem Spielplatz Hitlergrüße machten und soffen.

Dein Buch handelt ja nun von den Nullerjahren. Was hatte sich da verändert?
In den Neunzigern gab es noch Hoffnung. Und die Zeit war politisch aufgeladen, Rechte und Linke kämpften im Osten auf der Straße, es war eine Zeit des Umbruchs. In den Nullerjahren war das alles weg. Die Arbeitslosenzahlen stiegen immer weiter, die Leute waren politikmüde, tief enttäuscht und haben den Politikern nicht mehr vertraut – wenn jemand forderte, alle davon an die Wand zu stellen, hat niemand widersprochen. 

Was hieß das für euch Jugendliche?
Auch für uns war Politik uncool. Rechts und links war ein nerviges Neunzigerjahre-Thema, ich konnte auch die Parteien nicht auseinanderhalten. Alles, was intellektuell wirkte, haben wir als "schwul" abgetan. Wir wollten nur hart und cool sein, wie wir es in unserer Kindheit gelernt hatten.

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Wie hattet ihr das gelernt?
In unserer Erziehung spielten die Diktatur-Erfahrungen noch eine große Rolle. Schon im Kindergarten wurde uns beigebracht, dass man kein Verräter sein soll. Wenn dir einer weh tat und du bist zu einem Erwachsenen gegangen, um Hilfe zu bekommen, wurdest du dafür sanktioniert, dass du gepetzt hast. Dann warst du schlimmer als der Täter selbst. Wir sollten solche Probleme selber regeln, außerdem keine Schwäche zulassen, nicht heulen, keinen Schiss haben.

Also wurdest du zum Gewalttäter?
Seit ich denken kann, war die Gewalt in meinem Leben. Wir hackten permanent aufeinander rum und wenn es nunmal keinen gibt, der interveniert, bleibt nur noch die Entscheidung, ob man Opfer oder Täter sein will. Der Stärkere und Skrupellosere bekam recht, das gleiche wurde in den Neunzigern ja auch auf der Straße etabliert. So hatte ich es gelernt.

Und niemand wollte dich davon abbringen?
Es gab Lehrer, die mir beibringen wollten, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Wenn ich wütend würde, sollte ich die Hände in die Taschen stecken und bis zehn zählen und so. Aber das waren für mich schon bald Märchen, die nichts mit meiner Realität zu tun hatten. "Gewalt ist keine Lösung" war eine Verarschung, die auf dem Kinderkanal lief. Ich wollte einfach nicht das Opfer sein. Deshalb wurde ich Täter. 

Wie hast du dich als solcher gefühlt?
Das waren Glücksgefühle, wenn ich jemanden verprügelt hatte. Gerade in dieser gewaltdurchsetzten und furchteinflößenden Welt, ist es das Größte, mal jemand zu sein, der Angst macht, statt sie zu haben. Diese Überwindung der Ohnmacht ist fast schon ein orgasmisches Gefühl.

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Wenn du einem potenziellen Rivalen auf der Straße begegnet bist, hast du den Glanz aus deinen Augen genommen, um ihn einzuschüchtern – so schreibst du es in deinem Buch. Wie geht das: den Glanz aus den Augen nehmen?
Du musst einfach die Lieder ein bisschen hängen lassen. Das siehst du auch manchmal bei Rappern, wenn die einen coolen Blick für ein Foto machen wollen. Man will unbeteiligt aussehen, stumpf, fast müde. 

Müde?
Ich will dem anderen das Gefühl geben, dass er es nicht wert ist, dass ich in seiner Gegenwart wach bin. Manchmal habe ich dann sogar gegähnt. Ich habe keine Angst vor dir, ich werde sogar müde, wenn du mir entgegenkommst. 

Hast du Schuldgefühle, wenn du an deine Opfer denkst?
Ganz klar.

Hast du das Gefühl, dass du dich mit dem Buch auch auf ihre Kosten profilierst?
Nur wenn man die Perspektive der Täter kennt, kann man etwas an den Strukturen verändern, die Täter hervorbringen. Warum sind es vor allem junge Männer, die in der Kriminalität landen, in irgendwelchen Kameradschaften oder Terroristengruppen? Wenn ich es schaffe, potenzielle Täter durch mein Buch vor den Fehlern zu bewahren, die ich gemacht habe, werden weniger Jungs zu Tätern. Und dann gibt es auch weniger Opfer. 

Schämst du dich dafür?
Ich habe eine Distanz zur Hauptfigur. Der Hendrik heute ist nicht mehr der von damals. Nur deshalb kann ich das auch so ehrlich beschreiben. 

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Ein wiederkehrendes Motiv in deinem Buch ist das Rotzen. Ständig steht ihr rum und hinterlasst Pfützen von Spucke. Warum war dir das so wichtig?
Ein cooler Junge musste erstmal lernen, sich draußen zu bewegen. Er musste richtig rotzen, richtig rülpsen, furzen und die ganzen Schimpfworte beherrschen. So ein vulgär-proletarischer Habitus wurde überhöht. Es ging auch um Abgrenzung zu anderen Milieus, in denen das alles total verpönt war und die wir natürlich "schwul" fanden.

Rotzen als Distinktion.
Gleichzeitig hat das Rotzen natürlich auch so was Abfälliges, so was Demütigendes. Wenn ich einen Typen verkloppe, würge ich mir hinterher noch die Rotze aus der Lunge und haue ihm den Glibber auf den Fahrradsattel. Ich spucke auf dich und ich spucke sowieso auf alle. Und am Ende war es auch ein Ausdruck der Langeweile. Wir saßen halt auf der Parkbank rum und haben gespuckt. 

Trotz der Gewalt und der Idee, dass der Stärkere Recht hat, bist du kein Neonazi geworden, warum?
Als ich jugendlich war, waren die Nazis weitgehend uncool geworden. Der Westen hatte ja auch Viva und MTV gebracht, diesen Wunsch nach Individualität. Das war mit den Nazis inkompatibel, die tauchten da nur noch als Feindbilder auf.

Die engen Hosen, Springerstiefel, Hosenträger und Hemden, die man in die Hose steckte, waren für uns keine Option mehr. Wir trugen weite Klamotten, hörten Rap. Da konnte man sich allerdings dann später auch wieder auf die Bomberjacken einigen. Und auf den Chauvinismus und die faschistischen Tendenzen.

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Was meinst du damit?
Das Vokabular und die Werte, die uns von der Vorgängergeneration vorgelebt wurden, konnte man fast alle auch im Gangsta-Rap wiederfinden, Sido und Bushido und so weiter. Ich war voll auf diesem Sozialdarwinismus-Film. Ein cooler Typ ist gewalttätig und Schwäche ist scheiße. Heulen ist kacke, Angst haben ist kacke und Opfer ist ein Schimpfwort. Insofern war ich selbst durchfaschisiert. Nur die harte Ausländerfeindlichkeit war hier verschwunden, Multikulti erfuhr im Gegenteil sogar eine Aufwertung.

Hat der Westen, die Popkultur, der Individualismus und letztlich der Gangstar-Rap den Osten dann sozusagen vor den Neonazis gerettet?
Klar, wenn der größte Popstar und Identifikationsfigur ein Halbtunesier ist, dann nimmt das den rechten Strukturen und Erklärungsangeboten ganz schön die Kraft. Ein Grundrauschen ist aber geblieben.

In deinem Buch finden Erwachsene als potenzielle Identifikationsfiguren fast gar nicht statt. Woran liegt das?
Weil Eltern in der Welt nicht stattgefunden haben. Die Erwachsenen waren damit beschäftigt, sich jetzt in diesem neuen System zurechtzufinden, nicht unterzugehen, da reichte ja schon ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen. Und von unserer Seite aus war es auch verpönt. Ein cooler Typ hat eigentlich keine Eltern, die sich irgendwie um ihn kümmern. Das war total peinlich. Außerdem erzog ja in der DDR der Staat die Kinder. Da konnten die Kinder ja gar nicht schnell genug an die Institutionen übergeben werden. 

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Aber du bist ja nun nicht mehr in der DDR aufgewachsen. 
Aber die war nicht mit einem Fingerschnippen weg. Die Ideale hallten noch nach. Wie wird man ein guter Sozialist? Wie bewegt man sich im Kollektiv? Kinder, die zu lange bei ihren Eltern bleiben, verweichlichen. Das musste ja alles erst umgelernt werden. Gleichaltrige Ostdeutsche und ich sind eben in eine Ausnahmesituation hineingeworfen worden.

Wie meinst du das?
Wir wurden in eine Zeit geboren, in der alles am Rutschen war und alle eigentlich mit sich selbst beschäftigt waren, in ein Durcheinander, einen Systemumbruch. Der Geburtenknick zum Beispiel kam ja auch daher, dass die Menschen intuitiv gemerkt haben, dass das eigentlich gerade keine Zeit für Kinder ist. 

Irgendwann ging es nicht mehr, da bist du ausgestiegen, später nach Berlin gezogen. Was war deine Rettung?
Ich war ja gar nie der Härteste oder der Skrupelloseste, immer nur Mitläufer und habe es irgendwann einfach nicht mehr geschafft, meine Gefühle abzuspalten. Ich musste immer mehr Kraft aufwenden, um sie zu unterdrücken, die Angst und Schwäche und Trauer. Irgendwann habe ich jede Menge Drogen zu Hilfe genommen und bald hat auch das nicht mehr geholfen, dann kamen Panikattacken und Depressionen. Die Auseinandersetzung damit, wo die herkommen, auch später in der Therapie, hat mich auf einen anderen Weg geführt.

Warum meinst du, wird dein Buch heute von Ost- und Westdeutschen gleichermaßen gefeiert?
Wir sind heute an einem Punkt in der Debatte, in der wir über diese Dinge sprechen können. Früher hätte man sie weggewischt: Ach, Nazis gibt es doch im Westen auch. Oder andersherum: Ihr Ossis mit euren Nazis, das ist doch Dunkeldeutschland. Meine Generation heute weiß, nein, das ist kein ostdeutsches Problem. Es gibt Le Pen in Frankreich, Trump in den USA, da gab es vorher keinen Sozialismus. Kassel ist keine ostdeutsche Stadt und Hanau auch nicht. Das ist ein gesamtdeutsches Problem

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