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Markus wurde fast totgeschlagen – und das hat ihn stärker gemacht

Markus Reuss mit einem Schatten im Gesicht. Markus Reuss wurde 2016 bei einem Angriff schwer verletzt und hat danach sein Leben verändert

Nicht jeder kann einen Moment im Leben nennen, der alles verändert hat. BMX-Profi Markus Reuss muss dafür nicht lange überlegen. 2016 in Wuppertal. Nach einer durchfeierten Nacht geht er aus einer Tankstelle auf den Vorplatz und beißt in ein Brötchen. Plötzlich – wumm, Schwärze – ist nichts mehr, wie es war.

Im Krankenwagen kommt Markus schwer verletzt wieder zu sich. Er wurde grundlos und brutal zusammengeschlagen. Doch er überlebt und beschließt, sein Leben zu ändern. Der Regisseur Florian Felix Koch erzählt die Geschichte des heute 27-jährigen Markus im Kurzfilm Phoenix, der gerade auf den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen online Premiere feierte.

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Darin geht es nicht nur um den Umgang mit Hass und Rache, sondern auch um seine deutsch-togolesische Familie und die Frage, wie sich Gewaltspiralen durchbrechen lassen. Wir haben mit Markus über diese Nacht gesprochen und über das, was er daraus gelernt hat.

VICE: Hi Markus, vor vier Jahren wurdest du an einer Tankstelle in Wuppertal angegriffen. Was ist damals passiert?
Markus Reuss: Ich erinnere mich noch, dass ich nach dem Feiern um 5 Uhr morgens besoffen ein Brötchen an dieser Tanke gekauft habe. Alles danach weiß ich nur von Zeugen. An der Tankstelle stritten sich zwei Gruppen, vielleicht 20 Leute. Ein Typ sah mich wohl, rannte von hinten auf mich zu und schlug mir aus vollem Lauf seine Faust seitlich ins Gesicht. Ich ging in die Knie. Ein Freund warf den Angreifer um, aber dann stürzten sich sechs bis acht andere auf ihn. Sie knockten ihn aus und traten auf meinen Kopf ein.

Markus Reuss malt
Seit dem Angriff verwendet Markus viel mehr Zeit auf die Malerei

Du wurdest also wahllos zum Ziel?
Es war eine fremde Gruppe von zugedröhnten Jugendlichen, die Lust hatten, jemanden zu schlagen. Vor einer Woche habe ich erfahren, dass dieses Jahr die Gerichtsverhandlung stattfinden wird. Es gibt wohl 35 Anklagepunkte gegen diese Gruppe.

Was ist das Erste, an das du dich wieder erinnerst?
Mein Spiegelbild. Der Sanitäter hielt mir im Krankenwagen einen Spiegel vors Gesicht. Ich erkannte mich nicht mehr. Beide Kiefer waren gebrochen, der untere noch dazu ausgekugelt. Wegen der Schwellung hatte ich ein Doppelkinn wie ein 200-Kilo-Mann. Auf meiner rechten Gesichtshälfte waren Sohlenabdrücke. Die linke Gesichtshälfte, die auf dem Boden lag, war komplett eingebrochen. Dreifacher Jochbeinbruch. Auf dem rechten Auge konnte ich nichts mehr sehen. Es war zugeschwollen. Darüber lag ein Aneurysma, eine geplatzte Ader. Man konnte die Pupille nicht mehr erkennen. Alles war rot. Erst nach eineinhalb Wochen kam mein Augenlicht zurück. Zwei, drei Tritte mehr, dann wäre es zu Ende gewesen.

Bist du danach in Selbstmitleid versunken?
Für Selbstmitleid war gar kein Platz. Ich war voller Hass. Und ich war enttäuscht von mir selbst. Ich dachte eigentlich, dass ich mich wehren kann. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir so etwas passiert. Heute weiß ich natürlich, dass ich nichts hätte machen können.


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Bist du deinem Hass nachgegangen?
Ich hatte die Möglichkeit. Nach der Tat haben sich über 50 Leute bei mir gemeldet – auch ältere, vor denen diese Jungs Respekt haben. Sie haben angeboten, sich “darum zu kümmern”, aber das wollte ich nicht. Nach eineinhalb Wochen im Krankenhaus war ich wieder zu Hause und habe überlegt, diese Jungs einzuladen – aber nur, um mit ihnen zu reden. Ich hatte keine Angst vor ihnen. Ich wollte ihnen mein geschwollenes Gesicht zeigen, wie es mir geht, wie sich meine Mutter gefühlt hat. Ich glaube, dass sie wussten, was sie falsch gemacht haben, auch wenn so etwas trotzdem nicht passieren darf. Leider riet mir dann ein Freund davon ab.

“Ich glaube, dass man einen Rückschlag nie als einen solchen sehen sollte, sondern als Lektion, aus der heraus man wächst.”

Warum hast du dich entschieden, dich nicht zu rächen?
Ich habe einfach einen Punkt gemacht. Es war eine bewusste Entscheidung, diese Leute nicht mehr zu hassen. Das bringt dich nicht weiter. Meine Mutter hat mir als Kind wohl zu oft das Beispiel von Jesus aufgedrückt, der sagt, du sollst dem Angreifer auch noch die zweite Wange hinhalten. Versteh mich nicht falsch: Wenn ich mich wehren kann, wehre ich mich auch. Aber weil ich das hier nicht konnte und danach gezwungen war nachzudenken, ist es anders passiert. Heute würde ich das immer so machen. Reflektieren ist am Ende das Wichtigste.

Wie sollte man sich verhalten, wenn Freunde oder Familie angegriffen werden?
Man sollte sich nicht in Rachegedanken versteigen. Man sollte einfach da sein. So wie mein Bruder und meine Freunde. Es ist schwer für einen Bruder, so etwas mitzukriegen. Aber ohne ihn hätte ich das vielleicht nicht einfach mit mir selbst ausmachen können.

Du sagtest vorhin, dass du immer geglaubt hast, dich wehren zu können. Wie fühlt es sich an, wenn das eigene Selbstbild so brutal zerstört wird?
Es hat dazu geführt, meine Lebenseinstellung komplett zu überdenken. Wenn ich in dieser Nacht gestorben wäre, hätte ich keinerlei Einfluss darauf nehmen können: Ich wäre aus einer Tankstelle getreten und es wäre vorbei gewesen. Ich wusste jetzt: Ich kann mein Ende nicht kontrollieren. Also habe ich beschlossen, nur noch das zu machen, was ich liebe. Sonst würde ich nur meine Zeit verschwenden.

Hast du nach dem Angriff Dinge gemacht, die du davor nicht getan hättest?
Ja, ziemlich viele. Ich habe angefangen zu tätowieren und einen Tattoo-Shop eröffnet. Vor dem Vorfall hatte ich damit gezögert. Meine Mutter findet Tätowieren nicht gut und ich konnte es mir auch nicht wirklich als Hauptberuf vorstellen. Aber dieser Vorfall hat mir klar gemacht, dass ich mein Leben leben muss. Deswegen nehme ich mir heute mehr Zeit für Kunst, fürs BMX-Fahren und ich habe Gitarrespielen gelernt. Jetzt habe ich keine Ausreden mehr. Ach ja – und ich habe geheiratet.

Markus Reuss fährt BMX

Wohin gehen deine Gedanken heute nach einem Rückschlag als erstes?
Ich glaube, dass man einen Rückschlag nie als einen solchen sehen sollte, sondern als Lektion, aus der heraus man wächst.

In Phoenix, dem Film, der deine Geschichte um den Vorfall erzählt, wird nie ganz klar, ob der Angriff rassistisch motiviert war. War er das?
Mein Leben war als Sohn einer Togolesin und eines Deutschen schon immer von Rassismus geprägt, aber wir haben es im Film bewusst offen gelassen. In gewisser Weise hatte der Angriff auch mit Rassismus zu tun. Aber auf eine versteckte Art. Nicht, weil der einzige Deutsche aus der Gruppe als erster zuschlug. Sondern weil er, wie ich später gehört habe, in dieser Gruppe aus Leuten mit türkischen, afrikanischen und spanischen Wurzeln der Punchingball war. Vielleicht wollte er sich nur profilieren, wollte auch wie die anderen sein. Deshalb haben sie sich über ihn lustig gemacht. Ich denke mir: Sei doch einfach du selbst. Vielleicht hacken sie dann nicht mehr auf dir rum und du musst keinem Fremden ins Gesicht schlagen.

Was würdest du den Tätern heute sagen?
Wenn sie sich respektvoll entschuldigen würden, würde ich ihnen vergeben. Ich glaube, das würde diesen Menschen eher die Augen öffnen als eine Bestrafung. Weil sie sich dadurch Fragen stellen, anstatt sich nur über die Bestrafung abzufucken. Wenn dir etwas vergeben wird, das du selbst niemals einem anderen vergeben würdest, beginnst du, dir Gedanken zu machen. Martin Luther King hat mal gesagt: “Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben. Nur Licht kann das.” Ich bin selbst manchmal ein impulsiver Mensch. Aber man muss trotzdem versuchen, das Richtige zu tun, und über seine Handlungen nachdenken.

Der Film ‘Phoenix’ ist eine Zusammenarbeit des Kollektivs Groundcatched und online frei verfügbar. Aufgrund der aktuellen Situation in den USA, dem Mord an George Floyd und der Polizeigewalt hat sich der Regisseur Florian Felix Koch entschieden, den Film früher als geplant zu veröffentlichen, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Du kannst ihn dir hier ansehen:

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