Maschinenpistolen, Taschenkontrollen und "Racial Profiling": Die Nacht am Kölner Hauptbahnhof
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silvester

Maschinenpistolen, Taschenkontrollen und "Racial Profiling": Die Nacht am Kölner Hauptbahnhof

Nach dem letzten Jahreswechsel stand "Köln" für Fehler: die Fehler der Politik, die Fehler der Polizei, die Fehler der Medien. Dieses Jahr sollte alles anders werden.

Bier, Bierfahnen und Fritteuse. So riecht Silvester in den Stunden vor Mitternacht im wärmeren Teil des Kölner Hauptbahnhofs. Betrunkene torkeln, junge Frauen gießen sich ihr Sektchen in Plastikflöten, andere beißen in ihren Döner und gerade volljährig gewordene Jungs proben zur Technomusik aus der Hosentasche den breitbeinigen Watschelenten-Gang. Pfandsammler sammeln, Verkäufer rödeln. Passanten zerren ihre Koffer hinter sich her, schleppen eingeschweißte Raketen oder tragen ihre in Frischhaltefolie gewickelten Trauben-Käse-Spießchen mit sich herum.

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Köln, 31. Dezember 2016. Es riecht wie eine gewöhnliche Silvesternacht und klingt wie eine gewöhnliche Silvesternacht, es sieht auch aus wie eine gewöhnliche Silvesternacht—solange man die Hunderten Uniformierten ignoriert. Und den Bahnhof nicht verlässt.

"Hier sind ja mehr Polizei und Journalisten als Touris!", ruft ein junger Mann auf dem Bahnhofsvorplatz. "Alter!", ruft ein anderer seinen Freunden zu, "Habt ihr die gesehen? MGs am Start!" Maschinenpistolen gehören heute Abend genauso zum Stadtbild wie Betrunkene. Aus all den Schlagstöcken rund um den Bahnhof könnte man ein Baumhaus bauen. Oder zwei. Und nicht nur die Polizei ist zahlreich erschienen, auch die Presse drängt auf den Platz. Sie schwärmen aus, bauen ihre Kameras vor dem Bahnhof auf, befragen Passanten. Niemand will sich vorwerfen lassen, man hätte aus Fehlern nichts gelernt. Die Stadt will dieses Mal vorbereitet sein. Die Medien wollen sich nicht sagen lassen müssen, sie hätten zu spät reagiert. Niemand will, dass sich die Geschichte wiederholt.

Foto: Imago/Future Image

Dilemma 1: Zu viel oder zu wenig

Etwa 1.500 Polizistinnen und Polizisten sind in Köln im Einsatz. 300 von ihnen laufen das Umfeld des Doms in Dreierteams ab, in ihren gelben Leuchtwesten mit den Reflektorstreifen glimmen sie wie mannsgroße Glühwürmchen. Auch Hunderte Mitarbeiter des Ordnungsamtes sind unterwegs, Einsatzkräfte der Feuerwehr, die Bundespolizei und Security-Leute der Bahn. "Nach unseren Vorstellungen wird es keinen Bereich geben, in dem Menschen hier in Köln—in der Innenstadt jedenfalls—keine Polizeibeamtinnen und -beamten sehen werden", hatte der Kölner Polizeipräsident Jürgen Mathies im Vorfeld angekündigt. Und er hat Wort gehalten.

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"Überall die Bullerei hier", grummelt ein Kölner um die zwanzig. Er schaut über den Bahnhofsvorplatz, auf dem die gelben Westen leuchten und tritt seine Zigarette aus. "Ich find's so bescheuert", sagt seine Begleiterin und zieht sich den Schal über das Kinn, "und alles nur, weil die sich letztes Jahr nicht benehmen konnten." Die Gesichtsmuskeln ihres Freundes bleiben in der Bewegung stecken. Ach stimmt, sagt der Ausdruck: letztes Jahr. Silvester. Da war ja was.

Letztes Jahr Silvester, als etwa 140 Kölner Polizistinnen und Polizisten einer zahlenmäßig weit überlegenen Männer-Meute gegenüberstanden. Letztes Jahr, als die Polizei nicht, beziehungsweise zu spät einschritt, als Frauen eingekesselt, begrapscht und beklaut wurden. Letztes Jahr, als eben diese Frauen sich von der Polizei alleine gelassen fühlten und später erzählten, sie hätten um Hilfe gefleht, doch keine bekommen, weil—so gaben die Beamtinnen und Beamten ihrerseits an—die bedrängten Frauen vor lauter bedrängenden Männern gar nicht zu sehen gewesen seien. Letztes Jahr, als Böller auf Menschen geschossen wurden. Letztes Jahr also, als Köln zum Synonym für den Staat wurde, der seine Bürger nicht schützen kann. Und für eine Presse, die zu lange Neujahrsferien macht.

Heute ist es anders. Heute sind sie alle da. ALLE.

Ein Student aus Litauen meint: "Ich wusste, dass es voll wird. Aber hier ist mehr Polizei als andere Menschen, oder?" Eine Kölnerin um die vierzig verzieht das Gesicht. "Es ist so übertrieben. Das hat was Absurdes", sagt sie und schaut zu den Nachrichtenteams, die gerade die Polizistinnen und Polizisten filmen, als seien sie Ausstellungsstücke. Aber richtig schicke Ausstellungsstücke, immerhin: in Uniform. Mit Glitzerwesten!

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Eine elegant gekleidete Passantin mit gemalten Augenbrauen und Damenhut guckt, als würde sie Werbung für Zitronen machen, und sagt: "Nein, ich gebe kein Interview." Dann überlegt sie es sich anders und pflaumt los: "Aber eins sag ich Ihnen: Das ist lächerlich, diese ganze Polizei, die vielen Leute mit den Kameras und Sie. "Was soll das denn? Das ist doch Theater, hier passiert doch nichts. Wieso gehen Sie nicht nach Hause und lassen die Leute in Ruhe."

Ist die Presse nicht da, wird gemeckert: Wo wart ihr? Was soll das? Ist die Presse dann da, wird auch gemeckert. Ja, was denn nun? Wann wird öffentliches Interesse zu viel?

Als ein 55-Kilo-Mann auf dem Vorplatz eine Mini-Bodenfontäne anzündet, ist er sofort von Polizisten umringt. Und als eine angetrunkene Frau ihr Handy nicht finden kann und loskeift, ist ebenfalls sofort ein Polizist zur Stelle—und wenige Sekunden später sind es drei. "Wann haben Sie das Handy zuletzt gesehen?" Dieses Jahr wird niemand alleine gelassen! Die Frau erzählt. Weil ihr aber nicht gefällt, dass die Polizisten sie auffordern, sich zu beruhigen, geht sie weiter—und sucht sich drei andere. Stehen ja genug herum, nicht wahr?

Foto: Imago/Future Image

Dilemma 2: Kontrolle oder Freiheit

Bahnhofsvorplatz und Domplatte sind dieses Jahr eine Sicherheitszone. Es gibt Schleusen mit Einlasskontrollen, Straßensperren aus Gruppenfahrzeugen, Betonsperren und Wasserwerfern, und ein hochauflösendes Kamerasystem, das den gesamten Bahnhofsvorplatz überwacht und die Bilder live an die Polizeidienststelle sendet. Zum Reinzoomen und Ausdrucken.

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"Einmal aufmachen, bitte", heißt es bei den Taschenkontrollen. Nicht einmal Knallerbsen und Wunderkerzen sind erlaubt. Auf der Domplatte strömen dann sphärische Klänge aus den Boxentürmen, dazu gibt es eine Lichtinstallation des Berliner Künstlers Philipp Geist: Kölnerinnen und Kölner haben Neujahrswünsche und Liebesbekundungen an ihre Stadt eingeschickt, in jeweils einem Wort. "Überflieger" findet man unter den hunderten von Begriffen im Wortteppich, der auf dem Boden und den umliegenden Häusern flackert, "Sorge", "Freiheit", "Zukunft", "Versagen"—und "Trotzdem".

Foto: Imago/Ralph Peters

"Ach guck mal, is das schön", sagt die Frau zu ihrer erwachsenen Tochter. Sie schauen nach unten, wie fast alle Menschen auf der Domplatte. Die Menschen sind so gebannt von der Lichtinstallation, dass das meistgesagte Wort hier "Entschuldigung" ist, weil kaum jemand schaut, wohin er geht.

Zwei Kölner Studentinnen schauen sich stolz um. "Wir sind hier und wir zeigen: Wir stehen zusammen", sagt die eine und die andere fügt hinzu:"Vor allem die Frauen."

"Uncool", findet das alles hingegen eine Frau, die mit ihrem Fahrrad unterwegs ist und wegen all der Zäune und Einlasskontrollen einen Umweg nehmen muss. "Was soll das denn?", schimpft sie, "Ist doch Quatsch. Ich will doch nur nach Hause!"

Ein Mann mit Walross-Schnurrbart steht am oberen Absatz der Domtreppe und sieht auf den Bahnhofsvorplatz und die Absperrungen. Nach kurzem Nachdenken meint er: "Es schränkt schon ein. Aber im Vergleich zum letzten Jahr ist es mir so lieber."

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Dilemma 3: Mitgefühl oder Furcht

Im Laufe der Nacht werden Mitglieder einer rechten Bewegung abgeführt. Aktivisten einer linken Organisation werden gebeten, ihr Anti-Abschiebungs-Transparent zusammenzurollen. Bevor sie das tun, kommen Passanten, die ihnen danken — und andere, die sie beschimpfen: "Ihr habt sie ja nicht mehr alle!"

Vor dem Hauptbahnhof macht die Polizei mehr und mehr Passkontrollen. Offenbar werden nur Männer kontrolliert. Dunkelhäutige Männer.

"Am Hauptbahnhof haben wir mehrere Hundert Personen, die augenscheinlich aus Afrika stammen, festgestellt", schreibt die Kölner Polizei in der Nacht auf Twitter und Facebook. "Diese werden nun auf dem Breslauer Platz kontrolliert. Ihre Identität wird festgestellt und dabei auch der ausländerrechtliche Status überprüft."

Ist es falsch, die Männer, die den Täterprofilen des letzten Jahres entsprechen, gezielt herauszuziehen? Wo endet die Rationalität? Wo beginnt Racial Profiling?

"Die Klientel, die so aussieht wie das, was letztes Jahr Probleme gemacht hat, wird gezielt herausgezogen", sagt ein Polizist. Ein junger Mann mit karamellfarbener Haut wird aufgefordert, den Platz zu verlassen. Die Schaulustigen werden nicht aufgefordert, den Platz zu verlassen. Sie stehen da und schauen zu. Um den Ring aus Polizei kreist ein Ring aus Presse.

Als es auf Mitternacht zugeht, sorgen die Sperren am Ein- und Ausgang des Hauptbahnhofs für Dauerstau. "Scheiß Marokkaner", flucht einer in der Schlange. "Die ham uns Köln kaputt gemacht." Daneben grölt ein Betrunkener in Anzug und Fliege: "Eine Armlänge Abstand! Einäää Armlängääää!"

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Doch noch vor zwölf ist der Stau aufgelöst. Die Menge strömt auf den Bahnhofsvorplatz wie Zucker aus einer gerissenen Packung und zieht Richtung Domplatte. Die Leute schunkeln, kuscheln und singen mit dem Chor: "Yes Lord, Yes Lord, Yes, Yes Lord!" Der Countdown läuft. Dann zündet Feuerwerk rund um den Platz, wie ein explodierender Regenbogen. Ein paar Leute haben Wunderkerzen in die Sicherheitszone geschmuggelt und zünden sie an. Menschen fallen sich in die Arme und einer ruft: "Ein Fest! Ein Festival für alle!" Das Jahr 2016 ist zu Ende. Köln ist sicher gerutscht.

Dilemma 4: Bemühen oder Aufgeben

Dieses Jahr hatten sich alle vorbereitet, sie wollten es besser als im Vorjahr machen. Besser als im Jahr der Hilflosigkeit.

Und dann? Ist gar nichts passiert. Es kam nicht zu einem Mob. Und eine Massenpanik gab es auch nicht.

Vielleicht hatte die Dame mit Hut und Buntstiftaugenbrauen also recht. Vielleicht haben die Polizistinnen, Polizisten und all die anderen hier wirklich völlig sinnlos gefroren, bis in die Morgenstunden des neuen Jahres. Vielleicht hätten sie genauso gut mit Freunden und Familie feiern können, im Warmen. Und ja, vielleicht haben auch die Journalistinnen und Journalisten hier die Nacht vergeudet. Vielleicht. Denn es ist ja nichts passiert. Nichts Schlimmes jedenfalls. Also gibt es auch "nix zu berichten". Oder?

Doch, eine Sache wäre da noch: Einige Abreisende sagen "Vielen lieben Dank" und "Frohes Neues" zu den Beamtinnen und Beamten. Die nicken und sagen: "Gern geschehen." Und da stellt sich doch die Frage: Ist der Verlauf dieser Silvesternacht nun erleichternd? Oder ist es ein Armutszeugnis, dass sich eine offene Gesellschaft an Silvester mit Straßensperren, Ausweiskontrollen und Platzverweisen gegen vermeintlich kriminelle Migranten versucht zu schützen und der Verdacht jeden treffen kann, der nicht ganz weiße Haut hat? Oder ist es beides? Es ist ein Dilemma.

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